Die Klempner von Europa
von Anne-Cécile Robert
Jan Andersson, der Vorsitzende des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten im Europäischen Parlament, kann es immer noch nicht fassen. Zwischen November 2007 und Juni 2008 fällte der Europäische Gerichtshof (EuGH) vier Urteile, die den Unternehmerrechten Vorrang vor den Rechten der Arbeitnehmer einräumt.
Im Fall Viking wollte eine finnische Reederei ein Schiff unter estnischer Flagge betreiben, um den Anspruch der Beschäftigten auf den ortsüblichen Tariflohn zu unterlaufen. Im Fall Laval hatte eine schwedische Gewerkschaft versucht, mit Arbeitskampfaktionen gegen ein lettisches Bauunternehmen zu erzwingen, dass eines seiner Subunternehmen eine Tarifvereinbarung unterschreibt. Im Rüffert-Urteil ging es um ein in Niedersachsen ansässiges polnisches Unternehmen, das keine ortsüblichen Tariflöhne zahlte. Am 18. Juni 2008 schließlich rief die EU-Kommission den EuGH an, weil sie die arbeitsrechtlichen Auflagen, die Luxemburg einem ausländischen Dienstleister machte, für übermäßig streng hielt (siehe S. 11).
In allen vier Fällen bezeichnete der EuGH das Verhalten der Gewerkschaften als unzulässig und verlangte von den staatlichen Behörden, die sozialen Standards für die ausländischen Unternehmen abzusenken. Nach Ansicht des Gerichts dürfen Arbeitsrecht und Arbeitskampfmaßnahmen die Niederlassungsfreiheit der Unternehmen (Art. 43 EU-Vertrag) und die Dienstleistungsfreiheit (Art. 49) nicht „unverhältnismäßig“ beeinträchtigen.
Eine solche Auslegung des EU-Recht hatte Jan Andersson nicht erwartet. Der schwedische Sozialist befürchtet, dass weitere Urteile folgen werden, die das Sozialdumping legitimieren. Deshalb verabschiedete das Europäische Parlament am 22. Oktober 2008 auf der Grundlage eines Initiativberichts von Andersson eine Resolution, die der Rechtsprechung des EuGH offen entgegentritt. Das ist in der Wattewelt der Europaparlaments, die allenfalls von Touristengruppen oder Schulklassen aufgestört wird, ein extrem seltenes Ereignis.
Ein klares Bekenntnis zur sozialen Dimension Europas
Nach dem Text der Resolution sollten die „wirtschaftlichen Freiheiten, wie sie in den Verträgen verankert sind, so ausgelegt werden, dass sie nicht die Wahrnehmung grundlegender Sozialrechte beeinträchtigen, wie sie in den Mitgliedstaaten und vom Gemeinschaftsrecht anerkannt werden“.1 Auch die Entsenderichtlinie vom 16. Dezember 1996, die die Rechte der Beschäftigten von Unternehmen innerhalb des Gemeinsamen Marktes regelt,2 habe im Gegensatz zur restriktiven Auslegung der Luxemburger Richter einen anderen Tenor: Sie lege Mindestnormen fest, die Regierungen und Sozialpartner durch „günstigere“ Regelungen für die Beschäftigten ergänzen könnten.
Diese Resolution, die als solche keinen verbindlichen Charakter hat, übt dennoch auf die Mitgliedstaaten und die Kommission einen gewissen politischen Druck aus. Denn sie fordert die Kommission auf, die notwendigen legislativen Vorschläge zu erarbeiten, die dazu beitragen würden, widersprüchliche Interpretationen in Zukunft zu verhindern“. Und sie hält die Position der Abgeordneten zu einer Grundsatzfrage fest: dass die Rechte der Unternehmen keinen Vorrang gegenüber den Rechten der Sozialpartner haben. Damit wird zugleich die Position des Parlaments zu weiteren künftigen Richtlinien angedeutet.
Die Resolution wurde mit großer Mehrheit angenommen (474 Ja-Stimmen, 106 Ablehnungen, 93 Enthaltungen), womit sich das Parlament als Verteidiger eines sozialen Europas profilierte.3 Von Gewerkschaften und Berufsverbänden wurde die „sehr klare Botschaft“4 der Abgeordneten an die Kommission begrüßt.
Die Beschlüsse des Parlaments sind ein klares Bekenntnis zur sozialen Dimension Europas. Doch die Debatten und Reaktionen auf die Urteile des Europäischen Gerichtshofs lassen eine andere Realität erkennen. Der EuGH bezog sich in seinen Urteilen unmittelbar auf die „historischen“ Artikel 43 und 49 des Vertrags von Rom. Diese begründen den freien Wettbewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes; die wesentlich unbestimmteren sozialen Regelungen, die die Wettbewerbsfreiheit dann äußerst maßvoll einschränkten, kamen erst später hinzu.
Mit der Bezugnahme auf die Gründungsartikel hat der EuGH ungewollt die zentrale Frage aufgeworfen, welcher Logik das Zusammenwachsen Europas folgt. Und damit womöglich die Frage, was dieses Konstrukt Europa im Kern ausmacht. Zugleich hat das Gericht die schwache Position des Parlaments innerhalb des europäischen Institutionengefüges, aber auch die politische Unreife der EU-Legislative aufgezeigt.
Im Grunde hat der EuGH die Lücken im Gemeinschaftsrecht zu einer Auslegung genutzt, die den ursprünglichen Absichten der Abgeordneten zuwiderläuft. Das beste Beispiel ist die berühmte Entsenderichtlinie, die bei ihrer Verabschiedung 1996 als Errungenschaft für die Beschäftigten präsentiert wurde. Erst die Richter haben sie zu einem Instrument im Dienst der Niederlassungsfreiheit der Unternehmen umgeschmiedet.
Für Jan Andersson steht fest, dass der EuGH die parlamentarischen Beratungen offensichtlich nicht mitverfolgt: „Eigentlich hätte er sich mit den politischen Debatten im Parlament beschäftigen müssen, um den Willen des Gesetzgebers zu ergründen.“ Die sozialistische Europaabgeordnete Françoise Castex ist da realistischer. Für sie betreibt das Parlament eine „Politik der juristischen Unbestimmtheit“, so dass den Richtern innerhalb des grundsätzlich liberal geprägten europäischen Vertragswerks zusätzlich noch ein weiter Interpretationsspielraum bleibt. Sie verweist darauf, dass die Abgeordneten nach der Kontroverse über die „Bolkestein-Richtlinie“6 zwar das Ursprungslandprinzip aus dem Text gestrichen, dann aber nicht präzisiert haben, welches Recht denn nun anzuwenden sei.
Bis jetzt scheinen sich die Abgeordneten nicht allzu sehr an der Macht des Gerichtshofs zu stören. „Immer wenn die Gesetzeslage unklar war, wandten sich insbesondere die deutschen und britischen Parlamentarier vertrauensvoll an den EuGH mit der Bitte um Auslegung“, berichtet Castex. Die Skandinavier und Deutschen sind jetzt, da sie durch zwei Urteile unmittelbar betroffen sind, umso mehr „erschüttert“, als sie feststellen mussten, wie fragil ihre tarifrechtlichen Systeme im Rahmen des Gemeinsamen Marktes in Wirklichkeit sind (siehe Spalte rechts). Noch dazu kommt diese Rechtsprechung ausgerechnet zu einer Zeit, da täglich von neuen Sozialplänen in der EU berichtet wird und sich durch die Wirtschaftskrise neue Konflikte zwischen Gewerkschaften und Unternehmen abzeichnen.
Die Zurückhaltung der Abgeordneten erstaunt umso mehr, als die Europäischen Richter eine Aufgabe an sich gezogen haben – nämlich Recht zu schaffen –, die normalerweise den gewählten oder demokratisch kontrollierten Versammlungen obliegt. Europa wird von der Judikative regiert, nicht vom Recht der Römischen Verträge.
Das Parlament ist die schwächste Institution im EU-Gemeinschaftssystem. Es kann selbst keine Richtlinien oder Verordnungen vorschlagen, sondern lediglich die Kommission auffordern, tätig zu werden. Und die kann auf die Anfrage des Parlaments reagieren oder auch nicht. So hat sie am 21. Januar 2009 die Aufforderung des Parlaments, angesichts der EuGH-Urteile gesetzliche Maßnahmen zu ergreifen, mit dem Argument zurückgewiesen, dass sie dafür „in diesem Stadium keine Notwendigkeit“ sehe.
Andererseits muss das Parlament im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens über Gesetzesvorschläge eine Einigung mit dem Ministerrat erzielen. Kommt die nicht zustande, können die Abgeordneten den Entwurf zwar ablehnen, aber selbst keinen Vorschlag einbringen. Dann kann passieren, was Françoise Castex so beschreibt: „Wenn sich das Parlament querstellt oder zu weitgehende Änderungen fordert, präsentiert die Kommission ein paar Monate danach einen neuen Entwurf, der in genau dieselbe Richtung geht.“
Jan Andersson ist dennoch der Ansicht, dass die Verhandlungsmacht des Parlaments inzwischen nicht mehr unterschätzt werden dürfe. „Es kommt eben auf die politische Konstellation an“, meint er und erinnert daran, dass das Parlament die Zusammensetzung der Kommission nach der Europawahl im Juni bestätigen muss. Die Kommissionsmitglieder werden von den Mitgliedstaaten vorgeschlagen. Das sei ein echtes Druckmittel, das durch entschiedenes Auftreten der Parlamentarier gegenüber ihren jeweiligen Regierungen noch verstärkt werden könne. Er hofft jedenfalls langfristig auf eine Erweiterung der Kompetenzen des Parlaments.
Die ist allerdings nur zu rechtfertigen, wenn die Parlamentarier tatsächlich den Willen zeigen, Grundsatzfragen im Plenum kontrovers zu diskutieren. Bisher werden die Gegensätze zwischen rechts und links jedoch kaum sichtbar. Auch bei der Debatte um die EuGH-Urteile zeigte sich das Parlament eher harmoniesüchtig. Die meisten Parteien, auch die Europäische Volkspartei (EVP, Christdemokraten), stimmten dem gegen die EuGH-Urteile gerichteten Entschließungsantrag vom 22. Ok-tober 2008 zu. Der Vorsitzende der EVP-Fraktion, Joseph Daul, sprach sich „für einen freien Dienstleistungsverkehr ohne Sozialdumping“ aus. Dasselbe gilt für die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (Alde).
Variable Koalitionen jenseits des Rechts-links-Schemas
Die EVP mit ihren 286 Abgeordneten und die Sozialdemokratische Fraktion im Europaparlament (SPE) mit ihren 217 Abgeordneten stellen zusammen die Mehrheit der 785 Mandate. Sie suchen bei Abstimmungen häufig den Konsens. Das bringt ihnen immer wieder den Vorwurf ein, die Macht im Parlament unter sich aufzuteilen (einschließlich der Posten des Präsidenten und der Präsidiumsmitglieder), während die anderen Fraktionen leer ausgehen. Hélène Flautre, Abgeordnete der Fraktion der Grünen / Freie Europäische Allianz (Grüne / FEA), spricht von der „zunehmenden Tendenz des Europaparlaments, sich von den zwei großen Fraktionen schlucken zu lassen“.7
Nach Aussage von Pervenche Béres, die für die französischen Sozialisten im Europaparlament sitzt, variieren die Bündnisse der SPE je nach Thema: „Bei gesellschaftlichen Fragen gibt es häufig Abstimmungskoalitionen mit der Vereinten Europäischen Linken / Nordische Grüne (GUE/NGL), zu der die überwiegend kommunistischen oder exkommunistischen Linksparteien gehören, der Europagruppe Die Grünen/ALE sowie der Alde. Im Verbund mit diesen Fraktionen kann die SPE ihre Oppositionsrolle gegenüber der rechten Mehrheit voll ausspielen. Allerdings erlauben diese Bündnisse eben nicht immer die Bildung einer Abstimmungsmehrheit. Wenn es also um harte Vorlagen geht, versucht sich die SPE dann doch mit der EVP zu verständigen.“8
Das herkömmliche Rechts-links-Schema spielt bei Entscheidungen des Europaparlaments also kaum eine Rolle. Ein weiteres Indiz dafür, dass die ideologischen Zuordnungen keineswegs eindeutig festgelegt sind, ist die Tatsache, dass die Fraktionen nach neuen Wahlen ganz anders zusammengesetzt sein können.“
Der Entschließungsantrag gegen das Sozialdumping vom 22. Oktober ist ein Paradebeispiel für diesen „Kompromissgeist“ des Parlaments. Der lobt unter Ziffer 4 explizit den Vertrag von Lissabon, der wörtlich ausgerechnet die Artikel 43 und 49 des Vertrags von Rom übernommen hat, auf die der EuGH seine Begründung für den Vorrang der Rechte von Unternehmen gegenüber denen der Arbeitnehmer stützt. Außerdem befürwortet er unter Ziffer 15 „einen Wettbewerb auf der Grundlage von Wissen und Innovation, wie ihn die Lissabon-Strategie vom März 2000 vorsieht“.
Die Lissabon-Strategie aber gilt den Verfechtern des Neoliberalismus als idealer Baukasten, aus dem sich die Mitgliedstaaten nach Belieben bedienen können.9 Ob das Parlament mit seiner Reaktion auf die EuGH-Urteile seine Aufgabe als sozialpolitischer „Schutzwall“ erfüllt hat, kann daher füglich bezweifelt werden.
Die Begeisterung der Abgeordneten für den Lissabon-Vertrag ist offenbar so groß, dass sie ihn zur Grundlage ihres Entschließungsantrags gemacht haben, bevor er überhaupt in Kraft ist. Das ist ein Verstoß gegen Recht und Demokratie, wie er auch der Kommission und dem EuGH des Öfteren unterläuft.
Polnische Handwerker und polnische Richter
Die europäische Sozialdemokratie bleibt alles in allem dem Wirtschaftsliberalismus verpflichtet. In seinem Büro in Brüssel erklärt Jan Andersson, er sei Anhänger einer Marktwirtschaft, „die Arbeitsplätze schafft“. Im Lauf des Gesprächs äußert er sich auch zur französischen Debatte über die „polnischen Klempner“, die er als „fremdenfeindlich“ qualifiziert.
Gleich darauf erklärt er allerdings die kritisierten Entscheidungen des EuGH damit, dass seit 2004 auch die osteuropäischen Länder Richter in den Gerichtshof entsenden. Und in diesen Ländern würden bekanntlich die Eliten die sozialen Rechte häufig als ein Mittel sehen, mit dem die alten Mitgliedstaaten angeblich ihre Märkte schützen wollen (vgl. Dossier ab Seite 6). Irgendwie ist auf einmal der polnische Richter schuld!
Wie die Politikwissenschaftlerin Gersende Mayo schreibt, verlaufen die Abstimmungen entlang von Grenzen, die „mitunter kaum erkennbar“ seien. Das könne die Grenze zwischen Europabefürwortern und Europaskeptikern sein, aber auch die Abgrenzung nach Nationen; oder es stehen die kleinen Fraktionen gegen die Übermacht von EVP und SPE, und manchmal spiele auch die alte „Rechts-links-Kluft“ eine Rolle.10
Im Hinblick auf die im Europäischen Parlament geführten Debatten äußert sich der Politologe Gaël Brustier skeptisch: „Es kommt mir vor wie ein Ritual, ein ‚als ob‘: als ob Europa politisch wäre, als ob es sozial wäre.“
Ähnlich wie für Joseph Daul ist für Françoise Castex das Parlament vor allem „eine Institution, der es an Reife fehlt“. Die jüngsten Ereignisse – die EuGH-Urteile, die soziale und wirtschaftliche Krise – könnten allerdings dazu führen, dass es als repräsentative Instanz an Bedeutung gewinnt. Das sei umso notwendiger, als die Wahlbeteiligung bei den alle fünf Jahre stattfindenden Europawahlen immer weiter sinkt.11
Bei der Abstimmung vom 22. Oktober über den Entschließungsantrag zu den EuGH-Entscheidungen zog eine Demonstration von europäischen Gewerkschaftern durch die Straßen von Brüssel, und zeigte damit, dass das Parlament „von außen“ beeinflusst werden kann. Es fragt sich allerdings, bis zu welchem Punkt. Wenn die Parlamentarier „fortschrittliche“ Positionen beziehen, so nur in Angelegenheiten, die allzu offen „sozialfeindlich“ sind. Da streitet man etwa über die 70-Stunden-Woche, damit am Ende die 48-Stunden-Woche zur Norm wird. Kein Wunder, dass ein Gewerkschafter lästert: „Man freut sich über einen gewonnenen Meter, während man gleichzeitig hundert Meter eingebüßt hat.“
Es ist symptomatisch, dass sich das Parlament während der Debatte über die EuGH-Urteile geweigert hat, offen eine Präzisierung der Verträge einzufordern. Hier hätte die Chance bestanden, die Gleichberechtigung von wirtschaftlichen und sozialen Rechten verbindlich zu verankern. Die Europäische Linke (GUE/NGL) forderte bei diesem Anlass, den Vertrag von Lissabon durch eine soziale Fortschrittsklausel zu ergänzen.
Dieser Antrag wurde abgeschmettert, was eine zornige Reaktion der irischen GUE-Abgeordnete Mary-Lou MacDonald provozierte. Sie erklärte sich „maßlos enttäuscht“ über den Bericht des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Fragen, der als Grundlage für den Entschließungsantrag diente. MacDonald bemängelte, dass in dieser Vorlage keine Verbesserung des Arbeitnehmerschutzes gefordert wurde: „Die ursprüngliche Fassung des Textes sprach noch davon, dass eine Änderung des Vertrags von Lissabon eine echte Option sei. Aber diese Einschätzung wurde bewusst und zynischerweise herausgestrichen.“ Die Entschließung, die dann vom Parlament angenommen wurde, forderte dann auch nur eine Klarstellung innerhalb des „Primärrechts“ der EU, ohne diese präziser zu benennen.
Die Entschließung äußert sich zwar zu grundlegenden Fragen, konzentriert sich dann jedoch auf die Richtlinien und ihre Auslegung, insbesondere die Entsenderichtlinie von 1996. Sie fordert die Kommission auf, Änderungsvorschläge zu dieser Richtlinie vorzulegen, und verlangt von den Mitgliedstaaten eine Klarstellung ihrer Position. Die Antwort der Kommission ist bekannt,
Eine klare Auskunft gab die Abgeordnete Mariana Arkin von der liberalen Fraktion (Alde): In Reaktion auf die EuGH-Urteile das EU-Primärrecht zu ändern, würde bedeuten, „mit einem Hammer eine Fliege zu erschlagen“. Der Vertrag von Lissabon werde die Dinge schon ins Lot bringen.
Séverine Picard, Leiterin der Rechtsabteilung beim Europäischen Gewerkschaftsbund (Etuc), der die Ratifizierung des Lissabon-Vertrags unterstützt, räumt freilich ein, dass „es fraglich ist, ob dieser Vertrag allein ausreichen wird, um eine Kehrtwende in der Rechtsprechung zu erreichen“. Und dies, obwohl die dann verbindliche Grundrechtecharta das Recht auf Kollektivverhandlungen festschreibt. Ihrer Meinung nach hat der EuGH, geschützt durch die europäischen Grundlagenverträge, den vollen Umfang seines Interpretationsspielraums demonstriert, was die Klärung von Konflikten zwischen dem Recht der Beschäftigten auf Kollektivmaßnahmen und der Handlungsfreiheit der Unternehmen betrifft.
Bei diesem Konflikt verschiebt der EuGH die Balance eindeutig zugunsten der Unternehmen, die er getreu seiner Logik als „Säule“ des Gemeinsamen Marktes bezeichnet. Wenn das Parlament die Gesetze angreift, ohne die EU-Verträge infrage zu stellen, ist das so, als wolle es die Küche des europäischen Hauses beziehen, ohne das Geschirr der liberalen Gründerväter wegzuräumen.
Dass das Parlament sich jüngst so häufig zu sozialen Themen geäußert hat, ist auch dem Nein der Niederländer und Franzosen zur EU-Verfassung 2005 und der Iren 2008 geschuldet. Die EU befindet sich in einer „Legitimitätskrise“. Sie muss ihr Image aufpolieren, ohne das in den letzten 50 Jahren erzielte politische Gleichgewicht ins Wanken zu bringen. Mit ihrem Entschließungsantrag in Sachen Sozialdumping wollten die Abgeordneten verhindern, dass die EuGH-Urteile zu Argumenten gegen den Vertrag von Lissabon werden.
Der Politologe Gaël Brustier konstatiert „ein gemeinsames Interesse von Regierungen, Parlament und Kommission, Projekte zu entwerfen, die die Chancen eines europäischen Handelns angesichts der Krise und der sozialen Problemlagen herausstreichen“. Für ihn ist Europa untrennbar mit dem Liberalismus verbunden. Europa sei zwar aus einer Verselbstständigung der Eliten erwachsen. Aber da nun einmal das allgemeine Wahlrecht gelte, „müssen die politischen Führer Europas um ihrer Glaubwürdigkeit willen so tun, als gäbe es ein ‚soziales Europa‘. In diesem ständigen Spannungsverhältnis stehen der Mythos Europa und seine Wirklichkeit.“
Die Regierungen haben die schrittweise Stärkung der Kompetenzen des Parlaments unterstützt.12 Während der Verhandlungen über den Verfassungsvertrag durch den Verfassungskonvent unter Vorsitz des früheren französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing arbeiteten die Abgeordneten Hand in Hand mit den Mitgliedstaaten. Dabei unterstützten sie den Verfassungsentwurf auch dann noch, als er von den Franzosen und Niederländern abgelehnt wurde.
Die europäischen Abgeordneten arbeiten zwar in den Fraktionen zusammen, aber sie beraten sich auch in nationalen Gruppen. Häufig präsentieren dabei die Regierungen ihre politischen Pläne vor einer Plenarsitzung vor „ihren“ jeweiligen Abgeordneten.13 Das mag in Anbetracht der Bedeutung, die der nationale Rahmen innerhalb Europas nach wie vor hat, durchaus legitim sein, wie die Finanzkrise gerade deutlich gezeigt hat. Doch durch dieses Vorgehen wird die Idee relativiert, dass das Parlament ein „europäisches Volk“ verkörpert, in dessen Namen es künftig einmal zur Legislative eines Bundesstaats namens Europäische Union werden könnte.