10.09.2004

Die spinnen, die Schweden

zurück

Die spinnen, die Schweden

KINDER sollten sowieso weniger fernsehen, und wenn doch, dann bitte keine Werbung. Schwedens europaweiter Vorstoß in Richtung Werbeverbot für Kindersendungen im Fernsehen hat jedoch nur beschränkt Aussicht auf Erfolg. Zwar gibt es auch in den EU-Ländern Dänemark, Griechenland und Belgien bedingt werbefreie Zonen für Kinder – aber die lieben Kleinen sind nun einmal wichtige Kunden, und die Werbeindustrie will auf ihre minderjährigen Zielpersonen nicht verzichten. So verbreiten eben Satellitensender aus den Nachbarländern die Botschaft vom Konsum. Der Kampf ums Taschengeld und den nicht unwesentlichen Anteil am Familienbudget geht also weiter.

Von FRANÇOIS BRUNE *

Um die Jahrtausendwende geriet die französische Werbebranche in hellen Aufruhr:

Ein neuer Stalinismus, der aus der Kälte komme, bedrohe die Interessen der Werbetreibenden, die Kreativität der Branche und, so ließ man verlautbaren, die Freiheit der Kinder. Schweden hatte im Vorfeld seiner Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft (im ersten Halbjahr 2001) angekündigt, die eigene Gesetzgebung in Sachen Kind und Fernsehwerbung ins geltende Gemeinschaftsrecht überführen zu wollen.

Die Mobilmachung der Konsumschützer ließ nicht lange auf sich warten: „Die Werbevernichter“, titelte die Zeitschrift Stratégies1 . Darf man überhaupt Kindern Werbung für Produkte vorenthalten, die für sie bestimmt sind?, fragt voll Empörung ein Werbefachmann in der Libération, als werde hier ein Recht auf Information beschnitten.2 Le Figaro schlug im Wirtschaftsteil Alarm mit der unfreiwillig zweideutigen Schlagzeile „Werbung für Kinder in Gefahr“ und wetterte gegen den „schwedischen Fundamentalismus“3 . Die Fernsehillustrierte Télérama schließlich fügt erklärend hinzu, dass Schweden eben schon immer ein Land mit „einem traditionell starken Jugendschutz“ gewesen sei, und vergisst nicht, auch einen Experten aus der Branche zu Wort kommen zu lassen: „Die Werbung für und mit Kindern zu beschränken oder zu verbieten wäre nutzlos, wirtschaftsfeindlich und liefe dem französischen Denken zuwider.“4

Der Fall Schweden ist tatsächlich bestürzend. Diese Leute glauben tatsächlich – welch merkwürdiger Gedanke –, dass unsere Jüngsten geschützt werden müssen und dass dies ihrer freien Entfaltung diene: „Kinder sollten Werbung erst in einem Alter ausgesetzt werden, in dem sie deren versteckte Ziele verstehen können“, erklärte die schwedische Kulturministerin Marita Ulvskog5 . Der Industrie freie Hand zu lassen steht nach Ansicht des Schwedischen Verbraucherrats „im Widerspruch zu demokratischen Werten“.

„Kinder haben ein Recht auf geschützte Räume“, behauptet die schwedische Regierung, als wäre nicht bekannt, dass Kinder mit fertigen Antikörpern gegen den Druck der Werbung zur Welt kommen. Staatliche Stellen behaupten sogar, die lieben Kleinen könnten Werbespots von anderen Sendungen nicht richtig unterscheiden und wollten sofort haben, was sie in der Werbung gesehen haben; das aber führe in den Familien zu Konflikten. Sogar der Schwedische Verband der Werbeindustrie räumt ein, man dürfe bei Kindern, die noch nicht wissen, was man vernünftigerweise wünschen kann, nicht Wünsche wecken, die sie nur befriedigen können, indem sie ihre Eltern nerven. Aus der Sicht der Werbeleute ist eins jedenfalls klar: Die spinnen, die Schweden!

Um dem familiären Kleinkrieg, der den Werbeattacken folgt, möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, entschied sich der schwedische Gesetzgeber nach mehrjährigen Diskussionen für eine Ergänzung des Hörfunk- und Fernsehgesetzes von 1991, das bereits Fernsehwerbung verboten hatte, die sich explizit an Kinder unter 12 Jahren wandte. – Unmittelbar vor und nach Kindersendungen darf keine Werbung für Erwachsene ausgestrahlt werden. – In Werbespots dürfen keine Personen oder Figuren auftreten, die in Kindersendungen eine wichtige Rolle spielen (Moderatoren, Serienhelden, Handpuppen oder andere Figuren). Kinder dürfen in Werbespots überhaupt nicht auftreten. Ebenfalls untersagt ist die Verwendung von Motiven aus der kindlichen Lebenswelt (Stimmen, Lachen usw.), denn der Gesetzgeber weiß, wie stark das Identifikationsbedürfnis in diesem Alter ist. Eine klare und präzise Gesetzeslage also, die orthodoxen Liberalen umso mehr ein Dorn im Auge ist, weil sie die Zustimmung des souveränen Volkes genießt.6

Nach einer Meinungsumfrage des Schwedischen Rats für Verbraucherschutz aus dem Jahr 2001 befürworteten 88 Prozent der Schweden die geltenden Bestimmungen; nach Ansicht von 82 Prozent der Befragten sollten diese Bestimmungen auch auf andere Medien ausgeweitet werden. Sendungen zur Verbrauchererziehung fanden großen Zuspruch, und nichts wies darauf hin, dass Schweden dem Druck der unermüdlichen Werbelobby7 nachgeben wird.

Nicht zuletzt um diesem Druck entgegenzuwirken, wollte Schweden die eigene Gesetzgebung europaweit einführen – als Selbstschutz gewissermaßen. Denn zum einen nimmt der kommerzielle Druck auf die Kinder immer mehr zu. Zum anderen aber und vor allem strahlt seit über zwanzig Jahren der in Großbritannien ansässige Privatsender TV 3 Kindersendungen mit Werbeunterbrechungen in schwedischer Sprache aus und unterläuft damit die schwedischen Bemühungen.

Die Schweden können zwar per Gesetz kommerzielle und öffentliche Sender gleichermaßen reglementieren, doch nur in ihrem eigenen Land. Wenn die Kanäle ihren Sitz in anderen Ländern haben, gelten jedoch die Gesetze des Senderlandes.

Gemäß der EU-Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“, die der freien Konkurrenz huldigt, fielen alsbald weitere Fernsehsender vom Satellitenhimmel, die dem Beispiel von TV 3 folgten. Dagegen gibt es nur ein Mittel: Um die Freiheit der Erziehung zu gewährleisten, die auszuüben das unverbrüchliche Recht einer jeden Nation ist, sollte die EU-Richtlinie überarbeitet werden.

Wie man sich denken kann, war der schwedische Reformversuch nicht von Erfolg gekrönt. Zwar stieß er zwischen 2001 und 2004 nützliche Diskussionen an, doch die EU-Kommission überarbeitete die Fernsehdirektive nur, um nichts daran zu ändern. Sie erinnerte an die Notwendigkeit, die Fernsehzuschauer vor „exzessiver Werbung“ zu schützen, ließ aber keinen Zweifel daran, dass man der Werbebranche ihre Rechte garantieren und die „kulturelle Vielfalt und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Rundfunk- und Fernsehbranche“8 fördern müsse. Demnach stehe es jedem Land zwar frei, den eigenen Sendeanstalten strengere Auflagen zu machen, eine Reglementierung von Sendungen und Werbung aus dem Ausland sei jedoch strikt untersagt. Im Bereich Medien und Werbung ist also kein Staat mehr Herr des eigenen Gemeinwesens.

Wie das schwedische Beispiel in prononciertem Gegensatz zu Frankreich zeigt, kann eine Nation, so sie den politischen Willen aufbringt, die Werbebranche nach wie vor in ihre Schranken weisen. Deutlich wird daran freilich auch, dass die Europäische Union unter Berufung auf den „freien Waren- und Dienstleistungsverkehr“ jede nationale Gesetzgebung aushebeln kann. Ein Verbot der Werbung, meinen unsere Liberalen, bedeute eine Behinderung „der freien Zirkulation der Produkte, für die diese Werbung gemacht ist“. Mit anderen Worten: Der Schutz der Kinder vor den Aggressionen der Werbung muss sich der Freiheit der Aggressoren beugen, die ihre Opfer so vielsagend als „Zielpersonen“ bezeichnen.

Nun sind die Kleinsten der Kleinen nicht nur punktuelle Ziele einzelner Werbekampagnen, repräsentieren nicht nur kurzfristige „Marktanteile“, sondern figurieren in den Planungen der werbenden Industrie vor allem auch als künftige Kunden, die es um jeden Preis an sich zu binden gilt. „Ihre Marktanteile wachsen mit ihm“, posaunen die Spezialisten des „Baby Marketing“ an die Adresse der Werbetreibenden und schmücken das beigefügte Foto, auf dem ein Baby zu sehen ist, mit der Legende: „Ihr bester Verkäufer“9 . Überdies beschränkt sich die Pawlow’sche Konditionierung nicht auf Werbekampagnen für einzelne Produkte. Das eigentliche Ziel des gesamten „Systems Werbung“ besteht darin, künftigen Staatsbürgern eine Ideologie des Konsumierens nahe zu bringen, ohne die die Wahrnehmung der Welt als Ware schlechterdings nicht funktionierte.

Kinder und Jugendliche nach dem simplen Modell des nur illusorisch freien Individuums zu formen, ihr Konsumverhalten, ihren Lebensstil, ihre Denkweise zu konditionieren ist die Art von Erziehung zum Werbekunden, die im medialen Raum vorherrscht. Zum Konsumsubjekt dressiert, sollen sie glauben, der nächste Kauf werde ihnen ganz bestimmt Erlösung bringen und ein lust- und machterfülltes Leben bescheren. Als lebensnotwendig – „Schnapp sie dir alle!“ – wird der ganze Nippes angepriesen, den zum Beispiel die audiovisuelle Industrie fortlaufend produziert. Nichts sei legitimer als das hemmungslose Ausleben der eigenen Wünsche, das ständige „Lust auf …“, das schon bald zum „Recht auf …“ umgemünzt wird, mit dem die kleinen Tyrannen ihre Eltern unter Druck setzen. Die permanente Selbstdarstellung avanciert zum kategorischen Imperativ, wobei „Identität“ lediglich über äußere Zeichen hergestellt wird, durch die ein jeder sein unverwechselbares Ich von den anderen unterscheiden zu können glaubt. „Selbstwerdung“ erscheint als ständige Mutation, die in ihrer Fremdbestimmtheit nur den ebenso ständigen Wechsel der Moden und medial inszenierten Ereignisse nachvollzieht und in chronische Unterwerfung unter die gleichfalls in unaufhörlichem Wandel begriffene Peergroup einmündet.

Diese ideologische Prägung ist das genaue Gegenteil von Erziehung zum kritischen Bürger. Verständlich daher, dass das System Werbung, nachdem es die Medien erobert hat, nun die Schule als letzten Hort möglichen Widerstands ins Visier nimmt.

Und auch hier ebnete die EU-Kommission den Weg. Bereits 1998 beauftragte sie das Consultingbüro GMV Conseils mit einem Gutachten, das in seiner Schlussbemerkung die „materiellen, aber auch pädagogischen“ Vorzüge von Marketingaktivitäten an der Schule anpreist: „Schul-Marketing öffnet die Schule zum einen für die Realität von Wirtschaft und Gesellschaft und ermöglicht zum anderen, den Schülern Wissen in Verbraucherfragen im Allgemeinen und Werbetechniken im Besonderen zu vermitteln.“

Agierte die Werbung anfangs „verdeckt in den Schulen“10 , so hat sie die Tarnkappe, dem Laisser-faire der EU-Instanzen folgend, inzwischen offenkundig abgelegt. „Marktgerechtes Denken“ hält nun auch im Bildungswesen Einzug.11 Immer mehr Lehrer setzen im Unterricht „Materialsammlungen“ ein, die von Markenherstellern gesponsert werden. Lebensmittel-, Software- und Automobil-Konzerne wollen die Lehrer in staatsbürgerlicher Hingabe dazu anleiten, wie man den Kindern beibringt, besser zu essen, zu rechnen oder besser Auto zu fahren.12 Gleichzeitig sollen die zahllosen Partnerschaften zwischen Schulen und Unternehmen den Schülern das „Geschäftsleben“ nahe bringen, dem zu entrinnen sie nur als Arbeitslose das Glück haben werden.

Angesichts dieser Entwicklung veröffentlichte das französische Bildungsministerium im März 2001 einen Verhaltenskodex für Unternehmen, der den altehrwürdigen Grundsatz der „Neutralität der Schule“ innovativ zur „Neutralität des Handels“ umdeutet. So wird den Schulleitungen erlaubt, Partnerschaften mit Unternehmen einzugehen, und diesen wiederum gestattet, ihr Logo – diskret, versteht sich – auf Unterrichtsmaterialien abzubilden. Und die Gutgläubigen beriefen sich darauf, dass Werbung doch „Teil des Lebens“ sei und die Schule nicht „lebensfremd“ werden dürfe, weshalb Werbung auch in die Schule gehöre. Man lässt den Wolf in den Stall, damit die Schäfchen seine Zähne bewundern können.

Von nun an gab es kein Halten mehr. Das Bildungsministerium unter Jack Lang wandte sich zum Beispiel an einen Hersteller von Markenkleidung, der bei der Eindämmung von Gewalt an Schulen unterstützend tätig werden sollte. T-Shirts der Marke Morgan – das Stück zu 100 Franc – trugen die Aufschrift: „Le respect, ça change l’école“ (Respekt verändert die Schule).

Das Börsenspiel „Herren der Wirtschaft“, bei dem die Schüler einen fiktiven Wertpapierfonds von 40 000 Euro verwalten sollen, wurde schon vor der Veröffentlichung des besagten Verhaltenskodex im Unterricht eingesetzt. Das umstrittene Wirtschaftsspiel treibt seit drei Jahren sein Unwesen in den Klassenzimmern.13 So lässt man die pfiffigeren Schüler, die zukünftigen Manager, als „Herren“ agieren über die weniger Begabten, die künftigen Verbraucher.

Gefördert und gepriesen werden Konsumkultur und die vom Aktienmarkt verzauberte Gesellschaft. Auf subtile Weise bereitet man die Jugendlichen auf ihr sozioökonomisch „frei“ gewähltes Schicksal vor und erfand auch gleich den dazu passenden Begriff – „persönliches Projekt“. Auf gut Deutsch: Ich-AG.

deutsch von Bodo Schulze

* Autor von „Le Bonheur conforme“, Paris (Gallimard) 1985 und „De l‘idéologie aujourd’hui“, Paris (Parangon) 2004.

Fußnoten: 1 Stratégies, 8. Oktober 1999. 2 Libération, 17. Juli 2002. 3 Le Figaro, 7. September 1999. 4 Télérama, 12. April 2000. Ständig wird von „Werbung für Kinder“ gesprochen, nie jedoch von „Werbung gegen Kinder“. 5 AFP, 12. Februar 2001. 6 Die vorherigen und zum Teil auch die folgenden Angaben entstammen einem Beitrag von Ingrid Jacobsson (freie Journalistin mit Verbraucherfragen als Spezialgebiet), den das Schwedische Institut im Juni 2002 auf der Website www.sweden.se veröffentlichte. 7 Darunter der Verband der Werbetreibenden, der sich im Unterschied zum Schwedischen Verband der Werbeindustrie für eine staatliche De- und Selbstregulierung der Werbebranche ausspricht. 8 Überarbeitung der Europäischen Kommission vom 23. April 2004. 9 Stratégies, 19. Januar 2001, S. 57. Werbefachleute gehen davon aus, dass knapp die Hälfte der Familienausgaben von Kindern beeinflusst wird. 10 Libération, 22. Februar 1996. 11 Dazu die Untersuchung von Nico Hirtt, „Les Nouveaux Maîtres de l‘école. L‘enseignement européen sous la coupe des marchés“, EPO, 2003. 12 Paul Ariès, Autor von „Putain de ta marque!“, Éditions Golias, Villeurbanne 2003, gibt einen beeindrucken Überblick über solche Einflussnahmen und „Entgleisungen“. Siehe La Lettre de Casseurs de pub 17, Lyon, www.casseursdepub.org. 13 Das Wettbewerbsspiel, das bei Attac und dem Verband der Wirtschafts- und Sozialkundelehrer auf heftigen Widerspruch stieß, ist derzeit Gegenstand eines Gerichtsverfahrens, das der Philosophielehrer Gilbert Molinier angestoßen hat. Siehe dessen Website www.molinier.org.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2004, von FRANÇOIS BRUNE