10.09.2004

Feinde der Demokratie

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Feinde der Demokratie

Vier Franzosen, die in Guantánamo zwei Jahre inhaftiert waren, wurden nach ihrer Freilassung am 1. August in Frankreich verhaftet. Der Vorwurf: Bildung einer terroristischen Vereinigung. Seither ist auch in Frankreich die Debatte um die Rolle der Justiz bei der Wahrung der Menschenrechte wieder entbrannt.

Von WILLIAM BOURDON *

ALLE Guantánamo-Gefangenen beklagten sich nach ihrer Freilassung über ihre schlechte Behandlung. Das Zentrum für Verfassungsrechte in New York veröffentlichte am 5. August 2004 einen Bericht mit Zeugenaussagen von drei britischen Gefangenen, die den Vorwurf der Folter bestätigen.

Dass Guantánamo Bay von Anfang als rechtsfreie Zone konzipiert war, geht auf die Entscheidung der US-Regierung zurück, die Genfer Konvention zu umgehen. Sie schreibt unter anderem vor, alle in Gewahrsam genommenen Kriegsgefangenen nach Beendigung der Feindseligkeiten in ihr Herkunftsland zu überführen. Ausgenommen von dieser Regelung sind nur Gefangene, gegen die ein Strafverfolgungsverfahren anhängig ist. Da die Bush-Administration jedoch einen Krieg gegen das Böse führt, ist wohl davon auszugehen, dass in ihren Augen das Ende der Feindseligkeiten erst am Tag des Jüngsten Gerichts eintreten wird.

Alle Personen, die im Zuge eines bewaffneten Konflikts in die Gewalt der Gegenpartei geraten, sind entweder als Kombattanten zu betrachten und genießen insofern den Schutz der für Kriegsgefangene geltenden 3. Genfer Konvention, oder sie gelten nicht als Kombattanten und sind infolgedessen gemäß der für Zivilisten geltenden 4. Konvention zu behandeln. Wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ausführt, gibt es dazwischen keinen dritten Status, denn „keine Person, die sich in den Händen des Feindes befindet, kann außerhalb des Rechts stehen“1 . Das gilt auch für die von der US-Regierung konstruierte Figur des enemy combattant, des „feindlichen Kämpfers“

Da die Vereinigten Staaten sich weigern, die Genfer Konventionen einzuhalten, unterliegt Frankreich der Verpflichtung, die zitierten Bestimmungen in vollem Umfang einzuhalten und auch alle staatlichen Instanzen auf diese Einhaltung festzulegen. Diese Position wurde auch gegenüber dem französischen Richter geltend gemacht, der angesichts der Tatenlosigkeit der Vereinigten Staaten aufgefordert wurde, sich selbst als das „zuständige Gericht“ zu betrachten, das in Artikel 5 der 3. Konvention vorgesehen ist: „Wenn Zweifel bestehen, ob eine Person, die eine kriegerische Handlung begangen hat und in die Hand des Feindes gefallen ist, einer der in Artikel 14 aufgezählten Kategorien angehört, genießt diese Person den Schutz des vorliegenden Abkommens, bis ihre Rechtsstellung durch ein zuständiges Gericht festgestellt worden ist.“

Die Inhaftierung der Franzosen in Guantánamo wurde von keinem Richter oder irgendeiner anderen richterlichen Autorität angeordnet oder abgesegnet, sie beruhte vielmehr allein auf einem Beschluss der US-Administration. Sie kann daher nur als Willkürakt bewertet werden.2 Auf den Straftatbestand der „willkürlichen Inhaftierung und Freiheitsberaubung“ lautete auch die Anzeige, die der Strafgerichtshof von Lyon am 14. Februar 2003 mit der Entscheidung beantwortete, keine Untersuchung einzuleiten. Nach Meinung des Richters ist eine Strafverfolgung der Verantwortlichen von Guantánamo Bay ausgeschlossen, da die inkriminierten Handlungen von offiziellen Funktionsträgern eines fremden Staates begangen wurden und also diesem Staat anzulasten seien. Gegen einen Staat aber könne es keine Strafverfolgung geben.

Am 20. Mai 2003 ging ein Lyoner Berufungsgericht noch einen Schritt weiter. In einem weithin kommentierten Beschluss, gegen den ein noch nicht entschiedenes Revisionsbegehren vorliegt, formulierte die Ermittlungskammer des Gerichts die Ansicht, dass die vom UN-Sicherheitsrat nach den Anschlägen vom 11. September verabschiedeten Resolutionen Vorrang vor dem französischen Strafrecht haben, sodass Letzteres keine Anwendung finden könne. Die Gerichtskammer kommt also zu der Auffassung, das humanitäre Völkerrecht sei durch Entschließungen des Sicherheitsrats außer Kraft zu setzen. Das ist juristisch eindeutig falsch. Würde diese Rechtsauslegung allgemeine Gültigkeit erlangen, könnte das geltende Recht im Kriegsfall künftig straffrei verletzt werden, wenn der Krieg selbst statthaft ist.

Und es gibt noch eine weitere Konsequenz: Die Auffassung, dass die Resolutionen des UN-Sicherheitsrats eine allgemein verbindliche Rechtsgrundlage schaffen, die es einem Staat erlauben, „verdächtige Personen“ unabhängig vom Ort ihrer Gefangennahme und ohne richterlichen Beschluss einem anderen Staat zu überstellen, könnte auf lange Sicht das gesamte Auslieferungsrecht bedrohen.

Die Philosophie, die in den Entscheidungen des Untersuchungsrichters am Lyoner Berufungsgericht zum Ausdruck kommt, gibt Anlass zur Beunruhigung. Wirksame Terrorbekämpfung, so die implizite Logik, sei von solcher Bedeutung, dass die rechtlichen Bestimmungen zum Schutz der Person dahinter zurückzutreten haben. Die staatlichen Machthaber könnten nicht zur Rechenschaft gezogen werden, es sei denn, sie machen sich international strafbarer Handlungen schuldig, für deren Verfolgung der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) zuständig ist.

In weiten Teilen der Öffentlichkeit entsteht der Eindruck einer wachsenden Kluft zwischen Recht und Macht: Auf der einen Seite gibt es ein ganzes Arsenal ausgefeilter multilateraler Rechtsinstrumente, das die Rechte der Opfer wie auch die Rechte der Angeklagten schützt und das zum Beispiel den Prozess gegen Slobodan Milošević ermöglicht und in Zukunft zweifellos die Aburteilung weiterer Henker vor dem IStGH ermöglichen wird. Auf der anderen Seite aber gibt es die von den Vereinigten Staaten in Kraft gesetzten Antiterrormaßnahmen, die auf Kosten der politischen Freiheitsrechte und der individuellen Grundrechte gehen.

Nun steht außer Zweifel, dass das Dilemma, vor dem unsere Demokratien stehen, immer größer wird. Kein Zweifel auch, dass die Theorie des Samuel Huntington vom clash of civilizations das Belagerungsgefühl bestätigt und verstärkt, das viele Menschen in der nördlichen Hemisphäre empfinden. Die überzogen häufige Anklage wegen „Bildung einer terroristischen Vereinigung“, die in Frankreich eingerissen ist und von Menschenrechtsorganisationen wiederholt kritisiert wurde, wirkt wie die juristische Umsetzung der Huntington’schen Theorie.3 Dabei wird der beliebig dehnbare Anklagetatbestand oft mit dem Argument gerechtfertigt, nur auf diesem Wege habe man „Schläfernetze“ ausheben können. Das trifft zwar zu, wie man ehrlicherweise zugeben muss. Aber unter Berufung auf denselben Anklagepunkt hat man andererseits bereits weitgehende Einschränkungen der Rechte der Verteidigung und eine Aufweichung der Unschuldsvermutung durchgesetzt.

In den meisten europäischen Ländern ist das Delikt der „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ unbekannt. In Deutschland ist es äußerst selten wirksam geworden, war vor allem auf die juristische Verfolgung der Roten Armee Fraktion zugeschnitten und enthielt einen Straftatenkatalog, der auf islamistischen Terrorismus kaum anwendbar ist. Am ehesten vergleichbar scheint die französische Rechtslage mit den freilich grotesk übersteigerten Bestimmungen des US Patriot Act, der nach dem 11. September unter lächerlichen Vorwänden die zeitlich unbegrenzte Inhaftierung von hunderten „Verdachtspersonen“ ermöglicht hat. Die abermalige Inhaftierung der aus Guantánamo Bay freigelassenen Franzosen stützte sich auf die Anklage wegen „Bildung einer terroristischen Vereinigung“. Die Guantánamo-Gefangenen aus anderen europäischen Ländern (Großbritannien, Schweden, Dänemark) wurden bei ihrer Ankunft in Europa hingegen auf freien Fuß gesetzt, obwohl sie die gleiche Geschichte hinter sich hatten wie die Franzosen. Die Einführung eines Meinungsdelikts, das die Nähe zu einer Gruppe, einem Land oder einer Person kriminalisiert, könnte sich als eine gefährliche Entwicklung erweisen.

Nur zu oft wird auch vergessen, dass zahlreiche junge Leute, die auf Anordnung von Antiterrorgerichten inhaftiert wurden, nach langer Untersuchungshaft wieder auf freien Fuß gesetzt werden mussten. Die Meinung, dass die Inhaftierung Unschuldiger als Kollateralschaden der Terrorbekämpfung in Kauf zu nehmen sei, wird unverblümt geäußert. Einige Rechtsprofessoren in den Vereinigten Staaten vertreten bereits die Theorie, dass Folter legitim sei, wenn man die Zündung einer Atombombe auf dem Times Square mit anderen Mitteln nicht verhindern könne. Auch in Deutschland ist eine vergleichbare Diskussion entbrannt.

Die Demokratien sind offenbar noch unschlüssig, wie sie auf das Dilemma reagieren sollen. Innerhalb von zwei Monaten hat es zwei Gerichtsurteile gegeben, wie sie nicht gegensätzlicher sein könnten. In den USA beschloss am 28. Juni 2004 der Supreme Court, der Oberste Gerichtshof, dass den Machtbefugnissen von US-Präsident George W. Bush auch in Kriegszeiten Grenzen gezogen sind. Ab sofort haben als Terroristen oder Taliban-Mitglieder verdächtige Gefangene, und zwar US-Bürger wie Ausländer, das Recht, ein amerikanisches Zivilgericht anzurufen. Das bedeutet eine regelrechte Tendenzwende, denn erstmals seit den Attentaten vom 11. September 2001 haben damit die Richter ihre passive Haltung aufgegeben. Seither hat die Diskussion über die Unrechtmäßigkeit der Inhaftierung in Guantánamo und ihre politischen Hintergründe erheblich an Fahrt gewonnen.

Ganz anders ist eine höchstrichterliche Entscheidung in Großbritannien ausgefallen. Am 11. August 2004 befand der Court of Appeal, die zweithöchste Gerichtsinstanz des Landes, dass „Beweise“, die andere Staaten ihren Gefangenen durch Folter abpressen, gerichtsverwertbar sind.

Noch ist unklar, in welche Richtung das Pendel das nächste Mal ausschlagen wird. Frankreich steht heute vor der Entscheidung, ob es die Kräfte verstärken will, die sich für mehr Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit einsetzen, oder ob es sich auf die Seite der Herrschaft stellt, die sich gewissenlos über die Freiheits- und Bürgerrecht hinwegzusetzen bereit ist.

deutsch von Bodo Schulze

* Rechtsanwalt, Präsident von SHERPA.

Fußnoten: 1 Jean S. Pictet (Hrsg.), „Les Conventions de Genève du 12 août 1949, Commentaire, Convention de Genève relative à la protection des personnes civiles en temps de guerre“, Bd. 4, IKRK, Genf, 1956, S. 58. 2 Dies musste bei der Anhörung vor dem Haftrichter in der Nacht zum 1. August 2004 auch der Vertreter der Pariser Staatsanwaltschaft einräumen. 3 Samuel P. Huntington, „Kampf der Kulturen: die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert“, München (Goldmann) 1998.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2004, von WILLIAM BOURDON