10.09.2004

Der unselige Zustand des Gebens und Nehmens

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Der unselige Zustand des Gebens und Nehmens

Das erste große internationale Hilfsprogramm war noch ein Erfolg: Der Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg orientierte sich an den Empfängern, nicht an den Gebern. Seither scheitert die Entwicklungshilfe immer wieder. Für die reichen Länder, denen es um Handelsinteressen und Geopolitik geht, ist sie nur ein Nebenschauplatz.

Von DAVID SOGGE *

DIE internationale Entwicklungshilfe ist eine gigantische Wirtschaftsbranche. Ihr Jahresumsatz beträgt über 60 Milliarden Euro, und sie beschäftigt weltweit über eine halbe Million Mitarbeiter. Diese Unternehmen dieser Branche produzieren ständig neue Ideen zu der Frage, wie sich die nichtwestlichen Gesellschaften zu entwickeln hätten. Zudem dient sie den reichen wie den armen Staaten zur Pflege ihrer diplomatischen Beziehungen. Dabei feiern Geber wie Empfänger, zumindest in ihren öffentlichen Äußerungen, die internationale Hilfe als eine gute Sache, die unbedingt weitergehen sollte.

Und dennoch stimmt etwas nicht mit der Entwicklungshilfe. In den Ländern, in denen sie der wichtigste Wirtschaftsfaktor ist, haben Abhängigkeiten die Oberhand über Selbstbewusstsein und Ehrgeiz gewonnen. Armut und soziale Ungleichheit haben zugenommen. Das dominierende Resultat ist allgemeine Unsicherheit.

Die paradoxen Situationen, die dadurch entstehen, nehmen teils groteske Formen an. In den letzten Jahrzehnten nehmen internationale Entwicklungsorganisationen die Oberaufsicht über Gesellschaften wahr, in denen kriminelle und Gewaltverhältnisse herrschen. Und dennoch arbeitet die Hilfsmaschinerie ungestört weiter. Denn die Leute, die bei der Entwicklungshilfe das Sagen haben, kommen selbst nie in die Verlegenheit, sich den Risiken auszusetzen, durch die sie andere gefährden. Ganz im Gegenteil: Solange ihre Programme immer wieder scheitern, sind ihre Jobs gesichert.

Dabei hatte es ganz anders begonnen. Der erste große Anlauf zu einem internationalen Hilfsprogramm war der Marshallplan für das Nachkriegseuropa. Er wurde zu einem Riesenerfolg, denn er war ein empfängerfreundliches Unternehmen. Fast alles, von der Verteilung der Hilfsgüter bis zur Kontrolle der Durchführung, lag in den Händen der Europäer. Die Amerikaner bestanden nicht darauf, dass die Europäer die Schutzmaßnahmen für ihre Industrien abbauen, die Kapitalbewegungen völlig liberalisieren und Schulden sofort zurückzahlen, wie es die Weltbank heute von vielen Entwicklungsländern fordert.

Das Ergebnis war für die europäischen Volkswirtschaften ein kräftiger Wachstums- und Diversifizierungsschub. Dabei waren sich Geber und Empfänger darüber einig, dass öffentliche Kontrolle eine gute Sache ist. Der Marshallplan funktionierte also gerade deshalb, weil er ein Plan war – ein keynesianisch inspirierter Plan, der darauf angelegt war, den europäischen Kapitalismus durch staatliche Rahmenregelungen und soziale Investitionen zu beleben und zu reformieren.

Doch diese Erfolgsstory, zu der noch ein paar andere wie die von Südkorea kommen, hat keine späteren Nachahmer gefunden. Ganz im Gegenteil: Die neuere Geschichte der internationalen Entwicklungshilfe wird von Misserfolgen überschattet. Nehmen wir zum Beispiel die Staaten Osteuropas und die ehemalige Sowjetunion. Um 1989 begannen sich die Kommandozentralen des Entwicklungshilfesystems in Washington um diese Regionen zu kümmern, also das US-Finanzministerium, der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die staatliche US-Entwicklungsagentur US-Aid. Doch deren Ziel war nicht etwa „Entwicklung“ oder gar Armutsbekämpfung. Nach Aussagen des US-Ökonomen Jeffrey Sachs, der als Hauptarchitekt einer durch Entwicklungshilfe angestoßenen Reformpolitik gilt, ging es eher darum, die Ziele des Kalten Krieges umzusetzen und dem Staatssozialismus ein für alle Mal den Garaus zu machen.

Das Glaubensbekenntnis des westlichen Systems internationaler Hilfe war ein Marktfundamentalismus, den es mit der Methode der „Schocktherapie“ durchzusetzen galt. Die bedeutete ein staatliches Sparprogramm, das die Leistungen an die Durchschnittsbürger massiv einschränkte, zugleich aber großzügige Unterstützung für so genannte Unternehmer vorsah. Und das alles ohne jede Empfängerkontrolle, ohne Verpflichtung zu öffentlicher Rechenschaft und ohne Förderung gesellschaftlich nützlicher Einrichtungen.

Dabei wurde ein Großteil der Hilfsgelder von Beraterfirmen aus dem Westen abgesahnt. Von dem, was im Lande ankam, landete ein beträchtlicher Teil später auf privaten Auslandskonten. Es gab nur einen kleinen Kreis von Gewinnern, der sich aus Gangstern, Oligarchen und Technokraten zusammensetzte, dafür aber umso mehr Verlierer, zu denen die meisten Lohnempfänger gehörten. Zudem führten die politischen Konflikte auf dem Balkan, im Kaukasus und in den zentralasiatischen Republiken immer wieder zu Blutvergießen und Bürgerkriegen. In fast allen Ländern Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion lebt die Mehrheit der Bevölkerung heutzutage unter sehr schwierigen Bedingungen.

Einige Beobachter behaupten, man könnte für diese Katastrophe auf keinen Fall die Technokraten der Entwicklungsprogramme und ihre fundamentalistischen Lehrmeinungen verantwortlich machen. Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, der in den 1990er-Jahren als maßgeblicher Stratege für die Weltbank tätig war, ist anderer Meinung. Er sieht die Entwicklungstechnokraten als Hauptakteure der neuen Politik. Sie verhielten sich wie Leute, „die mithilfe eines Flammenwerfers die alte Farbschicht eines Hauses abbrennen wollten und sich anschließend beschweren, dass sie keine neue Farbschicht auftragen können, weil das Haus abgebrannt ist“.1

Das System der internationalen Hilfe wurde seit seinen Anfängen in den 1950er-Jahren von fragwürdigen Großtheorien erdrückt. So haben etwa Ökonomen und Manager von entwicklungspolitischen Institutionen immer wieder behauptet, Ungleichheit sei eine unvermeidliche und wahrscheinlich sogar notwendige Bedingung für wirtschaftliches Wachstum.2 Entsprechend wurden Vorschläge zur Umverteilung von Land und Einkommen stets als unrealistisch oder sogar dumm abgetan. Wachstum müsse ganz oben beginnen und langsam nach unten rieseln, lautete die berühmte Trickle-down-Theorie. Von Malawi bis Mali folgten die Hilfestrategien diesem Konzept. Umverteilung funktionierte, wenn überhaupt, von unten nach oben und nach außen, indem die Gelder auf Auslandskonten abflossen.

Inzwischen hat sich die alte Masche als Schwindel entlarvt. Neuere Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass soziale Ungleichheit das Wirtschaftswachstum und die Reduzierung von Armut behindert. Es gibt also sowohl pragmatische als auch ethische Argumente für eine breitere Verteilung des Wohlstands und für öffentliche Maßnahmen gegen die Armut.

In den späten 1990er-Jahren bekam die Branche eine neue Existenzberechtigung, jetzt unter dem Titel „Armutsbekämpfung“. Aber ist die Entwicklungshilfe dieser Aufgabe auch tatsächlich gewachsen? Nachdem sie fünfzig Jahre lang mit erstaunlichem Erfolg anderen Zielen gedient hat – nämlich den Kommunismus zu bekämpfen und die Märkte der tropischen Zonen für westliche Waren und Investoren zu öffnen –, haben wir heute gute Gründe, ihre Eignung für die proklamierten Aufgaben in Zweifel zu ziehen.

Zwar kann man bestimmten Hilfsprogrammen, wenn sie durch andere Maßnahmen ergänzt werden, durchaus eine emanzipatorische Wirkung bescheinigen. Das gilt etwa für Impfprogramme in Südasien und in einigen Regionen Afrikas, die mit einer Verbesserung des öffentlichen Gesundheitssystems einhergingen. Und in Taiwan gelang es, mithilfe einer einheimischen Investitionsförderung und einer allgemeinen Bildungsoffensive die Macht der Grundbesitzer zu brechen. Unterstützung aus Skandinavien und später aus der Europäischen Union hat zum Sieg der Antiapartheidsbewegung in Südafrika beigetragen. Als Katalysator für den Wiederaufbau oder als Stimulus für neue Ideen kann internationale Hilfe wirtschaftliches Wachstum zu fairen Bedingungen ermöglichen. Doch wenn sie sich an einem Dogma orientiert, das man als Markt-Leninismus zu bezeichnen versucht ist – insofern es mithilfe einer Propaganda, die an Orwells „1984“ erinnert, sozial polarisierende Experimente durchsetzt –, wird die internationale Hilfe zu einem Problem, das sich als Lösung verkauft.

Die Wurzeln der Entwicklungshilfe reichen in die Kolonialzeit zurück. In Afrika rechtfertigten die Briten ihre Herrschaft, indem sie sich einen doppelten „Auftrag“ zuschrieben: zum einen als politischer Vormund, der die untergebenen Völker zu schützen, anzuleiten und zu disziplinieren hat; zum anderen als Agent der ökonomischer Entwicklung, der sich überschüssige Produkte aus Ländern einverleibt, die in der globalen Arbeitsteilung auf unterster Stufe stehen. Dieser doppelte Auftrag bestimmt – in leicht veränderter Form – heute noch die Logik der Entwicklungshilfe.

Das Ergebnis ist ein ganze Reihe von paradoxen Erscheinungen. Da wird im Namen von local ownership die Kontrolle der Wirtschaftspolitik durch ausländische Instanzen durchgesetzt. Da werden im Namen der inneren Entwicklung ganze Volkswirtschaften auf den Export ausgerichtet. Da werden Länder im Namen eines sich selbst tragenden Wachstums zum Schuldenmachen animiert. Da wird im Namen der ökonomischen Selbstständigkeit die Abhängigkeit verstärkt und im Namen der nationalen Selbstbestimmung der Souveränitätsverzicht gepredigt.

Paradoxe Erscheinungen und Illusionen dieser Art sind auch in der Branche selbst weit verbreitet. Der Geldtransfer von Reich zu Arm fällt viel geringer aus, als uns die offiziellen Statistiken weismachen wollen. Zum größten Teil werden die Hilfsgelder in den Geberländern ausgegeben oder fließen in sie zurück. Die Konditionen, zu denen viele der „weichen“ Kredite vergeben werden, sind oft härter als bei kommerziellen Banken. Und mit Entwicklungskrediten hat die Branche schon ohne das geringste eigene Risiko satte Profite auf Kosten stark defizitärer Staaten wie der Türkei, Peru, Rumänien und Argentinien gemacht.

Darüber hinaus werden die Leistungen der Hilfsprogramme durch die Geldströme in die Gegenrichtung weit übertroffen. Zu diesem Rückstrom tragen Schuldendienst und Kapitalflucht bei, aber auch legale und illegale Transfers von Profiten und Provisionen und die Abwanderung gut ausgebildeter Menschen in westliche Länder und Institutionen. 2001 zum Beispiel wurden über Hilfsprogramme 29 Milliarden US-Dollar für Stipendiaten aus unterentwickelten Ländern bereitgestellt. Im selben Jahr brachte der Nettoüberschuss aus dem Schuldendienst für die Kreditgeber einen Rückfluss von 138 Milliarden US-Dollar aus den Entwicklungsländern.

Entwicklungshilfe als Monopol

LEUTE, die aus dem ökonomischen Mainstream ausgestiegen sind, wie Joseph Stiglitz oder der Finanzspekulant und Philanthrop George Soros, geben heute zu, dass in Wahrheit die Armen die Reichen unterstützen. Letztere bekommen aus den ärmeren Regionen weit mehr, als was sie diesen geben. Das wiederum trägt etwa in den USA zu einem Konsumniveau bei, das sehr viel höher liegt, als es deren Inlandsproduktion entsprechen würde. Die Hilfsbranche lenkt von solch ernüchternden Realitäten ab.

Das heutige System der Entwicklungshilfe ist gleichsam ein Monopol, das keine Konkurrenz duldet. Trotz des rituellen Händeringens über die mangelnde Koordination zwischen den Geberinstanzen marschieren die meisten Organisationen brav im Takt der Trommeln, die in Washington geschlagen werden. Die Zeremonienmeister von Weltbank und IWF sind formell den Finanzministern der westlichen Länder und vor allem dem US-Finanzministerium rechenschaftspflichtig, das wiederum dem Einfluss der Wall Street unterliegt. Zwar schlugen in den 1970er-Jahren Vertreter der skandinavischen, kanadischen und holländischen Hilfeministerien vor, vor allem den Staaten Entwicklungshilfe zu leisten, die die Menschenrechte und insbesondere die sozialen und ökonomischen Rechte einhalten. Doch diese Dissidenten waren schnell in die Ecke gedrängt. Schon Ende der 1980er-Jahre waren alle nationalen und UN-Hilfsorganisationen wieder auf den Mainstream eingeschwenkt. Jetzt lautete die Parole: Die Gesetze der Ökonomie gelten wie die Gesetze der Technik, und zum Konsens von Washington (also von IWF und Weltbank) gibt es keine Alternative. Wer sich innerhalb der Branche quer legt, wurde und wird bestraft, wie die Ablösung von Stiglitz als Vizepräsident der Weltbank auf Geheiß des US-Finanzministers gezeigt hat.

Handels- und geopolitische Interessen haben auf der Geberseite im Diskurs über humanitäre und Entwicklungshilfe schon immer eine verdeckte Rolle gespielt. Aber auch auf der Empfängerseite haben wir es mit einer komplizierten Mischung vielfältiger Motive zu tun. Denn die Eliten der ärmeren Länder haben längst gelernt, nach jenem westlichen Trommeltakt zu marschieren, aber nie, ohne sich dafür belohnen zu lassen. Sie machen jede Strategie mit, ob sie nun „balanciertes Wachstum“ heißt, „Deckung der Grundbedürfnisse“ oder „Preisanpassung“, „Good Governance“ oder „Armutsbekämpfung“. Afrikanische Führer von Mobutu bis Moi haben gezeigt, wie souverän sie die rituellen Tänze mit den Geberinstanzen beherrschen. Sie sorgen dafür, dass die jeweils neuesten Rezepte der Geber in die nationalen Pamphlete und öffentlichen Reden Eingang finden. Sie akzeptieren sämtliche politischen Bedingungen, versäumen dann aber meist, sich an ihre Zusagen zu halten. Schließlich wissen sie, dass die Drohung, die Hilfsleistungen einzustellen, ungefähr so wirksam ist wie in der großen Politik die Drohung mit der Atombombe.

Aber der „passive Widerstand“ gegen das Diktat eines Syndikats der internationalen Hilfe erklärt den Misserfolg der Konzepte noch nicht. Die Entwicklungshilfe ist für gewöhnlich ein Nebenschauplatz und lenkt häufig von wichtigeren Themen ab. So kommt es vor, dass in Stellvertreterkriegen gegen linksnationale Regime oder Opium- und Kokabauern ganze Regionen verwüstet werden, denen man zur selben Zeit durch internationale Hilfe auf die Beine helfen wollte. Und massenhafte Lieferungen von Getreide, Fleisch, Textilien und gebrauchter Kleidung aus dem Westen mindern oder zerstören häufig den Anreiz für die lokalen Produzenten und machen damit entwicklungspolitische Programme zur Förderung dieser Produktion praktisch hinfällig. Für die armen Länder sollen die vom Westen finanzierten Stipendienprogramme einen Zugewinn an „Humankapital“ bringen, doch dieselben westlichen Regierungen tragen aktiv dazu bei, Gesundheitsexperten, Ingenieure und Computertechniker aus diesen Ländern für die eigene Gesellschaft zu rekrutieren.

Die größte aller Ungereimtheiten ist die Rolle des Hilfesyndikats bei der Durchsetzung des Marktfundamentalismus – einer volkswirtschaftlichen Lehre also, die viele an einen Vodookult oder an Astrologie erinnert. Die fatalen Auswirkungen dieser Lehre sind in Lateinamerika, in Afrika und in den vormals sowjetischen Republiken zu beobachten: zu geringe Wachstumsraten, der Zusammenbruch der öffentlichen Versorgungs- und Dienstleistungen, soziale Marginalisierung und politische Instabilität. All dies bedeutet für die meisten Hilfsprojekte das Todesurteil.

Die Rhetorik der Entwicklungshelfer strotzt heute von Begriffen wie „Bürgerinitiativen“ und „selbst verantwortete politische Strategien“. Doch nach wie vor sind es zumeist Außenstehende, denen die gedanklichen Konzepte wie das Planen und Durchsetzen von Entwicklungsprogrammen vorbehalten bleibt. Und selbst dort, wo die internationalen Organisationen nicht das letzte Wort haben, setzen sich ihre gleich gepolten einheimischen Pendants wie die lateinamerikanischen „Chicago Boys“ oder die indonesische „Berkeley Mafia“ enthusiastisch für dieselben Entwicklungsstrategien ein. Und zwar mit Erfolg, weil sie in den entscheidenden Positionen des Finanzministeriums oder der Zentralbank sitzen.

In den letzten zwanzig Jahren hat internationale Entwicklungshilfe in manchen Fällen dazu beigetragen, die staatliche Souveränität zu untergraben. Vor allem aber hat sie bewirkt, dass allenthalben die staatlichen Leistungen eingeschränkt und die Staaten selbst delegitimiert wurden. Das wird vor allem an den Methoden deutlich, mit denen Hilfsprogramme gemanagt werden. Die Geber ziehen es vor, ihre Hilfsgelder über Verteilerkanäle wie Beraterfirmen, Nonprofit-Organisationen und spezialisierte Projekteinheiten zu schleusen. Damit schaffen sie es im Allgemeinen, die nationalen Regierungen zu umgehen (wobei sie allerdings häufig ihre besten Mitarbeiter aus den staatlichen Behörden des Empfängerlandes rekrutieren). Die Bürokratien der Empfängerländer rechtfertigen die Verwendung der Gelder in der Regel nach oben, gegenüber den Gebern, statt nach unten, gegenüber den eigenen Bürgern. Das alles läuft darauf hinaus, dass der Staat und seine Gestaltungsmöglichkeiten ausgezehrt werden.

Da in vielen Ländern, die internationale Hilfe beziehen, die Bürger entpolitisiert und machtlos sind, müssen sie mit ansehen, wie die Leistungen selbst in so elementaren öffentlichen Aufgabenbereichen wie Schulwesen, Gesundheitsversorgung und öffentliche Sicherheit immer schlechter wurden. Zudem hat die wenig transparente Übertragung von öffentlichem Eigentum an heimische und ausländische Kapitalinteressen eine Klasse von Neureichen hervorgebracht. Diese Entwicklung hat – von Tschad bis Bolivien – die Bürger den Regierungen entfremdet. Der Staat hat kaum noch Chancen, Steuern einzutreiben, die öffentliche Ordnung wird immer fragiler. In Ländern wie Liberia und Somalia, die früher sehr viel Entwicklungshilfe erhielten, ist inzwischen jede staatliche Ordnung zusammengebrochen.

„Good Governance“ – so gut wie das Personal

DIE Krise der internationalen Hilfe hat allerdings Mitte der 1990er-Jahre dazu geführt, dass die Branche in ihrer Politik gegenüber den Entwicklungsländern eine Kehrtwendung vollzog. Angesichts der Tatsache, dass die Empfängerstaaten die Bedingungen der Geber immer seltener erfüllten und ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen konnten, wurden die Hilfsprogramme an die Bedingung von good governance gebunden. Das „gute Regierungssystem“ implizierte eine Reihe von Forderungen: die Erosion staatlicher Institutionen zu beenden, die Korruption einzudämmen, die Besteuerung zu aktivieren, die öffentlichen Einnahmen und Ausgaben transparenter zu machen und kritische Stimmen in Presse und Zivilgesellschaft zu Wort kommen zu lassen. Diese Reformen sind eine gute Sache und dringend notwendig. Doch viele Beobachter sehen in dem neuen Bekenntnis zu „demokratischen“ Neuerungen nur einen Trick, um davon abzulenken, dass man das unpopuläre Austeritätsprogramm weiterfahren will.3 Denn wie sieht die Motivation der Leute aus, die jetzt die Prinzipien von good governance durchzuziehen haben?

Das Personal, das die alte Entwicklungshilfebranche hinterlassen hat, besteht aus privilegierten Technokraten und einer politischen Klasse, denen die Überzeugung anerzogen wurde, dass Gier eine positive Sache ist. Und dass Politik, wie ein ironischer Kopf es einmal ausdrückte, die Kunst ist, die Menschen davon abzuhalten, sich in Dinge einzumischen, die sie eigentlich angehen. Die demokratischen Defizite der Entwicklungshilfe lassen sich nicht länger als unangenehme Nebenwirkungen der Praxis abtun, sie müssen endlich ernst genommen werden.

Doch der Druck, etwas zu verändern, nimmt ebenfalls zu. Einige NGO-Vertreter, Akademiker und auch Forschungsabteilungen der Vereinten Nationen lassen sich von Institutionen wie der Weltbank nicht mehr einschüchtern – weder von deren angeblicher intellektueller Überlegenheit noch von ihrer Macht, die eigenen Konzepte zu subventionieren und unter die Leute zu bringen. Und tatsächlich gibt es inzwischen einige Abtrünnige, die ihre Hausaufgaben gemacht haben. Sie entlarven die angebliche Kompetenz von Weltbank und IWF, good policy und good practice zu definieren, als Humbug.

In Ländern, die internationale Hilfe beziehen, etwa in Indien und Brasilien, haben öffentliche Proteste gegen die Zerstörung der Ökosysteme oder gegen Kredite, die den Staatshaushalt ausbluten, Ende der 1990er-Jahre zu moderaten Reformen geführt. Das Ergebnis waren zum Beispiel nationale Inspektionsorgane und Studien, die vorab die Auswirkungen von Hilfsleistungen auf die Ärmsten untersuchen. Doch der Druck auf die internationalen Organisationen ist schwach. Mangels Sanktionsmöglichkeiten kann man sie lediglich auffordern, sich so zu verhalten, wie man es von einer öffentlichen Institution in einer Demokratie erwarten kann.

Lässt sich das entwicklungspolitische Establishment noch durch Reformen demokratisieren? Einige Beobachter meinen, dass das internationale System der Entwicklungshilfe irreparabel sei und abgeschafft werden sollte, mit Ausnahme von Nothilfe in Katastrophenfällen. Doch es könnte auch einen Weg nach vorn geben, wenn man sich an den Prinzipien der öffentlichen Beteiligung orientieren würde. Die derzeitige Entwicklungshilfe könnte durch ein umfassenderes System pauschaler Finanzhilfen ersetzt werden, die gezielt dazu dienen müssten, die polarisierenden Effekte des Wachstums abzuschwächen und die gesellschaftliche Integration zu stärken.

Derartige Transferleistungen nach dem Prinzip der „Angleichung“ oder „Solidarität“ sind in Ländern der Europäischen Union oder in reicheren Staaten wie Kanada und Spanien ganz selbstverständlich. Als Finanzhilfen, die sich eher an den Empfängern als an den Geberinstanzen orientieren, haben sie dazu beigetragen, nationale und internationale öffentliche Leistungen aufzubauen und regionale Armut zu reduzieren. Auch die osteuropäischen Nachbarländer der EU verhandeln bereits über ein ähnliches Programm der Pauschalfinanzierung.

Damit solche Systeme besser funktionieren, braucht es jedoch einen offenen politischen Raum, in dem die Bürger und Medien über den Verbleib des Geldes und die Resultate der Projekte informiert sind. Nur so können sie, wenn etwas schief läuft, die Autoritäten zur Rechenschaft ziehen. Dieser Raum kann durch finanzielle Förderung von öffentlichen Aktionen noch weiter gestärkt werden. Wenn wir also die Ketten des heutigen – so verschwenderischen wie undemokratischen – Hilfesystems zerschlagen wollen, sollten wir uns an den Modellen der Umverteilung öffentlicher Mittel orientieren, die bereits erfolgreich funktionieren.

deutsch von Elisabeth Wellershaus

* Mitglied des Transnational Institute Amsterdam, Autor von „Give and Take. What’s the Matter with Foreign Aid?“,London (Zed Books) 2002.

Fußnoten: 1 Joseph Stiglitz, „Wither Reform? Ten Years of the Transition“, April 1999, www.worldbank.org/research/abcde/pdfs/stiglitz.pdf. Über Stiglitz’ Rolle auch: Ha-Joon Chang (Hg.), „Joseph Stiglitz and the World Bank: The Rebel Within“, London (Anthem Press) 2002. 2 Maßgeblich dafür: Simon Kuznets, „Economic Growth and Income Inequality“, American Economic Review 45 (1955), S. 1–28. 3 Bernard Cassen, „Le piège de la gouvernance“, Manière de voir 61, „L‘Euro sans L‘Europe“, Februar 2002.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2004, von DAVID SOGGE