10.09.2004

Die Macht des Präsidenten

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Die Macht des Präsidenten

Von THOMAS SCHMID *

BEI den Präsidentschaftswahlen im Dezember 1998 gaben 58 Prozent der Venezolaner ihre Stimme einem Mann, der knapp sieben Jahre zuvor als Kommandant eines Fallschirmjägerbataillons einen Putsch gegen die demokratisch gewählte Regierung angeführt hatte. 19 Menschen kamen damals zu Tode. Die Wahl von Hugo Chávez war vor allem eine Entscheidung gegen das gesamte korrupte demokratische Regime, unter dem sich die beiden großen Parteien des Landes die Macht 40 Jahre lang geteilt hatten. Fünf Jahre zuvor, 1993, war der sozialdemokratische Präsident Carlos Andrés Pérez aus dem Amt gejagt worden, weil er die Staatskasse um 16 Millionen Dollar erleichtert hatte. Bestechliche Beamte, käufliche Richter – ohne Bakschisch lief nichts. Laut einer Studie des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) hatten 1998 gerade noch 0,8 Prozent der Bürger Vertrauen in ihre Justiz.

Chávez versprach Abhilfe. Und in der Tat: Kaum an der Macht, krempelte er in atemberaubendem Tempo das Staatsgefüge um. Im Februar 1999 trat er sein Amt an. Im Juli wählte das Volk eine verfassunggebende Versammlung. Diese arbeitete in knapp drei Monaten eine neue Verfassung aus, die noch im Dezember des Jahres von 71 Prozent der Bürger gebilligt wurde. Damit war die „Fünfte Republik“ geboren: die „Bolivarianische Republik Venezuela“.

Die „bolivarianische Verfassung“ sprengt die Konventionen. In Venezuela gibt es nun offiziell nicht mehr drei Staatsgewalten, sondern fünf: Zur exekutiven, legislativen und judikativen Gewalt kommen nun noch eine Gewalt, die für Wahlen zuständig ist (Poder Electoral), und eine staatsbürgerliche Gewalt (Poder Ciudadano), die durch den „Moralischen Rat“ (Consejo Moral) ausgeübt wird, dem der Ombudsmann, der Generalstaatsanwalt und der Rechnungsprüfer angehören. Aufgabe des Moralischen Rats, heißt es in der Verfassung, sei es, alle Handlungen zu sanktionieren, die sich „gegen die öffentliche Ethik und die administrative Moral richten“1 . Ferner soll er über die korrekte Verwendung öffentlicher Mittel und „die Einhaltung des Legalitätsprinzips durch die staatliche Verwaltung“ wachen.

Das Volk, so heißt es anderer Stelle, übe seine Souveränität über „die Wahl von Personen in öffentliche Ämter, über das Referendum […] und auch über Bürgerversammlungen aus, deren Entscheidungen bindenden Charakter haben“2 . All dies zeugt vom Bemühen um eine „partizipative Demokratie“ sui generis, die allerdings bisher – vom Referendum über die Abberufung von Chávez abgesehen – im Großen und Ganzen toter Buchstabe geblieben ist.

Dieselbe Verfassung, die dem Bürger neue Rechte zugesteht, stärkt auch deutlich die Stellung des Präsidenten. Er wird nunmehr für sechs (früher fünf) Jahre gewählt und kann, was vorher nicht statthaft war, für eine zweite Amtsperiode gewählt werden. Er ist zudem befugt, das Parlament jederzeit aufzulösen. Dieses hat keine Kontrolle mehr über Beförderungen in der Armee, die – vom Rang eines Obersts an aufwärts – in die alleinige Kompetenz des Präsidenten fallen.

Mit der neuen Verfassung hat die Legislative an Gewicht verloren, doch sie entscheidet über die Zusammensetzung des Obersten Gerichts, des „Poder Electoral“ und des „Poder Moral“. Allerdings kann sich der Präsident im Parlament auf eine absolute Mehrheit stützen, nachdem sich seine „Bewegung der Fünften Republik“ (MVR) mit einigen Kleinparteien zum „Patriotischen Pol“ (PP) zusammengeschlossen hat.

Mehr Kopfschmerzen als die Legislative bereitet dem Präsidenten die Judikative. Zwar wurden die zwanzig Richter des Obersten Gerichts (Tribunal Supremo de Justicia) – unter ihnen achtzehn neue – 1999 von der Legislativkommission der verfassunggebenden Versammlung bestimmt, einer Kommission, die ausschließlich aus Mitgliedern und Sympathisanten der MVR bestand. Doch erwiesen sich dann einige der neuen Richter im April 2002 als unsichere Kantonisten. Damals putschte eine Gruppe hoher Offiziere aus allen Waffengattungen, nachdem bei einer Großdemonstration der Opposition neunzehn Menschen erschossen worden waren. Chávez wurde festgesetzt. Der Oppositionsführer rief sich zum Präsidenten aus und löste als erste Amtshandlung das Parlament auf. Doch der Coup misslang: 48 Stunden später brachten loyale Offiziere Chávez in sein Amt zurück. Als das Oberste Gericht wenige Tage danach die Putschisten freisprach, weil sie in einem Machtvakuum gehandelt hätten, war offensichtlich, dass das Lager des Präsidenten einige der Kammern des Obersten Gerichts nicht unter Kontrolle hatte.

Chávez sann auf Abhilfe. Am 20. Mai dieses Jahres beschloss das Parlament ein Gesetz3 , das die Zahl der Mitglieder des Obersten Gerichts von 20 auf 32 erhöht. Die Wahl der Richter erfolgt nach diesem Gesetz durch das Parlament mit Zweidrittelmehrheit. Kommt in drei Abstimmungsdurchgängen keine entsprechende Mehrheit zustande, reicht im vierten Durchgang die einfache Mehrheit aus. Noch sind die neuen Richter nicht gewählt, aber Chávez dürfte es unter diesen Voraussetzungen leicht fallen, sich in sämtlichen Kammern des Obersten Gerichts eine Mehrheit zu verschaffen.

Doch damit nicht genug. Das Parlament kann künftig Richter mit einfacher Mehrheit abwählen, wenn ihr öffentliches Benehmen der Würde, dem Prestige oder der Funktionsfähigkeit des Obersten Gerichts widerspricht. Würde und Prestige aber sind dehnbare Begriffe. Vor allem aber ist das Gesetz eine krasse Verletzung der Verfassung, die eine Abwahl von Richtern nur mit Zweidrittelmehrheit vorsieht.

Schon vor der Verabschiedung des skandalösen Gesetzes stand das venezolanische Justizsystem auf tönernen Füßen. 80 Prozent aller Richter sind nämlich in provisorischer oder temporärer Anstellung und werden deshalb von der Justizkommission des Obersten Gerichts, wenn es opportun scheint, ohne viel Federlesens ausgewechselt.

Im August des vergangenen Jahres etwa befand der Erste Verwaltungsgerichtshof (Corte Primera de lo Contencioso Administrativo), immerhin das zweithöchste Gericht des Landes, dass die kubanischen Ärzte, die Chávez ins Land geholt hatte, um eine Gesundheitsversorgung in den Armenvierteln aufzubauen, nicht ohne Approbation der venezolanischen Ärztekammer arbeiten dürften. Drei Tage danach schimpfte der Präsident in seiner sonntäglichen Fernsehsendung „Aló presidente“ („Hallo, Präsident“) auf die Richter, behauptete, ihre Entscheidung sei verfassungswidrig, und kündigte an, „das Volk“ werde sich einen Dreck darum scheren.

Einen Monat später nannte er in seiner Sendung den Präsidenten des Verwaltungsgerichts einen „Banditen“. Noch im Oktober wurden vier der fünf Verwaltungsrichter – angeblich wegen eines „Fehlurteils“, das ein Jahr zurücklag – ihrer Ämter enthoben. Der fünfte konnte gerade noch rechtzeitig in Rente gehen. Die neuen Richter wurden erst Ende Juli bestimmt – allerdings nur provisorisch, weil das Schicksal der entlassenen noch nicht rechtskräftig geklärt ist. Neun Monate lang war Venezuela also ohne Ersten Verwaltungsgerichtshof. Und der ist immerhin zuständig für die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten, die Tätigkeit der Behörden, für Fälle von Amtsanmaßung und Fehlverhalten von Regierungsbeamten. Ungefähr 2 000 Klagen sind liegen geblieben.

Human Rights Watch hat in einem alarmierenden Rapport über die Gefahr berichtet, dass sich in Venezuela die Exekutive die Judikative unterwirft.4 Die hoch angesehene US-amerikanische Menschenrechtsorganisation riet dem Präsidenten, seine Parteifraktion im Parlament anzuweisen, das verabschiedete Gesetz nicht zu implementieren, das heißt: auf die Aufstockung des Obersten Gerichts von 20 auf 32 Richter zu verzichten. Der Verfassungskammer des Obersten Gerichts empfahl Human Rights Watch, das Gesetz wegen Verfassungswidrigkeit zu annullieren. Solch deutliche Worte schafften in Caracas böses Blut. Vizepräsident José Vicente Rangel schimpfte José Miguel Vivanco, den Leiter der Amerika-Abteilung der Menschenrechtsorganisation, einen „Söldner im Dienst der imperialen Mächte“ und „Sprecher der Regierung von George Bush“. Der so Gescholtene schrieb daraufhin einen offenen Brief an Präsident Chávez, in dem er klarstellte, dass seine Organisation seit Bushs Amtsantritt bereits in 27 Berichten auf die Menschenrechtsverletzungen durch die USA hingewiesen habe. Über Venezuela habe sie in der gleichen Periode erst zwei Berichte verfasst.

Der Argentinier Carlos Menem hatte in seiner Zeit als Präsident die Anzahl der Richter des Obersten Gerichts, um es seiner Kontrolle zu unterwerfen, von fünf auf neun erhöht. Als seine korrupten Machenschaften noch während seiner Amtszeit juristisch verfolgt wurden, hatte er in der letzten Instanz immer eine bequeme Mehrheit. Heute lebt er, gesucht von der argentinischen Justiz, im chilenischen Exil. Der frühere peruanische Präsident Alberto Fujimori entließ scharenweise missliebige Richter. Eine ihm hörige Justiz erlaubte es ihm, die Institutionen des Landes auszuhöhlen und mit einer mafiosen Mischung aus Terror und Bestechung das Land in Schach zu halten. An den Folgen leidet Peru noch heute. Fujimori aber hat sich nach Japan abgesetzt. Die Populisten Menem und Fujimori versuchten, ein neoliberales Wirtschaftsmodell durchzusetzen. Der Populist Chávez will seine „bolivarianische Revolution“ vorantreiben. Die Ziele sind verschieden, doch die Methode ist dieselbe: Die Mechanismen demokratischer Machtkontrollen werden ausgehebelt. Das begünstigt die Korruption, die zu bekämpfen Chávez einst angetreten ist.

© Le Monde diplomatique, Berlin

* Lebt als freier Journalist in Berlin.

Fußnoten: 1 Artikel 274. Die Verfassung ist im Internet unter www.analitica.com/bitblioteca/anc/constitucion1999.asp abrufbar. 2 Artikel 279 der Verfassung. 3 Im Internet unter www.tsj.gov.ve/legislacion/Nuevaleytsj.htm. 4 Im Internet unter www.hrw.org/spanish/informes/2004/venezuela0604.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2004, von THOMAS SCHMID