10.09.2004

Tierfilme um Mitternacht

zurück

Tierfilme um Mitternacht

BEIM gescheiterten Referendum vom 15. August zur Abwahl von Venezuelas Präsident Chávez ist es mit rechten Dingen zugegangen, befanden die internationalen Beobachter. Davon will die Opposition nichts wissen. Sie weigert sich, Chávez’ offensichtlichen Sieg anzuerkennen, und hat beschlossen, den Kampf fortzusetzen. Der Präsident will sich nun stärker auf seine „Patrouillen“ verlassen.

Von PAUL ÉMILE DUPRET *

Sonntag, 15. August 2004: Heute findet das Referendum statt, das die Opposition durchgesetzt hat. Sie will Präsident Hugo Chávez zum Rücktritt zwingen, was laut Verfassung nach Ablauf der Hälfte der Amtszeit möglich ist. Im Zentrum von Caracas herrscht Ruhe. Am Horizont flackern die tausende von Lichtern der ärmeren Stadtteile. Um drei Uhr früh erklingt über den zahlreichen Elendsvierteln, die sich die Hügel hinauf erstrecken, die „Diana“, auf Horn gespielt. Dieses „Signal des Weckrufs“, von den Chávez-Anhängern vorbereitet, verspricht den Sieg des Präsidenten. Raketen steigen in den Himmel, und ins gewaltige Getöse mischen sich die Rufe „Uh! Ah! Chávez no se va!“ („Chávez geht nicht weg“). Hundegebell und anderer Lärm tönt aus den Barrios.

Es ist das Signal zur Endoffensive. Wenige Stunden später strömen die Wähler hügelabwärts, um „den Prozess des Volkes“ zu unterstützen. Viele geben zum ersten Mal ihre Stimme ab: In knapp einem Jahr sind über zwei Millionen Neuwähler registriert worden. Wegen der hohen Beteiligung bilden sich Warteschlangen ohnegleichen. Manch einer muss dreizehn Stunden anstehen, um sein Votum abgeben zu können.

Alles in allem wird der Tag zu einem Fest der Demokratie – außer in Petare, einem ärmeren Stadtviertel, wo plötzlich Killer auftauchen und zweimal mit automatischen Waffen auf eine Menschenmenge feuern. Eine Person wird erschossen, etwa zehn weitere werden verletzt. Alirio Uribe, ein kolumbianischer Rechtsanwalt, der als Beobachter vor Ort ist, geht davon aus, dass die Killer darauf aus waren, die Bewohner des Viertels, die großenteils Chávez-Anhänger sind, von der Stimmabgabe abzuhalten. „Einige Personen sind gegangen, aber die meisten sind geblieben, um mit abzustimmen“, hat er beobachtet. In den feinen Vierteln der Stadt, wo die Leute in abgeschlossenen Wohnanlagen leben, beklagen Unzufriedene, dass sich die Prozedur der Stimmabgabe zu lange hinziehe; man gibt der Registrierung der Fingerabdrücke die Schuld und möchte ausgerechnet diese Prozedur abschaffen, die einen Wahlbetrug verhindern soll.

Jorge Rodríguez, einer der Leiter des Nationalen Wahlrats (CNE), meint, Grund für die Warteschlangen sei die hohe Beteiligung von 75 Prozent der Wahlberechtigten; hinzu komme, dass sich die Oppositionsführer mehrfach geweigert hätten, einer Erhöhung der Anzahl der Wahllokale zuzustimmen. „Im Durchschnitt fallen in den wohlhabenderen Vierteln auf jedes Wahllokal 1 000 Wahlberechtigte, in den ärmeren Vierteln aber 8 000“, sagt er.

Um allen die Teilnahme zu ermöglichen, mussten die Wahllokale bis Mitternacht geöffnet bleiben. Am 16. August um vier Uhr morgens stand das Ergebnis fest. Francisco Carrasquero, Präsident des CNE, gab nach der Auszählung von 94,49 Prozent der Stimmen bekannt, dass 58,25 Prozent mit Nein – also gegen die Abberufung des Präsidenten – gestimmt hätten und 41,74 mit Ja, wie die Opposition empfohlen hatte. Chávez, der bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 1998 57 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, hatte also zugelegt, obwohl in der Regel die regierenden Politiker in der Bevölkerung an Rückhalt verlieren.

Das Referendum war sein achter Sieg innerhalb von fünf Jahren. Die internationalen Beobachter haben die hohe Beteiligung und die Einhaltung demokratischer Normen bestätigt. „Über zehn Millionen Personen haben ihre Stimme abgegeben, und es gibt einen klaren Abstand zugunsten der Regierung von Präsident Chávez“, erklärte auch der amerikanische Expräsident Jimmy Carter am 16. August im Beisein von César Gaviria, dem Präsidenten der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), erklärt.

Wie Chávez betont, handelt es sich um einen „Sieg all jener Kräfte, die in Lateinamerika Alternativen zum Neoliberalismus aufbauen“ wollen. Millionen von Bewohnern der Armenviertel haben sich in den vergangenen Jahren an der politischen Umgestaltung des Landes beteiligt; am 25. Juli 1999 war eine verfassunggebende Versammlung gewählt worden, die ein neues Grundgesetz ausarbeitete, das am 15. Dezember 1999 durch einen Volksentscheid bestätigt worden war. Dies ermöglichte es der Bevölkerung nach und nach, von den Reichtümern des Landes zu profitieren, besonders vom Erdöl, dessen Erlöse in der Vergangenheit nur den Wohlhabenden zugute gekommen war. Lange vor der aktuellen Explosion der Erdölpreise wurden wichtige Sozialprojekte auf den Weg gebracht, vor allem im öffentlichen Gesundheits- und im Schulwesen. Des Weiteren ging es um den Zugang zum Eigentum an Grund und Boden, um den Schutz der kleinen Fischer, die Ankurbelung wirtschaftlicher Aktivitäten von Kleinbetrieben oder auch den Verkauf von Grundnahrungsmitteln zu Billigpreisen an Bedürftige.

Auf internationaler Ebene hat die Regierung eine Politik der Angebotskontrolle im Erdölsektor betrieben und bei der Wiederbelebung der Organisation Erdöl exportierender Staaten (Opec) eine aktive Rolle gespielt. Sie hat sich der Etablierung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone (FTAA) widersetzt und stattdessen auf eine Integration der Länder Lateinamerikas hingearbeitet. Auf dem Weg zu diesem Ziel ist Venezuela jüngst dem Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur1 ) beigetreten; zu weiteren Initiativen gehören die angestrebte Gründung eines südamerikanischen Energieunternehmens, das Petrosur heißen und die staatlichen Ölgesellschaften Venezuelas und Argentiniens umfassen könnte; langfristig möchte Chávez alle staatlichen lateinamerikanischen Ölgesellschaften vereinen, um der Nachfragemacht der USA ein gemeinsames Angebot entgegensetzen zu können. Gemeinsam mit Argentinien hat Venezuela darüber hinaus ein Projekt auf den Weg gebracht, das ein kontinentales Fernsehen schaffen soll.

Die Destabilisierungspläne der Opposition

DER Sieg von Chavéz in diesem Referendum hat dem Land zweifellos eine neue Welle der Gewalt erspart. Die radikalen Teile der Opposition hatten bereits Pläne, bei einer knappen Niederlage von Chávez strategische Institutionen des Landes zu besetzen, vor allem den Sitz der Erdölgesellschaft PDVSA, einige öffentliche Gebäude sowie verschiedene Krankenhäuser der Stadt. Der Gouverneur des Staates Miranda, Enrique Mendoza, ein Präsidentschaftsanwärter der Opposition, ist mit solcherlei Planungen wohl vertraut. Beim Putsch vom 11. April 2002 hatte er seine Polizeikräfte angewiesen, das staatliche Fernsehen zu besetzen.

Mendoza hat in seinem Staat mit Hilfe der Polizei und bezahlter Killer ein Regime des Terrors errichtet. Nach Angaben des Ombudsmanns dieses Staates wurden seit Beginn seines Mandats über 30 Morde begangen und zahlreiche willkürliche Verhaftungen vorgenommen. Am 8. Mai 2004 wurden im Departement Miranda überraschend 150 kolumbianische Paramilitärs festgenommen, die ins Land geholt worden waren, um ein Klima der Destabilisierung zu schaffen, von dem die Opposition profitiert hätte.

Nach ihrem Sieg kann die Regierung nun die Reform der Justiz angehen und den Kampf gegen die Straflosigkeit aufnehmen. Der Ausgang des Referendums ist eine schallende Ohrfeige ins Gesicht der venezolanischen Opposition und der nationalen und internationalen Medien. Ständig hatten sie Chávez attackiert: als „Autokraten“, „Tyrannen“, „Diktator“ und als „Führer, der viel redet, aber nichts tut“ – diese Bezichtigungen gingen einher mit der Mär, die Opposition repräsentiere in Wirklichkeit längst 70 Prozent der Bevölkerung und die Regierung verfüge über keine Legitimität mehr.

Nachdem die Unterstützung für Chávez nun erneut unter Beweis gestellt wurde, wird gegen den „Populisten“ wieder einmal das Argument in Stellung gebracht, er habe sich die Stimmen der Armen „gekauft“, indem er das Manna des Erdöls für soziale Programme „verschleudert“ habe. Als im Dezember 2002 und im Januar 2003 die von oben angeordneten Aussperrungen die PDVSA lahm legten, die Staatseinnahmen sinken ließen und die Wirtschaft destabilisierten, hatte man seltsamerweise von diesen Stimmen kaum Protest vernommen. Dabei hatte es damals einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukt um ganze neun Prozent gegeben, und da überall Geld fehlte, mussten auch die Sozialprogramme unterbrochen werden – das aber war just das Ziel des Streiks gewesen.

Der Sieg vom 15. August ist ein Sieg des Volkes, denn anstelle des verknöcherten Parteiapparats hatte die Regierung die von ihr selbst geschaffenen Basiskomitees – „Patrouillen“ genannt – mit der Abstimmungsvorbereitung betraut. Es war gelungen, mehr als 900 000 Freiwillige zu mobilisieren und so auch die Menschen in den entlegensten Winkeln des Landes zu erreichen. Chávez und der Leiter der Kampagne, der Historiker Samuel Moncada, hatten geschickt auch auf weithin bekannte Ereignisse aus der Geschichte des Landes zurückgegriffen, um die Bedeutung des Referendums zu betonen – so etwa verglichen sie die Endoffensive vor den Wahlen mit der Schlacht von Santa Inés.2

Die Opposition hingegen schien weniger auf eine Entscheidung an den Urnen denn auf ein Szenario der Destabilisierung hinzuarbeiten. So erklärte der Gouverneur Enrique Mendoza eine Woche vor dem Referendum, er werde die Resultate bereits am 15. August um 15 Uhr – also gesetzwidrigerweise bereits vor der Bekanntgabe des Ergebnisses durch die zuständige Wahlbehörde – veröffentlichen. Die Ergebnisse sollten auf der Basis einer privaten Auszählung von „Súmate“, einem von der amerikanischen Nationalstiftung für Demokratie (NED)3 finanzierten Verein, errechnet werden. Schließlich erklärte die Opposition, sie werde die von der OAS und dem Carter-Zentrum bekannt gegebenen Resultate nicht akzeptieren und auch diejenigen des CNE nicht.4

Am 15. August gegen ein Uhr nachmittags – die vorzeitige Ankündigung von Resultaten über Rundfunk und Fernsehen war verboten – erhielten die Korrespondenten der Auslandspresse E-Mails, in denen der „irreversible Sieg“ der Opposition angekündigt wurde. Unvorsichtige Zeitungen wie der Londoner Independent titelten am folgenden Tag, Chávez sei abberufen worden. Als jedoch ab 23 Uhr die fünf privaten Fernsehsender – die allesamt in Opposition zum Staatschef stehen – Zeichentrickfilme und Tierfilme ausstrahlten, war klar, dass irgendetwas nicht so lief, wie es sich die Opposition gedacht hatte. Denn genauso hatten die Sender schon einmal reagiert: am 13. April 2002, als das Volk auf den Straßen von Caracas vor dem Präsidentenpalast von Miraflores die Rückkehr des entführten Präsidenten gefordert hatte. Wenige Minuten nachdem der CNE den deutlichen Sieg von Chávez verkündet hatte, erklärte einer der Führer der – zur Opposition gehörenden – sozialdemokratischen Partei Demokratische Aktion (AD), man könne dem CNE nicht trauen, und es gelte nun, das Ergebnis des Carter-Zentrums und der OAS abzuwarten.

Als zehn Stunden später diese beiden Organisationen die Resultate des CNE bekräftigten, heulte die Opposition auf und sprach von „massivem Betrug“. Sie weigerte sich, die Resultate anzuerkennen. Doch damit blieb sie allein. Nicht nur die Präsidenten Néstor Kirchner aus Argentinien, Luiz Inácio „Lula“ da Silva aus Brasilien und Fidel Castro aus Kuba, sondern auch der äußerst proamerikanische Álvaro Uribe Vélez aus Kolumbien und die Europäische Kommission beglückwünschten Chávez zu seinem Sieg. Dennoch gab es auch Unterstützung für die Opposition, allerdings allein von den Vereinigten Staaten: Washington weigerte sich, das Resultat zu billigen, und ihm wurde hierin von Paris servil sekundiert, das sich damit begnügte, die Erklärungen von Carter und Gaviria „zur Kenntnis zu nehmen“. Man fragt sich, welche Informationen die französische Botschaft in Caracas ihrer Regierung hatte zukommen lassen.

Doch auch Washington musste schließlich klein beigeben und forderte zwar weiterhin eine Überprüfung der Ergebnisse, erkannte aber am 17. August den Sieg des venezolanischen Präsidenten an. Caracas widersetzte sich dem Ansinnen der Überprüfung nicht, und so verkündete Carter, dass „in Anwesenheit von Vertretern der Regierung, der Opposition und der internationalen Beobachter“ in 150 Wahllokalen Stichproben durchgeführt wurden.5 Mendoza hat, wie erwartet, im Vorhinein die Ergebnisse einer Überprüfung angezweifelt und erklärt, für die Opposition habe diese keine Bedeutung.

Präsident Chávez seinerseits, gestärkt durch das Verdikt der Urnen, gab bekannt: „Der Prozess ist unumkehrbar, Venezuela hat sich für immer verändert.“ Die neu entstandenen Strukturen – vor allem die „Patrouillen“ – und das Vertrauen, das den Basisaktivisten entgegengebracht wird, könnten die partizipative Demokratie stärken, denn die Aktivisten wüssten, dass sie es waren, die die Regierung ein weiteres Mal gerettet haben – damals, während der Sabotage der Erdölindustrie, später, beim Putsch, und heute wieder.

deutsch von Thomas Schmid

* Jurist. EU-Abgeordneter der Fraktion der Vereinigten Linken.

Fußnoten: 1 Mitgliedstaaten des Mercosur sind Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay. Assoziierte Staaten sind Bolivien, Chile und demnächst Peru. 2 Bei der Schlacht von Santa Inés erlitt die Oligarchie von Caracas durch eine Finte des Bauernführers Ezequiel Zamora im 19. Jahrhundert eine Niederlage. Dessen Strategie bestand darin, Schwäche vorzutäuschen, um den Feind auf ein anderes Terrain zu locken und ihn auf diesem dann endgültig zu schlagen. 3 Diese 1983 gegründete private Institution bezieht einen bedeutenden Teil ihres Jahresbudgets vom US-Kongress. Sie erhält Schenkungen auch vom Internationalen Republikanischen Institut (IRI), das ein Büro in Caracas unterhält. Die NED hat verschiedene Organisationen der Opposition finanziert, die am Putsch vom 11. April 2002 und an den wirtschaftlichen Sabotageakten vom Dezember 2002 beteiligt waren. Sie hat zudem die Ausarbeitung des Programms der Opposition, genannt „Consenso País“ finanziert. 4 Die Opposition behauptet, der CNE werde von Chávez kontrolliert. Er wurde jedoch vom Obersten Gericht (TSJ) nominiert, vom selben Gericht also, das am 14. April 2002 die Militärs, die am Putsch vom 11. April 2002 beteiligt waren, freigesprochen hat. 5 Es geht um den Vergleich der im Wahllokal elektronisch erfassten Stimmen mit den Stimmzetteln, die bei der Wahl ausgehändigt wurden und die die Wähler in eine traditionelle Urne warfen.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2004, von PAUL ÉMILE DUPRET