Europa – USA
Die Handelskonflikte zwischen den USA und der EU sowie der Streit um den Irakkrieg wecken Zweifel an der Zukunft der transatlantischen Beziehungen, die bislang als ehernes Fundament der neoliberalen Weltordnung galten. Manche sehen das Bündnis in einer „Sackgasse“, andere sprechen schon von „Scheidung“ und „ungewisser Perspektive“. Vergessen wird dabei, dass die Verflechtung der nordamerikanischen und der europäischen Wirtschaft nach dem 11. September noch zugenommen hat.
Von BERNARD CASSEN
DAS Chaos, das Washington im Irak angerichtet hat, bringt die bedingungslosen Anhänger der Vereinigten Staaten arg in Bedrängnis. Da die Katastrophe aber nun einmal da sei, gehe es nicht an, dass George W. Bush allein die Konsequenzen trage, argumentiert etwa der Herausgeber der französischen Wochenzeitschrift L’Express.1 Die Message lautet: Europäer und Amerikaner sitzen im selben Boot, kämpfen für dieselben Werte eines westlichen Universalismus.
Ein anderer Eindruck ergibt sich allerdings, wenn man die aktuelle politische Agenda betrachtet. Bei den allermeisten Themen gibt es eine tiefe Kluft zwischen den meisten Ländern des alten Kontinents und der Mehrheit der US-Bürger – von deren aktueller Regierung ganz zu schweigen. Das gilt etwa für das Verhältnis zwischen Individual- und Kollektivrechten, die Rolle der Religion, das Gefühl der Überlegenheit gegenüber dem Rest der Welt, die Gleichgültigkeit der Eliten in Sachen sozialer Ungleichheit, die Todesstrafe oder die Achtung geltenden Völkerrechts (Kioto-Protokoll, Internationaler Strafgerichtshof).
Grund zur Beunruhigung ob dieser offenkundigen Tatsache haben nur die Leute, die sich weigern, die USA wie jeden anderen Staat zu sehen, mit dem man teils gemeinsame, teils divergierende Interessen hat, so wie Indien, Russland oder Brasilien. Wenn heute das „Auseinanderdriften der Kontinente“, oder die Krise der „transatlantischen Beziehungen“ beklagt wird, ist daran vor allem der Zeitpunkt interessant. Denn gerade jetzt hat die militärische wie moralische Niederlage der USA im Irak den Drohungen gegenüber muslimischen und nichtmuslimischen Staaten viel von ihrer Wirksamkeit genommen. In einem Papier des Carnegie Endowment for International Peace heißt es: „Eine Macht, die offenkundig nicht einsatzfähig ist, ist keine wirkliche Macht.“2
In Europa blieb diese Botschaft nicht ungehört. Die zahllosen Kommentare, die in jüngster Zeit die Unterschiedlichkeit der Wertvorstellungen beiderseits des Atlantiks herausstreichen, begrüßten offenbar, dass Europa diplomatisch etwas auf Distanz geht. Wie in der UN-Vollversammlung am 20. Juli, wo die 25 EU-Länder einstimmig gegen die israelische „Mauer der Schande“ votierten, während Washington sich auf die Seite Israels schlug.
Den Anschein einer Konfrontation zwischen der EU und den USA bestätigen auch die Handelskonflikte der letzten Jahre, wie der Streit um Hormonrinder, Bananenexporte und genetisch veränderte Lebensmittel, um den Stahlmarkt, um Agrarsubventionen und Steuerparadiese. Schon bald könnte sich auch der Streit um die Subventionierung der Luftfahrtindustrie weiter zuspitzen.
Auch die Nato blieb nicht von transatlantischen Streitigkeiten verschont. So lehnten es Deutschland und Frankreich auf dem jüngsten Nato-Gipfel in Istanbul ab, das Nato-Banner im Irak aufzupflanzen. So sehr hat Washington sich daran gewöhnt, dass die Nato-Verbündeten die US-amerikanischen Anordnungen in Habachtstellung entgegennehmen, dass sich noch der geringste Einwand zu einer veritablen Krise auswächst.
Angesichts solcher Zwistigkeiten könnte man den Eindruck gewinnen, dass die beiden politisch-militärischen Hauptpfeiler der neoliberalen Globalisierung nicht mehr lange halten werden. Doch dieser Eindruck trügt. Eine neue Studie der französischen Robert-Schuman-Stiftung3 rückt die Dinge wieder zurecht. Sie zeigt, gestützt auf Zahlenmaterial, dass die Integration der nordamerikanischen (USA und Kanada) und europäischen Volkswirtschaften nach dem 11. September immer weitergegangen ist.
Zunächst gilt es, die Bedeutung der Handelskonflikte zwischen der EU und den USA zu relativieren, die in Wirklichkeit nur ein Prozent des beständig anwachsenden Handelsvolumens betreffen. Die Studie erinnert auch an die Tatsache, dass „die transatlantische Wirtschaft durch Auslandsinvestitionen verflochten ist, die gegenüber der oberflächlichen Integration durch Handelsbeziehungen eine weit tiefgreifendere Form wirtschaftlicher Integration darstellen“. So lag der Umsatz der europäischen Tochterunternehmen US-amerikanischer Konzerne im Jahr 2000 bei 1 438 Milliarden Dollar, während die US-Exporte nach Europa nur 283 Milliarden Dollar ausmachten. Umgekehrt erzielten die US-Filialen europäischer Unternehmen einen Umsatz von 1 420 Milliarden Dollar, während die europäischen Ausfuhren in die USA lediglich 336 Milliarden Dollar erreichten.
Entgegen einer verbreiteten Ansicht fließt das Gros der Auslandsinvestitionen sowohl der USA als auch der EU-Länder nicht in die viel beschworenen emergent markets. Für 2000 etwa lagen die US-Investitionen in den Niederlanden doppelt so hoch wie in Mexiko. 2002 tätigten US-amerikanische Unternehmen knapp 60 Prozent ihrer weltweiten Auslandsinvestitionen in Europa, ein Jahr später waren es schon über 60 Prozent. Und obwohl Paris den Irakkrieg ablehnte, blieben die US-Investitionen in Frankreich zwischen 2002 und 2003 mindestens auf demselben Niveau oder erfuhren sogar, wie einige Studien andeuten, eine Steigerung um 10 Prozent.4
In der Gegenrichtung war 2003 ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen: Die europäischen Investitionen in den USA, die noch 2002 fast 85 Prozent des Gesamtvolumens ausmachten, sanken auf rund 50 Prozent. Und in den ersten zehn Monaten des Jahrs 2003 wies der Handel von Investoren der Eurozone mit US-amerikanischen Schatzbriefen, Aktien und Obligationen ein Minus von 5 Milliarden auf, während es zwei Jahre zuvor noch einen Nettoüberschuss von 50 Milliarden Dollar gegeben hatte.
Ob diese Tendenzwende konjunkturell oder strukturell bedingt ist, sei dahingestellt. In letzterem Fall liegt der Schluss nahe, dass die europäischen Kapitaleigner den Managementkünsten der Bush-Administration weniger trauen als die US-Investoren den Regierungen des „alten Europa“. Die zunehmende Verflechtung würde dann zugleich eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses mit sich bringen.
Wie sich beim Treffen der Welthandelsorganisation (WTO) am 31. Juli dieses Jahres in Genf abermals zeigte, können sich die EU und die USA auch in der Agrarpolitik stets auf einen Kompromiss einigen, um die Forderungen der südlichen Länder abzuschmettern. Eine weitere Liberalisierung bei den Auslandsdirektinvestitionen konnten sie aber vorerst nicht durchsetzen. Auch hier zeichnen sich also geopolitische Verschiebungen ab, die sich jedoch ebenfalls im Rahmen wachsender weltwirtschaftlicher Integration bewegen.
Manche Beobachter verweisen allerdings auf den Widerspruch zwischen der zunehmenden Globalisierung im Rahmen einer umfassenden Zirkulationsfreiheit und den Maßnahmen der Bush-Administration, die ebendiese Freiheiten beschneiden (Visapflicht, Datenerhebung über Amerikareisende, Kontrolle von Containerschiffen in den Herkunftshäfen durch US-amerikanische Zollbeamte, minutiöse Grenzkontrollen).
Daniel Hamilton schreibt im Vorwort der oben zitierten Studie der Robert-Schuman-Stiftung: „Wir sind in einer Welt angekommen, in der die spezifischen Wirtschafts- und Sozialinteressen und die transnationalen Akteure grenzüberschreitend handeln und die traditionellen Governance-Formen in der gesamten atlantischen Welt hinter sich gelassen haben.“5 Das würde bedeuten, dass sich die atlantische Wirtschafts- und Finanzsphäre – der Schmelztiegel der neoliberalen Globalisierung – inzwischen völlig losgelöst von politischer Macht, politischen Projekten und politischen Konflikten entwickelt, dass also die transnationalen Interessen und Akteure dem Einfluss der Bürger und ihrer demokratisch gewählten Vertreter völlig entzogen sind. Für die demokratischen Gesellschaften wäre damit das „Ende der Geschichte“ erreicht.
deutsch von Bodo Schulze