10.09.2004

Markenzeichen al-Qaida

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Markenzeichen al-Qaida

USSAMA Bin Ladens Netzwerk hat in den letzten Jahren kaum neue Kämpfer rekrutieren können und wird schwächer. Bald müssen neue Bündnispartner und Strategien her, sei es die Zusammenarbeit mit nationalistischen Bewegungen, der extremen Linken oder Geheimdiensten aus islamisch geprägten Ländern. In der augenblicklichen Übergangsphase liegt es im Interesse von Bin Laden, dass sich lokale Gruppen des „erfolgreichen“ Labels bedienen. Und selbst wenn al-Qaida zerschlagen wäre, würde der Al-Qaidismus weiterleben.

Von OLIVIER ROY *

Gibt es al-Qaida überhaupt? Die Frage haben sich auch seriöse Autoren wie Jason Burke1 gestellt. Und sie drängt sich auf auch angesichts all der Taten, die der Organisation von Ussama Bin Laden nach dem 11. September 2001 zugeschrieben wurden: die Anschläge von Madrid im April 2004; die Aktionen im Irak, die auf Abu Mussab al-Sarkawi zurückgehen sollen, der sich angeblich in Falludscha aufhält, aber auch für die Attentate in Madrid verantwortlich sein soll; die Anschläge auf Bali im Oktober 2002, in Casablanca im Mai 2003, in Istanbul im November 2003 und zuletzt in Saudi-Arabien im Juni 2004. Außerdem wurden im August in Großbritannien und Pakistan angeblich führende Mitglieder des Al-Qaida-Netzwerks verhaftet. Gibt es einen Zusammenhang zwischen all diesen Ereignissen?

Wie weit der Einfluss von al-Qaida reicht, mag man an den Personen ermessen, die in versuchte oder vollendete Attentate verwickelt waren. Das Netzwerk besteht ja nicht erst seit gestern. Doch es ist Vorsicht geboten. Oft erwiesen sich die Vorwürfe gegen angebliche Al-Qaida-Kämpfer, die in Guantánamo festgehalten oder vor Gericht gebracht wurden – wie Mounir al-Motassadeq2 in Deutschland –, als fragwürdig und waren in ordentlichen Verfahren jedenfalls nicht zu erhärten.

Andererseits heißt es immer wieder, man kenne nur die Spitze des Eisbergs. Al-Qaida sei eine Organisation mit unzähligen Verzweigungen, die schon vor dem 11. September existierte und über ein Netz von „Schläfern“ verfüge. Jederzeit könnten diese Terroristen im Wartestand durch geheime Botschaften im Internet aktiviert werden. Aber warum sollte al-Qaida abwarten, es sei denn, die technischen Voraussetzungen für einen Anschlag – Rekrutierung der Attentäter, Materialbeschaffung, Umgehung von Sicherheitsmaßnahmen – sind nicht erfüllt. Das wiederum würde bedeuten, dass die Organisation viel schwächer ist, als die US-Regierung zugeben möchte.

Al-Qaida scheint keine langfristige politische Strategie zu verfolgen, die einen Anschlag zu einem präzisen Zeitpunkt vorsieht, um den Gang der Ereignisse zu beeinflussen. Eher versucht man zuzuschlagen, wo immer sich die Gelegenheit bietet, um dauerhaft ein Klima der Furcht zu erzeugen und zu beweisen, dass alle militärischen Interventionen des Westens, von Afghanistan bis Irak, wirkungslos geblieben sind. Wie Lawrence Wright3 betont, gilt dies auch für die Anschläge von Madrid: Sie fielen nur zufällig in den spanischen Wahlkampf, und ohne das äußerst ungeschickte Vorgehen der Regierung unter José María Aznar hätten sie wohl die gegenteilige politische Wirkung erzeugt.

Die der al-Qaida zugeschriebenen Anschläge fallen in zwei Kategorien. Da gibt es zum einen die internationalen Attacken unter Beteiligung von Terroristen aus verschiedenen Nationen, die alle außerhalb ihres Heimatlandes agieren. Dazu gehören die Attentate vom 11. September und die verhinderten Anschläge von Los Angeles, Paris und Straßburg. Zum anderen finden lokale Aktionen statt, ausgeführt von „nationalen“ Gruppen, die auf heimischem Terrain gegen „westliche“ Ziele operieren. Dazu gehören die Anschläge von Casablanca, Istanbul und Bali. Bislang rekrutieren sich die „Internationalisten“ vorwiegend aus den Reihen ehemaliger Afghanistankämpfer, während die lokalen Gruppen eher wie „Franchising“-Partner funktionieren, die eine Geschäftsidee übernehmen. Die Situation im Irak bleibt unklar; man weiß nicht genau, woher die ausländischen Freiwilligen kommen, die sich in Falludscha aufhalten sollen, und welchen Organisationen sie angehören.

Alles deutet darauf hin, dass die Al-Qaida-Bewegung im Wandel begriffen ist, was vornehmlich auf die Rekrutierung neuer Anhänger zurückgeht. Demnächst wird man wohl nicht mehr von einer klar abgegrenzten Organisation sprechen können. Hingegen dürfte das Markenzeichen „al-Qaida“, um so besser im Geschäft bleiben, da es jeder Art von Anschlag eine maximale Wirkung verschafft.

Was heute al-Qaida genannt wird, entstand zunächst aus einem Verbund ehemaliger Kämpfer aus den Kriegen in Afghanistan. Seit die USA das Land besetzt halten, konnte sich diese Gruppe nicht mehr erneuern; sie erleidet sogar Verluste. Sie besteht im Kern aus den Aktivisten und Kämpfern, die Ussama Bin Laden um sich geschart hat. Einige gehören bereits seit den 1980er-Jahren dazu; neue „internationalistische“ Kräfte wurden in den Neunzigern und speziell zwischen 1997 und 2001 rekrutiert. Doch das Reservoir ist begrenzt und leicht zu identifizieren.

Die Militanten aus dem Nahen Osten, die seit 1980 nach Afghanistan kamen, um gegen die Sowjetunion zu kämpfen, bilden den harten Kern der Organisation. Sie gehörten in ihren Heimatländern zu den tiefgläubigen Gruppen der Gesellschaft, waren bereits politisiert und meist in radikalen Organisationen aktiv. Sie folgten Bin Laden, wohin er auch ging – in den Jemen, in den Sudan –, und kehrten mit ihm 1996 nach Afghanistan zurück. Viele dieser Veteranen wurden inzwischen getötet oder verhaftet: Scheich Mohammed Scheich, Wadih al-Hage, Mohammed Odeh, Abu Hafs al-Masri (Mohammed Atef), Suleiman Abu Gaith oder Abu Subeida. Sie lebten stets in der Umgebung von Bin Laden, einige sind ihm sogar über Heirat verbunden. So gab Bin Laden Mohammed Atef seine Tochter zur Frau. Doch aus diesem Kreis ist eigentlich nur noch der Ägypter Aiman al-Sawahiri aktiv.

Nach 1992 und vor allem nach 1996, als die Taliban in Afghanistan an die Macht kamen, trat eine „junge Garde“ mit ganz anderen Biografien auf die Szene. Bis auf einige Saudis hatten diese jungen Internationalisten durchaus angepasst im Westen gelebt, etwa als Studenten, und sich erst dort radikalisiert. Einige sind in Europa geboren, viele besitzen die Staatsbürgerschaft eines westlichen Landes. Doch dann erlebten sie eine religiöse „Wiedergeburt“, die zur politischen Radikalisierung und oft zum Bruch mit der Familie führte. Wobei die Rückbesinnung auf den Glauben sich wohl eher im Kontext einer politischen Radikalisierung vollzog. Aus diesem Milieu stammen die vier Selbstmordpiloten des 11. September 2001, aber auch Mohammed Ressam4 , die Gruppe Beghal5 , Zacarias Moussaoui6 , und Mohammed Sliti Amor7 . Einige sind zum Islam übergetreten, etwa Richard C. Reid8 und José Padilla9 . Nur wenige dieser Militanten stammen aus islamischen Länden. An dem Istanbuler Attentat im November 2003 waren allerdings Türken beteiligt.

Kaum einer aus dieser Generation kehrt in das Land seiner Vorfahren zurück. So ist etwa keiner der algerischen Al-Qaida-Kämpfer zu der Bewaffneten Islamischen Gruppe (GIA) gestoßen. Diese jungen Radikalen wollen nicht im Nahen Osten oder im Maghreb kämpfen. Sie tragen den Dschihad, ihre Form des heiligen Krieges, in Länder der Peripherie – Afghanistan, Bosnien, Tschetschenien oder Kaschmir – und kehren dann nach Europa zurück. Der Dschihad und der Aufenthalt in Afghanistan sind wie ein Initiationsritus, der ihnen den Nimbus eines Mudschahed, eines heiligen Kriegers, verschafft.

Um den Zustrom ausländischer Freiwilliger zu regulieren, die oft Konflikte mit der einheimischen Bevölkerung auslösten, machten die Taliban Bin Laden Anfang 1997 zum Leiter aller Ausbildungslager für die „Araber“ und konvertierten Ausländer. Die Usbeken und Pakistaner behielten ihre eigene Organisation. Von 1997 bis 2001 landete jeder muslimische Freiwillige, der nicht aus Pakistan oder Zentralasien nach Afghanistan kam, in einem der Al-Qaida-Camps, einige wenige auch in Lagern pakistanischer Organisationen. Das heißt freilich nicht, dass jeder, der sich dort aufgehalten hat, heute als potenzieller Terrorist gelten muss.

Aus dieser neuen Generation der jungen „Afghanen“ gehört jedoch niemand zum engeren Kreis um Ussama Bin Laden. Unter den Freiwilligen wurden die Besten ausgewählt und in den Westen geschickt, um Anschläge auszuführen. Ihnen diente der Aufenthalt in Afghanistan nur dem militärischen Training und der Herausbildung jenes Korpsgeistes, der als besondere Stärke von al-Qaida gilt. Die meisten von ihnen wurden aber der Ausländerbrigade zugewiesen, die an der Seite der Taliban gegen die Nordallianz und ihren Führer Massud kämpfte. Deshalb hat es die US-Militärjustiz heute so schwer, stichhaltige Anklagen gegen die Gefangenen in Guantánamo vorzubringen, denen man lediglich vorhalten kann, in den Verbänden der Taliban gekämpft zu haben.

Die meisten Urheber der „internationalistischen“ Attentate gehören zu dieser zweiten Generation von Afghanistankämpfern. Dieses Netzwerk, das die Stärke und Effizienz der al-Qaida begründet hat, verknüpft eine globale mit einer gruppendynamischen Dimension, denn seine weltweiten Kontakte beruhen auf den persönlichen Beziehungen einer kleinen Gemeinschaft. Es sind diese Solidarität ehemaliger Afghanistankämpfer aus vielen Ländern, ihre gemeinsame Erfahrung in den Camps und im Gefecht, die dem Netz seine Geschmeidigkeit und Festigkeit verleihen. Laut Marc Sageman10 existiert dieser Korpsgeist schon am Beginn einer Initiationsreise in den afghanischen Dschihad. Denn die meisten haben sich bereits innerhalb einer kleinen Gruppe von Gleichgesinnten an der Universität, im Viertel oder in der Moschee radikalisiert.

Im Alltag verstoßen die Mitglieder des Netzwerks nicht selten gegen alle Grundsätze der Geheimhaltung. Man teilt sich die Wohnung, führt ein gemeinsames Bankkonto, man ist Trauzeuge bei der Heirat eines Freundes oder beglaubigt das Testament eines anderen. Schutz gegen Unterwanderung wird nur durch die Gruppe als Ganze gewährleistet und nicht durch individuell klandestines Verhalten.

Führungsstab, Zellen an der Basis, internationale Verbindungen und Befehlsketten – alles beruht auf persönlichen Bindungen, die entweder in Afghanistan oder vor Ort entstehen, um durch Reisen, Auslandsaufenthalte und mehrfache Staatsbürgerschaften ihre überörtliche, internationale Qualität zu gewinnen.

Kameradschaft spielt eine sehr wichtige Rolle, zuweilen verstärkt durch verwandtschaftliche Beziehungen. Wobei man nicht – nach „traditioneller“ Weise – die von der Familie ausgewählte Frau heiratet, sondern die Schwester eines Kameraden. Die Eheleute können durchaus wie ein „modernes Paar“ zusammenleben. Die Ehefrau eines der Mörder von Schah Massud berichtet, ihr Mann habe seine Kleidung immer selbst gepflegt und geflickt.11

Die engen persönlichen Bindungen machen also die Stärke der Netzwerke aus – aber auch eine ihrer Schwächen. Oft genügt der Polizei der Hinweis auf einen Militanten, um ein ganzes Geflecht von klandestinen Beziehungen aufzudecken. Wobei allerdings häufig Unschuldige verdächtigt werden, die nur zufällig die gleiche Moschee besucht oder die gleiche Wohnung benutzt haben wie der Gesuchte. So hatte die französische Polizei schon im November 2001 Jamal Sugam, einen der Urheber des Anschlags von Madrid, kurzzeitig inhaftiert und den spanischen Kollegen eine Mitteilung zukommen lassen. Zwar hat man noch keine gesicherten Daten über die nach Afghanistan gereisten Freiwilligen, doch aufgrund von Verhaftungen, aufgefundenen Dokumenten und falschen Pässen wird man eine wachsende Zahl von ihnen identifizieren können.

Besonders hart trifft es die al-Qaida, dass sie mit ihrem Rückzugsgebiet in Afghanistan den Ort verloren hat, an dem sich die Solidarität ihrer Kämpfer immer wieder erneuern konnte. In Tschetschenien, der Sahelzone, in den pakistanischen Stammesgebieten oder in Falludscha mögen die Militanten Rückhalt bei lokalen Machthabern finden, doch vor Schlägen ihrer Gegner sind sie nicht sicher. Kurzum: Die Generation der Afghanistanveteranen schrumpft – auch infolge von Selbstmordattentaten –, und die Organisation kann diesen Schwund nicht ausgleichen.

Die al-Qaida muss also neue Mitglieder rekrutieren und neue Bündnisse schließen. Doch gerade hier fehlt es an Verbindungen, weil die Organisation eben keine politische Bewegung ist, weil sie nicht über die übliche politische und militärische Führungsstruktur verfügt, weil sie keine strategischen Allianzen geschlossen hat und keine Sympathisantenorganisationen hinter sich weiß. Als ein Netzwerk von Aktivisten existiert sie nur durch die Anschläge, die ihre Mitglieder ausüben. Für eine solche Gruppe ist eine Ausweichstrategie in die Politik praktisch unvorstellbar. Damit bleiben ihr nur Bündnisse mit anderen Gruppen von Kämpfern, die allerdings, wie etwa die Tschetschenen oder die Taliban, auch politisch engagiert sein können.

Drei Strategien sind bei der Suche nach Verbündeten oder zeitweiligen Unterstützern denkbar: eine Art Franchising des Terrors, die Kooperation mit Institutionen oder der Übergang zum Bandenkrieg. Franchising-Partner gibt es bereits. Lokale Akteure, die im eigenen Land Anschläge verüben, ohne direkte Verbindungen zur Führung der al-Qaida (wie in Casablanca) oder mit nur indirekten Kontakten (wie bei den Anschlägen auf Djerba und in Istanbul), treten im Namen von al-Qaida auf oder lassen sich ihre Taten nachträglich von der Organisation absegnen. Nur manche dieser Kämpfer sind Afghanistanveteranen. Die gewünschte Wirkung tritt aber schon ein, wenn Öffentlichkeit oder Behörden einen Anschlag der al-Qaida zuschreiben. Lokale Ziele gibt es reichlich: alles, was irgendwie mit dem Westen, mit Juden oder mit US-Interessen zu tun hat.

Als Partner vor Ort kommen ganz unterschiedliche Gruppierungen in Frage: straff geführte radikale Organisationen wie die indonesische Jemaah Islamiyah oder pakistanische Extremisten, die an der Seite von al-Qaida in Afghanistan gekämpft haben, oder auch die Sarkawi-Gruppe im Irak. Ebenso aber eine Jugendbande mit Sektencharakter, die sich um einen örtlichen Anführer schart, wie im Fall der Anschläge von Casablanca. Auch im gebildeten und polyglotten Milieu der Internetgemeinde können sich Zellen bilden, die im Namen von al-Qaida auftreten. Selbst wenn al-Qaida irgendwann verschwunden ist, könnte also der Al-Qaidismus durchaus weiterleben.

Diese Art von Franchising bietet sich schon deshalb an, weil es seit langem radikale Bewegungen gibt, die ganz ähnlich wie al-Qaida operieren, ohne mit deren Netzwerk verbunden zu sein. In Frankreich ist etwa das „Kelkal-Netz“12 zu nennen oder die „Bande von Roubaix“13 Denkbar wäre auch, dass Mitglieder anderer neofundamentalistischer, aber nicht dschihadistischer Bewegungen wie die Tablighi14 oder Hisb ut-Tahrir15 sich zu Einzelaktionen unter dem Al-Qaida-Label entschließen. Die Attentate vom Juli 2004 auf die US-amerikanische und die israelische Botschaft in Taschkent wurden vermutlich von Mitgliedern der Islamischen Bewegung Usbekistans (MOI) begangen, die gemeinsam mit al-Qaida in Afghanistan gekämpft hat. Aber auch eine Fraktion der Hisb ut-Tahrir käme infrage.

Frühere „Afghanen“ könnten in diesem Rahmen selbstständig auftreten, wie etwa al-Sarkawi im Irak (falls er tatsächlich die ihm zugeschriebene Rolle spielt). Und die angeblich in Falludscha kämpfenden ausländischen Freiwilligen dürften sich das Etikett gern anheften lassen, um eine strukturierte internationale Organisation vorzutäuschen, die es so gar nicht gibt.

In Saudi-Arabien liegen die Dinge nicht so einfach. Unter den radikalen Kräften, die 2004 verschiedene Angriffe geführt haben, sind zahlreiche frühere Afghanistankämpfer. Saudis stellten an allen Fronten, auch in Bosnien und Tschetschenien, stets einen überproportionalen Anteil der muslimischen Freiwilligen. Es ist anzunehmen, dass Ussama Bin Laden die Führer dieser radikalen Gruppen persönlich kennt – schließlich stammt er aus Saudi-Arabien und hat in den 1980er-Jahren eine wichtige Rolle beim Einschleusen von Saudis nach Afghanistan gespielt. Damals pflegte er noch gute Kontakte zum saudischen Geheimdienst; sein Bruch mit dem Regime erfolgte erst 1991.

Die Anschläge in Saudi-Arabien galten weniger dem Staat als vielmehr den Ausländern – auch aus arabischen Ländern – und den Symbolen westlicher Präsenz. Und sie wirkten wie typische Aktionen von al-Qaida. Die Terroristen forderten zwar die Abschaffung der Monarchie, aber eine revolutionäre Strategie ist in ihren Aktionen nicht zu erkennen. Andererseits gibt es in den Reihen dieser saudischen Bewegung keinen einzigen ausländischen Freiwilligen, und die Aktivisten haben im Unterschied zu anderen Al-Qaida-Kämpfern keine Auslandserfahrung, außer vielleicht einem Aufenthalt in Afghanistan oder Tschetschenien. Die Bewegung tritt nicht als al-Qaida auf, verwahrt sich aber auch nicht gegen das Etikett.

Zwei gegensätzliche Interessenlagen sichern dem Label al-Qaida dauerhafte Marktpräsenz. Da sind zum einen die Regime in Taschkent oder Moskau, die überall die Signatur von al-Qaida erkennen wollen, weil sie damit ihre Mitgliedschaft in der Allianz gegen den Terror untermauern und von der eigenen Politik der Repression ablenken können. Aber auch die Militanten möchten glauben machen, dass al-Qaida stets die Hand im Spiel hat. Bin Laden möchte als bedeutende graue Eminenz erscheinen, und die Aktivisten vor Ort wollen ihren Aktionen mehr öffentliche Wirkung verschaffen.

Das Ganze funktioniert tatsächlich wie ein Franchise-Unternehmen: Die Muttergesellschaft gibt das Konzept vor und erlaubt den Lizenznehmern, unter ihrem Markenzeichen tätig zu werden. Dieses Prinzip kann auch deshalb so gut funktionieren, weil al-Qaida nie als Mitgliederorganisation „leninistischen“ Typs aufgetreten ist. Man gewährt den Anhängern viel Autonomie, und die Führung hat kein Problem, die Initiative den jungen Kräften zu überlassen. Sogar Konvertiten werden akzeptiert – eine völlig neue Haltung in einer radikalen islamistischen Organisation.

Von ideologischen Skrupeln lässt sich al-Qaida bei der Suche nach Partnern nicht behindern. Allerdings bleibt ihr auch kaum eine andere Wahl, will sie nicht ins Abseits geraten. Mit muslimischen Gruppierungen, die ausschließlich lokale Ziele verfolgten, haben al-Qaida-Kämpfer oft gemeinsame Sache gemacht. Doch all diese Kräfte bekannten sich zur Idee des bewaffneten Dschihad. Jetzt aber könnte sich die Bündnispolitik noch offener gestalten. Dafür bieten sich drei Bereiche an: – Bündnisse mit nationalistischen oder ethnischen Bewegungen, wie schon in Bosnien und Tschetschenien und offenbar auch im Irak. In diesen Fällen haben die „Internationalisten“ keine eigene Strategie entwickelt; sie stellen sich nur als Speerspitze in einem Kampf zur Verfügung, der auf das Territorium eines Landes beschränkt bleibt. Dieser „Fremdenlegionäre“ entledigt man sich, sobald der Krieg vorbei ist – so war es in Bosnien, im Irak könnte es ähnlich ausgehen.

Oder radikale Fraktionen einer nationalistischen Bewegung beschließen, den Kampf zu internationalisieren. Derzeit führen die nationalen Befreiungsbewegungen, unabhängig von der Rolle des Islam in ihrem Konzept, den Kampf auf dem eigenen und auf dem Territorium der Besatzungsmacht. Das gilt für die palästinensische Hamas ebenso wie für die Tschetschenen unter Schamil Bassajew. Bislang hat kein Al-Qaida-Mitglied in Palästina und Israel gekämpft, kein Palästinenser aus dem Westjordanland oder dem Gaza-Streifen an Al-Qaida-Aktionen teilgenommen. Aber es ist nicht auszuschließen, dass einige Gruppen durch Repression und internationale Isolation zur Kooperation mit den Internationalisten von al-Qaida getrieben werden. – Zusammengehen von al-Qaida mit bewaffneten radikalen Fraktionen der extremen Linken in der Tradition der deutschen RAF, der französischen Action Directe oder der italienischen Brigate Rosse. Sie hätten denselben Feind: die Weltordnung des „US-Imperialismus“. Seit die radikalmarxistische extreme Linke keine Rolle mehr spielt oder einer Globalisierungskritik zuneigt, in der die sozial Ausgegrenzten kaum vorkommen, übt al-Qaida eine gewisse Faszination auf Leute aus, die vom sozialen Umsturz träumen.

Bislang musste man zum Islam übertreten, um sich al-Qaida anzuschließen, doch diese Bedingung könnte bald entfallen. Im Übrigen sind die Ziele der Organisation keineswegs religiöser Art, und ihr Antisemitismus wirkt wie die muslimische Variante der klassischen europäischen Judenfeindlichkeit. Nicht zufällig trat Horst Mahler, ehemals Anwalt von Andreas Baader und jetzt Rechtsextremist, im Oktober 2002 bei einer Veranstaltung der radikalislamischen Partei Hisb ut-Tahrir auf, die für ihren Antisemitismus bekannt ist.

Die Rolle der Konvertiten ist zweifellos ein solider Indikator für künftige Wandlungen der Organisation. Vielleicht wird es demnächst andere Wege geben, auf denen sich junge Leute aus dem Westen als radikale Islamisten betätigen können. Man könnte mehr daran interessiert sein, dass die jungen Konvertiten in ihre Herkunftsmilieus zurückkehren, um dort Bündnisse anzubahnen oder kriminelle respektive politische Aktivitäten zu entfalten. Illich Ramirez Sanchez („Carlos“16 ), der im Gefängnis zum Islam übergetreten ist, singt in seinem jüngsten Buch („Der revolutionäre Islam“) ein Loblied auf Ussama Bin Laden. Ähnlich ließ sich Nadia Desdemona Lioce, eine Hinterbliebene der Roten Brigaden, vernehmen, als sie im Februar 2003 von der italienischen Polizei festgenommen wurde. In den Vorstadtsiedlungen sind Übertritte zum Islam häufig eher ein Bekenntnis zur Militanz als zum Glauben, also reine „Protestkonversionen“. – Bleibt als dritte Möglichkeit die Verwandlung in eine Söldnertruppe oder Bande. Sollte der Führungszirkel der al-Qaida eines Tages ausgeschaltet werden, dürften einige der ehemaligen „Afghanen“ und manche potenziellen Mitglieder der Organisation den Versuch machen, ihr Know-how, ihre Verbindungen und das Markenimage gewinnbringend zu verwerten. Sie könnten den Anschluss an bestehende mafiose Strukturen suchen oder ihre eigene Mafia gründen, sie könnten aber auch als Söldner bei den Geheimdiensten anheuern, wie es ihnen „Carlos“ und der Palästinenser Abu Nidal vorgemacht haben.

Im Augenblick würde sich kein Staat auf eine solche Zusammenarbeit einlassen, schon aus Furcht vor einer Intervention der USA. Doch das könnte sich ändern: Die USA durch ihr Scheitern im Irak geschwächt, die Al-Qaida-Netzwerke in Auflösung, Verwirrung um die Ziele und Mittel im Antiterrorkampf – vor diesem Hintergrund könnte eine Grauzone entstehen, in der Freund und Feind nicht mehr klar zu unterscheiden sind. Solch eine Entwicklung ist nicht unplausibel. Schließlich bewegen sich die militanten Internationalisten auch jetzt in Gebieten, wo sie auf Verbindungen zu Schmugglerbanden angewiesen sind und wo auch – wie in den pakistanischen Stammesgebieten – der Staat seine Finger im Spiel haben dürfte.

Al-Qaida ist, in welcher Gestalt auch immer, ein staatsübergreifendes Phänomen, dessen besondere Beziehungen zum Nahen Osten durch die Umstände bedingt sind. Mit den Konflikten in der Region, die sich an nationalistischen Koordinaten orientieren, hat die Strategie von Aktion und Rekrutierung nur indirekt zu tun. Die al-Qaida von heute wird oft übertrieben islamisch interpretiert. Damit übersieht man den globalen, antiimperialistischen und auf die Dritte Welt bezogenen Impuls der Bewegung. Mehr als um die Verteidigung des Islam wird sich al-Qaida in Zukunft bemühen, als Avantgarde der Protestbewegungen gegen die bestehende Weltordnung unter der Supermacht USA aufzutreten.

deutsch von Edgar Peinelt

* Forschungsdirektor am nationalen Forschungszentrum CNRS. Autor von „L‘Islam mondialisée“ und „Les Illusions du 11 septembre: Le débat stratégique face au terrorisme“, beide Paris (Seuil) 2002.

Fußnoten: 1 Jason Burke, „Al Qaeda, Casting a Shadow of Terror“, London (I. B. Tauris) 2004. 2 Wegen Unterstützung der Attentäter von New York angeklagt und in erster Instanz freigesprochen. 3 Lawrence Wright, „The Terror Web. Were the Madrid bombings part of a new Al Qaeda strategy?“, The New Yorker, 2. August 2004. 4 Ressam wurde, mit Sprengstoff im Gepäck, im Dezember 1999 an der kanadisch-amerikanischen Grenze festgenommen. Er hat bislang mit der amerikanischen Justiz „zusammengearbeitet“. 5 Sie wurde 2001 in Frankreich angeklagt, ein Attentat auf die US-Botschaft in Paris geplant zu haben. 6 Ein französischer Staatsbürger, in den USA wegen Beteiligung an den Anschlägen des 11. September verhaftet. 7 „Abu Omar“ wird von der belgischen Justiz beschuldigt, die beiden tunesischen Selbstmordattentäter beherbergt und unterwiesen zu haben, die für den Mordanschlag auf den Kommandanten Massud vom 9. September 2001 ausgewählt waren. Massud befehligte die antitalibanische Nordallianz in Afghanistan. 8 Verurteilt, weil er am 22. Dezember 2001 auf einem Flug von Paris nach Miami versucht hatte, einen in seinem Schuh verborgenen Sprengsatz zu zünden. 9 Padilla wurde im Mai 2002 auf dem Flughafen von Chicago festgenommen. Er wird beschuldigt, al-Qaida mit Informationen zum Bau einer radioaktiven Bombe versorgt zu habe. Siehe Augusta Conchiglia, „Rechtlos in Guantánamo Bay“, Le Monde diplomatique, Januar 2004. 10 Marc Sageman, „Understanding Terror Networks“, University of Pennsylvania Press 2004. 11 Malika el-Aroud, „Les Soldats de la lumière“, Koekelberg-Brüssel (A.S.B.L. Les Ailes de la miséricorde) 2003. 12 Eine Gruppierung unter Führung des von der Polizei getöteten Khaled Kelkal, der eine Welle von Attentaten in Frankreich zugeschrieben wird, unter anderem der Anschlag auf die Metrostation Saint-Michel im Juli 1995. 13 Auf das Konto dieser „Gang“ gingen 1996 zahlreiche bewaffnete Überfälle und Schießereien in der Gegend von Roubaix. 14 Auch Jamaat al-Tabligh genannt, eine Gesellschaft zur Verbreitung des Islam, die in Saudi-Arabien, Marokko und den Staaten am Indischen Ozean aktiv ist. 15 „Partei der Befreiung“, mit Sitz in London. Siehe Olivier Roy, „Virtuelle Umma“ Le Monde diplomatique, April 2002. 16 Illich Ramirez Sanchez („Carlos“), „L‘Islam révolutionnaire“, Paris (Edition du Rocher) 2003.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2004, von OLIVIER ROY