Von Kropotkin zu Bin Laden
Die Angst der Metropolen vor dem Terror ist nicht neu. Was heute mit al-Qaida gemeint ist, war vor hundert Jahren der Anarchismus, die geheimnisvolle „Schwarze Internationale“.
Von RIK COOLSAET *
DER Terrorismus ist so alt wie die Menschheit. Es gab ihn zu allen Zeiten, auf allen Kontinenten, im Zusammenhang mitjeder Art von Konfession oder Überzeugung. Woher das manische Sicherheitsbedürfnis, das heute zu beobachten ist? Woher die Vorstellung eines unsichtbaren, krakenarmigen Feindes, der hinter jedem Attentat und überall auf der Welt vermutet wird? In der Geschichte gab es Epochen, die der unseren ähneln. Etwa die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert: Auch damals verschmolzen der Terrorismus und die Angst vor ihm in einer Weise, die es den Zeitgenossen unmöglich machte, beides auseinander zu halten.
Anlässlich eines internationalen revolutionären Kongresses 1881 in London plädierte der russische Fürst Pjotr Kropotkin1 für gewaltsame Aktionen und bezeichnete sie als „Propaganda der Tat“. Auch schon einige Jahre zuvor hatten symbolträchtige Anschläge auf Kaiser Wilhelm I. und die Könige von Spanien und Italien stattgefunden. Am 24. Juni 1894 aber tötete der junge italienische Einwanderer Sante Jeronimo Caserio, der dem anarchistischen Umfeld zuzurechnen war, den französischen Präsidenten Sadi Carnot – der Höhepunkt einer ganzen Serie von anarchistischen Anschlägen in Frankreich.
Die gesamte internationale Gemeinschaft sah sich bedroht, denn nicht allein Frankreich war von solchen Attentaten betroffen. Die 1890er-Jahre wurden geradezu ein „Jahrzehnt der Bomben“. Anschläge mit Dynamit – einer ganz neuen Erfindung – in rascher Folge richteten sich gegen Monarchen, Präsidenten und Minister. Andere trafen offizielle Gebäude. In Frankreich begann die Serie der Gewalt mit dem Jahr 1892. Der berüchtigte französische Terrorist Ravachol2 wurde nicht nur zu einem Helden der Legenden und Volkslieder. Schenkt man der Historikerin Barbara Tuchman Glauben, so verkörperte er auch jenen „Atem des Hasses und des Widerstands“3 , den wir heute mit Ussama Bin Laden assoziieren. Auch damals flirteten Intellektuelle und Sprösslinge aus gutem Hause mit der Gewalt.
Dass die Attentate mehr oder weniger zeitgleich in verschiedenen Ländern stattfanden, erweckte den Eindruck, es gebe eine Art „Schwarze Internationale“. Von Russland, das damals ein bedeutendes Zentrum radikaler Opposition war, ging durch das Attentat auf Zar Alexander II. 1881 und andere Anschläge der Gruppe Narodnaja Wolja („Volkswille“) ein starker Impuls für die gewaltbereiten Anarchisten in ganz Europa aus. Auch die Vereinigten Staaten blieben von terroristischer Gewalt nicht verschont: 1901 ermordete der Anarchist Leon Czolgosz den US-Präsidenten William McKinley, der das Land durch seinen Sieg über Spanien in eine imperialistische Großmacht mit Sendungsbewusstsein verwandelt hatte.
Ein Jahrhundert später ist kaum noch nachzuvollziehen, wie sehr die damalige Welt in ständiger Angst vor dem Terror lebte. Eine Stadt wie Paris zitterte bei der bloßen Vorstellung neuer Attentate. Das Bürgertum verstand nicht, woher dieser Hass kam, und mit jedem neuen gewalttätigen Vorfall nahm die Furcht der Eliten vor einem Aufstand der Massen zu. Jeder Arbeiter wurde als potenzieller Verbrecher dargestellt und jeder Anarchist als „tollwütiger Hund“, den es mit allen Mitteln auszuschalten galt. „Ein Verbrechen gegen die menschliche Rasse“: so beschrieb Theodore Roosevelt, McKinleys Nachfolger, den Terrorismus. Einige Länder versetzten ihre Armeen in Alarmzustand.
Nach der Ermordung Carnots im Jahr 1894 sahen sich Regierungen und Polizeibehörden gezwungen, endlich länderübergreifend tätig zu werden. Den ersten Vorschlag zur internationalen Zusammenarbeit machte Italien. Es galt als Brutstätte des internationalen Terrorismus und versuchte auf diese Weise, sein angeschlagenes Image aufzupolieren. Mehrere italienische Bürger waren an Anschlägen auf Staatsoberhäupter beteiligt gewesen. Außerdem genossen die italienischen Einwanderer im übrigen Europa keinen guten Ruf; ihre großen lokalen Gemeinschaften, zu denen die Saisonarbeiter hinzukamen, erweckten Vorurteile und Misstrauen.
So kam es, dass am 24. November 1889 in Rom eine Internationale Konferenz zur Verteidigung gegen den Anarchismus eröffnet wurde. Die 21 vertretenen Länder entschieden einstimmig, der Anarchismus sei nicht als politische Doktrin zu werten. Anschläge von Personen, die sich auf ihn beriefen, sollten als kriminelle Handlungen gelten. Doch die Einmütigkeit hatte wenig konkrete Folgen. Zwar arbeiteten die Polizeibehörden enger zusammen, aber in der Praxis entschieden die Regierungen nach Gutdünken, ob sie einen anarchistischen Ausländer seinem Heimatstaat überstellten oder nicht. Die großartigen Beschlüsse bestanden nur auf dem Papier – und zwar deshalb, weil sie sehr bald überholt waren. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ebbte die Welle des anarchistischen Terrors in den meisten Ländern ab.
Doch in der Vorstellung ihrer Zeitgenossen existierte die Schwarze Internationale weiterhin als eine nicht fassbare, weit verzweigte Organisation. Sie war umgeben von der Aura einer großen revolutionären Kraft, die in Wirklichkeit nur der Fantasie von Polizei und Presse entsprang. Natürlich reisten einige Terroristen von Land zu Land, und ihre Gruppen hielten untereinander Kontakt. Was die einen taten, inspirierte die anderen zur Nachahmung. Aber ein internationales Netzwerk existierte nicht und eine große Verschwörung schon gar nicht. Ebenso wenig gab es eine zentrale Befehlsgewalt: Es handelte sich um Individuen, die sich in kleinen Zellen zusammengeschlossen hatten und nach eigenem Gutdünken aktiv wurden. Ihre einzige Gemeinsamkeit war der Hass auf den Status quo, der einen großen Teil der Gesellschaft ausgrenzte.
Schon damals herrschte die Vorstellung einer allumfassenden Mobilität. Angesichts der wachsenden Globalisierung und des technischen Fortschritts konnte man erstmals in der Geschichte von einem Weltmarkt sprechen, auf dem sich Güter, Dienstleistungen, Kapital und Personen frei bewegten. Aber die Belle Époque war nicht für alle schön. Während eine kleine bürgerliche Elite ihren Wohlstand mehrte, profitierte der allergrößte Teil der Menschen gar nicht oder kaum vom Anwachsen des Reichtums und hatte auch in der Politik nichts mitzureden.
„Arbeiterklasse, gefährliche Klasse“, sagten die Mächtigen. Der Arbeiter war verachtet und gefürchtet. Er wurde vom Bürgertum physisch fern gehalten und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Dies war das gesellschaftliche Klima, in dem der anarchistische Terror mythische Gestalt annehmen konnte. Barbara Tuchman hat ihn als Symptom einer kranken Gesellschaft bezeichnet, in der die Arbeiterklasse vergeblich auf Gleichberechtigung drängte. Die Urheber der Anschläge rechtfertigten ihre Taten als legitime Waffe im Kampf für Gerechtigkeit und als Selbstverteidigung einer unterdrückten, benachteiligten Gruppe innerhalb der Gesellschaft. Ihre Zellen verstanden sich als Avantgarde eines heimatlosen Proletariats, obwohl einigen Aktivisten sehr wohl bewusst war, dass sie nur eine winzige Minderheit bildeten. So schrieb Pjotr Kropotkin einmal an Enrico Malatesta4 : „Ich fürchte, wir beide sind die Einzigen, die noch an eine unmittelbar bevorstehende Revolution glauben.“
Faktisch vertraten die Terroristen einzig und allein sich selbst. Als Weltanschauung war der Anarchismus nie eine geschlossene oder homogene Bewegung – weder theoretisch noch politisch. Zudem lehnte der Großteil der Anarchisten Gewaltanwendung ab. Diejenigen, die sich „zum Handeln“ entschlossen, waren nicht selten Einzelgänger. Die Zellen, in denen Anschläge geplant wurden, ähnelten pseudoreligiösen Sekten und waren oft schlecht organisiert. Dennoch wurde nach jeder neuen Aktion der Anarchismus in der Öffentlichkeit als ein internationaler Organismus dargestellt, kraftstrotzend und leistungsfähig – mit dem Ergebnis, dass auch seine mythische Anziehungskraft zunahm. Irgendwo fand sich immer ein Fanatiker, der bereit war, die Fackel im Namen der internationalen Bruderschaft der Unterdrückten weiterzutragen.
Um 1900 kam die anarchistische Gewalt dann fast völlig zum Erliegen. Führende Anarchisten wie Pjotr Kropotkin erkannten, dass die Terrorakte keine Veränderungen bewirkten und die gewählte Strategie zunehmend selbstzerstörerisch war. Denn jeder Anschlag entfremdete die gewaltbereiten Anarchisten weiter von der Arbeiterklasse, in deren Namen sie angeblich handelten, die aber den alternativlosen Angriffen auf die Herrschaft oftmals befremdet gegenüberstand. Der Terrorismus war beim Versuch, den Staat zu schwächen, nicht nur gescheitert – er hatte sogar das Gegenteil bewirkt und die Macht von Polizei, Armee und Regierung gestärkt.
Ein weiterer, vielleicht wichtigerer Grund war, dass die Proletarier in vielen Ländern inzwischen eine Möglichkeit hatten, sich politisch zu artikulieren: die Arbeiterbewegung und die Gewerkschaften. Zwischen 1895 und 1914 wurden diese für Anarchisten ungeheuer attraktiv; das zehrte aber auch an ihrer antiautoritären Identität. Der Sozialismus versprach den Arbeitern menschliche Würde, eine eigene Identität und die Akzeptanz als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft. Er schuf eine Bewegung, dank deren die Arbeiter nicht mehr vereinzelt dem Rest der Gesellschaft gegenüberstanden. Das legale Vorgehen erwies sich als wirksamer, politische und soziale Rechte und wirtschaftliche Besserstellung zu erringen.
Unterdessen lebte der Terrorismus an den Rändern Europas fort. In Russland, Spanien und auf dem Balkan riss die Serie der Attentate bis zum Ersten Weltkrieg nicht mehr ab. In diesen Ländern bot sich den Arbeitern unter den anhaltend repressiven Verhältnissen kein anderer Ausweg – angesichts von Systemen, die ständig das Gefühl der massenhaften politischen und sozialen Ausgrenzung nährten.
Die Analogie zur Gegenwart: Ähnlich wie die Arbeiter im 19. Jahrhundert sehen sich in unserer Zeit die Muslime häufig mit einer Mischung aus Furcht und Verachtung konfrontiert. Was dem anarchistischen Terroristen der bürgerliche Staat war, sind für einen Dschihad-Terroristen die USA: ein Symbol des Hochmuts und der Macht schlechthin. So gesehen ist Ussama Bin Laden eine Art Ravachol des 21. Jahrhunderts – der „Atem des Hasses und des Widerstands“ für seine Jünger, das willkommene Schreckgespenst für Polizeibehörden und Geheimdienste.
Die so genannten heiligen Krieger ähneln den anarchistischen Terroristen noch in einem weiteren Punkt: Während sie in Wirklichkeit nur eine Vielzahl kleiner Grüppchen sind, halten sie sich für eine Avantgarde und glauben, dass sie die unterdrückten Massen mit spektakulären Aktionen zum Aufstand bewegen könnten.5 Saudi-Arabien spielt am Ende des 20. Jahrhunderts die Rolle, die Italien am Ende des 19. innehatte – und was das brutale Erwachen der internationalen Gemeinschaft betrifft, entspricht der 11. September 2001 ungefähr dem 24. Juni 1894.
Vor allem hat die Ähnlichkeit zwischen dem heutigen Terrorismus und seinem anarchistischen Vorläufer aber mit den Ursachen ihres Entstehens zu tun. Die Muslime auf der ganzen Welt sind gegenwärtig im Gefühl des Unbehagens und der Krise vereint. Im Vergleich mit den 1980er-Jahren wirkt die gesamte arabische Welt heute enttäuschter, verbitterter und weniger kreativ. Ein Gefühl der Solidarität mit anderen Muslimen nährt sich aus dem Glauben, eine fremde Macht bedrohe den Islam.
Diesen fruchtbaren Boden bearbeitet eine fanatische Minderheit. Sie ist entschlossen, mit Gewalt „die Mauern der Unterdrückung und der Demütigung zu durchbrechen“, wie es Bin Laden in seiner berüchtigten Fatwa von 1996, seinem angemaßten Rechtsgutachten gegen den Westen, ausdrückte. Wieder drängt sich der Vergleich mit den Anarchisten des 19. Jahrhunderts auf. Genau wie sein anarchistischer Vorläufer wird der Dschihad-Terror in seiner eigenen Gewalt untergehen. Auch diesmal wird das Ende umso eher kommen, je früher der arabischen und muslimischen Welt echte Aussichten geboten werden, ihr Ausgeschlossensein zu überwinden.
deutsch von Herwig Engelmann
* Professor an der Universität Gent, Belgien; Autor u. a. von „Le mythe Al-Qaida. Le terrorisme, symptôme d‘une société malade“, Bierges (Editions Mols) 2004.