10.09.2004

Mit der Kraft der Gedanken

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Mit der Kraft der Gedanken

Wenn Gedanken Körper bewegen, muss es nicht unbedingt derselbe Körper sein, in dem das denkende Hirn wohnt. Die Neuronenforschung hat entdeckt, wie Maschinen durch die reine Kraft des Denkens extern gesteuert werden könnten. Schon gibt es Affen, die mechanische Arme mit nichts als ihrem Hirn dirigieren können. Kein Wunder, dass Rüstungsbehörden den Forschern mit hohen Geldbeträgen winken.

Von MARIANO SIGMAN *

DIE Amyotrophische Lateralsklerose (ALS) ist eine seltene genetische Erkrankung, an der zum Beispiel der legendäre Baseballspieler Lou Gehrig litt. Nach zwölf Jahren erfolgreicher Karriere bei den New York Yankees musste Gehrig wegen zunehmender ALS-bedingter Muskelschwäche seinen Abschied nehmen. In Deutschland erkranken jährlich etwa 4.000 Menschen an ALS. Im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit führt der Verlust der Muskelspannung zu schwersten Behinderungen. Der Kranke verliert die Fähigkeit, zu sprechen, den Kopf zu bewegen, mit den Augen zu zwinkern, zu lächeln, mit einem Wort: Er verliert jede Kommunikationsfähigkeit.

Der ehemalige Chefredakteur der Zeitschrift Elle, Jean-Dominique Bauby, litt infolge eines Gehirnschlags an einer ähnlichen Krankheit, dem Locked-in-Syndrom. Mithilfe des linken Augenlidmuskels – des einzigen Muskels, den zu bewegen er noch in der Lage war – schrieb er das Buch „Schmetterling und Taucherglocke“1 . Durch Blinzeln bestätigte er die Buchstaben, die ihm eine Helferin vorschlug, und diktierte auf diese Weise seine „Aufzeichnungen einer unbewegten Reise“. Als er die Kontrolle auch über diesen letzten Muskel eingebüßt hatte, wurde die Taucherglocke undurchsichtig und die Isolation total.

Welche Hilfe kann es geben, wenn man die physische Fähigkeit verloren hat, mit der Außenwelt zu kommunizieren? Neuere therapeutische und technologische Entwicklungen in Verbindung mit Fortschritten in der Kybernetik ermöglichen die Herstellung von einzelnen Prothesen, die die Kommunikationsfähigkeit ansatzweise wiederherstellen.

Im Laufe des vorigen Jahrhunderts hat die Erforschung der materiellen Grundlagen des Denkens erhebliche Fortschritte gemacht. Doch auch nach fast 2 000-jähriger Forschung auf den Spuren der ersten erstaunlichen Entdeckungen von Claudius Galenus im 2. Jahrhundert n. Chr. können wir uns noch immer nicht erklären, wie das Denken die Motorik steuert.2

Wie bewegt man einen Arm? Wir wissen es nicht. Zu einer bestimmter Zeit, in der frühen Kindheit, lernen wir es durch Trial and Error, durch Beobachtung und praktische Umsetzung einer nicht wahrnehmbaren geistigen Anstrengung. Man sieht nur, dass sich der Arm bewegt – als Materialisierung eines unsichtbaren mentalen Vorgangs. Wir gehen davon aus, dass ein mentaler Akt motorische Folgen hat, die wiederholt werden können.

Diese Konzeption wurde durch direkte Forschung nach und nach erfolgreich erprobt. Durch Beobachtung der Neuronenaktivität stellte man fest, dass bei einer Vielfalt von mehr oder weniger elaborierten kognitiven Prozessen regelmäßig bestimmte Neuronen einzeln oder in Gruppen in Aktion treten. Die Entzifferung dieser neuronalen Beziehungen versetzt uns wie bei jeder Code-Dechiffrierung in die Lage, uns in den Dialog einzuschalten. Würde es uns auf der Grundlage der Kenntnis der Neuronensprache also gelingen, jeden Akt in eine mentale Vorstellung zu übersetzen, so könnten wir mit den Gedanken spielen, wie wir es mit unseren Armen tun.

Und genau dies ist nun ansatzweise bereits möglich. Durch Stimulierung von Neuronen, die bestimmte Empfindungen hervorrufen – der Jargon spricht von elektronischen Drogen – oder Nervenzellen, die beispielsweise die Arme eines unfreiwillig mitspielenden Zuschauers dirigieren, wird dieser zu einer vom Versuchsleiter gesteuerten Marionette. Am anderen Nervenende lassen sich mechanische Implantate, die diese Befehle interpretieren können, direkt ans Gehirn koppeln. Dieser Mensch-Maschine-Komplex kommt ohne den dazwischen liegenden Muskel aus. Bereits heute kann ein an Amyotrophischer Lateralsklerose Erkrankter, der zur Bewegungslosigkeit verurteilt ist, auf diese Weise allein durch Gedankenanstrengung eine Computertastatur steuern.3 Aus der bis dahin totalen Kommunikationsblockade öffnet sich für den Patienten ein Fenster zur Außenwelt.

In den letzten Jahren hat die Entwicklung eines Gehirn-Maschine-Interface spektakuläre Fortschritte gemacht. Mehreren Forscherteams ist es gelungen, Affen die Fähigkeit anzudressieren, mechanische Vorrichtungen allein mit Gedankenkraft zu bewegen. Zu Beginn bewegt der Affe seinen eigenen Arm gleichzeitig mit einem Roboterarm, als könnte er diesen nicht von seinen eigenen Gliedmaßen unterscheiden. Wenig später verrät nur noch eine Grimasse die mentale Anstrengung, und schließlich entdeckt der Affe, dass ein Gedanke ausreicht, um den mechanischen Arm zu steuern. Am Ende dirigiert er mühelos den Roboterarm, um ihn zum Beispiel eine Rosine aufnehmen und zum Mund führen zu lassen.4

Rosinen für die Killerschimpansen

DAMIT ein (mechanischer oder körperlicher) Arm bewegt werden kann, muss ein Affe oder jede andere Kreatur eine motorische Geste in Gang setzen und den Bewegungsverlauf beobachten, um ihn gegebenenfalls zu korrigieren beziehungsweise zu wissen, wo und wann die Bewegung enden soll. Dass es einen Teil der Welt – nämlich den Körper– gibt, den ein Indivuduum nach Belieben steuern kann, bedeutet für die Entwicklung der Identität einen grundlegenden Fortschritt. Darüber hinaus eröffnet die Fähigkeit, den „Körper“ über sich selbst hinaus zu erweitern, unabsehbare Veränderungsmöglichkeiten. Literatur und Film haben die Grenzen solcher Eingriffe bereits auf die eine oder andere Weise erkundet. Viele träumen von einem Netz subjektiver Identitäten, das jeden in die Lage versetzt, zu empfinden, was das Netz empfindet, und zwar nicht durch Empathie oder vermittelt über Gesten, sondern durch die direkte Teilhabe an einer Art kollektivem Gehirn. Wird es einmal möglich sein, die Gefühle anderer Menschen nicht durch nachempfindende Assoziation, sondern wie aus eigener Erfahrung zu spüren? Den Schmerz eines anderen zu empfinden, als wäre es der eigene? Oder um ein weniger imaginäres, dafür aber beunruhigenderes Szenario zu entwerfen: Müssen wir mit einer Armee von Killerrobotern rechnen, ferngesteuert von Schimpansen, die dabei in aller Ruhe in ihrem Käfig sitzen und für jeden getöteten Feind mit einem Glas Fruchtsaft oder einer Hand voll Rosinen belohnt werden? Werden künftige Piloten ihre Kampfflugzeuge mit schier unglaublicher Geschwindigkeit allein gedankengesteuert durch die Wolken jagen?

Die meisten Roboterfabriken befinden sich in den Vereinigten Staaten, doch die Entwickler, die an vorderster Front der Technologie forschen, arbeiten über den ganzen Globus verteilt. So gelang einem Inder im Bereich der Steuerung biologischer Marionetten der entscheidende Durchbruch. Sanjiv Talwar, geboren in Bombay, wo er auch studierte, entwickelte die berühmt gewordenen „Roboterratten“, die sich ferngesteuert durch ein Labyrinth bewegen. Über drei Elektroden werden die Befehle von einem kleinen Empfänger, den die Ratten auf dem Rücken tragen, ins Gehirn eingespeist. Zwei der Elektroden dienen der eigentlichen Bewegungssteuerung, die dritte stimuliert das Zentrum des Lustempfindens. Außer dass sie durch ein Labyrinth navigieren, klettern die Ratten elektronisch gesteuert auf Bäume, verlassen bei Regen und Vollmond ihren Unterschlupf, balancieren auf Eisenbahnschienen und vollführen auch sonst allerlei Kunststückchen, die einer normalen Ratte nie in den Sinn kämen.

Und in Südamerika versucht Miguel Nicolelis die Steuerung elektronischer Systeme durch tierisches Denken zu perfektionieren. Mit dem Erfolg, dass seine Affen den Roboterarm als integralen Bestandteil ihres Körpers wahrzunehmen scheinen.5 Der Brasilianer studierte in São Paulo, arbeitete eine Zeit lang in North Carolina, dem Mekka der Interface-Forschung, und kehrte anschließend nach Brasilien zurück. Sanjiv Talwar und Miguel Nicolelis haben wohl die beiden beeindruckendsten Beispiele für ein Maschine-Gehirn-Interface entwickelt.

Allerdings besteht die nicht von der Hand zu weisende Gefahr, dass der technologische Durchbruch auf diesem Gebiet in erster Linie militärischen Anwendungen zugute kommt. Die Herkunft der Forschungsgelder spricht dabei eine deutliche Sprache. Die beiden Starforscher, die bei John Chapin am Health Science Center der State University of New York studierten, teilten sich Forschungsgelder aus einem Topf der Darpa (Defense Advanced Research Project Agency): Mit 24 Millionen Dollar handelt es sich um 10 Prozent des gesamten Darpa-Etats.6

Die Gelder der Darpa fließen stets in ehrgeizige Forschungsprojekte – die Agentur finanzierte in den 80er-Jahren die Entwicklung des Internets –, und die Empfänger dieser Subventionen wissen, dass damit ständige Kontrollen verbunden sind, die viel Zeit und Energie kosten. Viele Kollegen macht es zu Recht misstrauisch, wenn eine Verteidigungsbehörde der Forschung so große Summen zur Verfügung stellt. Denn niemand kann mit Sicherheit vorhersehen, wo diese neuen Technologien schließlich eingesetzt werden. Während sich nicht wenige Forscher fragen, ob sie bestimmte Forschungsgelder akzeptieren wollen oder nicht, stellen sich selbst die konservativsten Regierungen (und nicht nur US-amerikanische) ihrerseits die Frage, ob eine solche Unterstützung wirklich opportun ist und an welche Bedingungen sie zu knüpfen sei.

Soll man jede Zusammenarbeit mit der Armee ablehnen, selbst auf die Gefahr hin, sich heftiger Kritik auszusetzen, wie es 1968 Steven Smale, dem Träger der Fields-Medaille, der höchsten Auszeichnung für Mathematiker, geschah? „Was für eine Frechheit von diesem Mathematiker“, schimpfte Donald Hornig, Wissenschaftsberater von Präsident Johnson, hochoffiziell in der Zeitschrift Science“, „sich einzubilden, der Steuerzahler unterstützt mit öffentlichen Geldern die mathematische Forschung am Strand von Rio.“

Smale war am renommierten Institute for Advanced Studies der Universität Princeton 1956 den brasilianischen Mathematikern Elon Lima und Mauricio Peixoto begegnet, die ihn überredeten, seine Forschungen in Rio fortzusetzen. In Copacabana leistete Smale dann einen wichtigen Beitrag zur Chaostheorie, genauer: zur mathematischen Theorie dynamischer Systeme (Smale’sches Hufeisen).7 Wenn er sich nicht am Strand aufhielt, arbeitete er am Institut für reine und angewandte Mathematik. Die damals noch bescheidene Forschungseinrichtung, seit 1981 in bukolischer Ruhe auf einer grünen Insel Rio de Janeiros gelegen, ist noch immer der lebendige Beweis dafür, dass eine wissenschaftliche Institution von Rang und eine Ausbildungsstätte für die Mathematiker aus ganz Lateinamerikahier durchaus existenzfähig ist.

Wie schon in den 1960er-Jahren nimmt der Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und dem Rest der Welt heute zunehmend schärfere Züge an, was auch in der akademischen Welt zu Konfrontationen führt. Die US-amerikanischen Universitäten befinden sich nicht im luftleeren Raum, losgelöst von der übrigen Gesellschaft; und manch ein Forscher mag aus politischen Gründen zu dem Schluss gelangen, dass er in einem südlichen Land besser aufgehoben ist. So bereitet Nicolelis mit einigen jungen brasilianischen Forschern, die derzeit noch in den Vereinigten Staaten leben, die Gründung eines Forschungszentrums für Neurowissenschaften in Natal vor. Das Projekt genießt die Unterstützung zahlreicher Wissenschaftler von Rang, unter anderem die des Nobelpreisträgers Torsten Wiesel und des Präsidenten der US-amerikanischen Akademie der Wissenschaften, Bruce Alberts. Es soll auch ein Hirnforschungsinstitut, ein Forschungslabor mit Lehrauftrag und ein psychiatrisches Interaktionszentrum umfassen. Damit werden also Therapie, Forschung und Lehre unter einem Dach vereinigt, mit dem gemeinsamen Ziel, interdisziplinäre Projekte anzustoßen.

Die Fortschritte der Neurowissenschaften können unser Leben revolutionieren und sollten nur mit dem Ziel verfolgt werden, mentale Zustände zu visualisieren und zu entziffern. Vielleicht werden wir dann in der Lage sein, Gedanken zu steuern, unerforschte Bereiche der Seele zu erforschen und – das wünschen wir uns jedenfalls – sehr viel freier zu sein.

deutsch von Bodo Schulze

* Neurowissenschaftler, Universität d‘Orsay.

Fußnoten: 1 Jean-Dominique Bauby, „Schmetterling und Taucherglocke“, Wien (Zsolnay) 1997. 2 C. Daremberg, „Expositions des connaissances de Galien sur l‘anatomie, la physiologie et la pathologie du Système nerveux“, Paris 1841. 3 N. Birbaumer u. a., Nature 398, 25. März 1999, S. 297 bis 298. 4 „Thought Controlled“, the Whitaker Foundation, Jahresbericht 2002, www.whitaker.org/02_annual_report/index.html. 5 www.nicolelislab.net. 6 Hannah Hoag, „Neuroscience: on the Defensive“, Nature 423, Mai 2003, S. 796–798. 7 „Finding a horseshoe on the beaches of Rio“. Mathematical Intelligencer Bd. 20 (1998), No. 1, 39–44. Siehe unter Nr. 107 auf: www6.cityu.edu.hk/ma/people/smale.html.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2004, von MARIANO SIGMAN