10.09.2004

Die Barbaren kommen

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Die Barbaren kommen

Von ALAIN GRESH

IM Irak dauern die gewalttätigen Konflikte an. Das könnte man mit den mangelnden Landeskenntnissen der US-Armee erklären, denn was hat Falludscha schon mit einer Stadt in Texas gemeinsam, oder auch mit Marseille und Toulon im Jahr der Befreiung 1944. Man könnte es aber auch als Folge US-amerikanischer Arroganz sehen. Bohrt man etwas tiefer, kann man die Entwicklung jedoch unmittelbar auf das Konzept des „Kriegs gegen den Terrorismus“ zurückführen, den George W. Bush nach dem 11. September 2001 begonnen hat.

Im Rahmen dieses Konzepts findet alles, was im Irak geschieht, seine logische Erklärung. Die Anschläge im „sunnitischen Dreieck“ gehen natürlich auf das Konto unbelehrbarer Saddam-Anhänger oder internationaler Terroristen mit Verbindungen zu al-Qaida. Der Widerstand der Milizen von Muktada al-Sadr wird selbstverständlich vom Iran gesteuert, der ja zur „Achse des Bösen‘“ gehört. Und jede bewaffnete Aktion beweist aufs Neue, dass „sie“ eben die westlichen Werte hassen. Ein US-Gefreiter beschrieb seine Aufgabe im Irak mit dem naiven Satz: „Wir müssen die Bösen töten.“ Doch je mehr „Böse“ die US-Soldaten töten, desto mehr „Böse“ werden sich aus einem durchkämmten Dorf oder einem bombardierten Wohnblock rekrutieren lassen.

Das Drama im Irak lässt sich freilich auch anders und wesentlich einfacher erklären. Die Iraker haben das Ende der Diktatur und der Sanktionen, die dreizehn Jahre das Land ruiniert haben, freudig begrüßt. Nun hoffen sie auf ein besseres Leben, auf Freiheit und Unabhängigkeit. Doch der versprochene Wiederaufbau bleibt aus. Noch immer fällt häufig der Strom aus, die öffentliche Ordnung ist ständig gefährdet, das soziale Elend breitet sich weiter aus. Die US-Truppen haben dem Staat, der bereits durch diverse Embargos geschwächt war, einen letzten Stoß versetzt: Sie ließen es zu, dass wichtige Ministerien angezündet wurden, und sie haben – so wie in Japan 1945 – die nationale Armee aufgelöst. Doch die Iraker wollen nicht unter einem Besatzungsregime leben, zumal sie fest davon überzeugt sind, dass die Interessen der Besatzer nur dem Öl und der strategischen Lage ihres Landes gelten. Das Kolonialzeitalter ist endgültig vorbei. Im Irak ist der Aufstand gegen die britischen Besatzer in den 1920er-Jahren, der seit Jahrzehnten gefeiert wird, für das kollektive Gedächtnis der Nation ebenso bedeutsam wie in Frankreich die Résistance und die Befreiung von der Nazi-Okkupation.

Dieses Unabhängigkeitsstreben ist keineswegs eine irakische Besonderheit. Um es zu verstehen, muss man sich weder mit der „Psyche“ der Iraker noch mit Koranexegese beschäftigen. Der Wunsch nach Unabhängigkeit ist vielmehr vollkommen rational, und die einzige Lösung für diesen Konflikt liegt auf der Hand: sofortiger Rückzug der US-Truppen und vollständige Wiederherstellung der nationalen Souveränität.

FÜR welches politische und strategische Vorgehen sich eine Weltmacht in einem regionalen Konflikt entscheidet, resultiert aus der Einschätzung ihrer Interessen wie auch ihrer Gegner und Verbündeten. Jahrzehntelang wurden die Entwicklungen in der Welt innerhalb der Koordinaten des Kalten Kriegs analysiert. Die kleinste Veränderung selbst in entlegenen Gebieten stellte die Strategen beider Lager – und ein Heer von Wissenschaftlern und Journalisten – automatisch vor die Frage: Nützt es der UdSSR oder den USA? Wohin das führen konnte, zeigte sich in den 1970er- und 1980er-Jahren in zwei Krisengebieten besonders deutlich: in Nicaragua und in Afghanistan.

Im Juli 1979 kam in Managua die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) an die Macht und beendete damit die Diktatur der Familie Somoza. Die Sandinisten starteten ein umfassendes Programm der sozialen Umgestaltung, beginnend mit einer Landreform. Oppositionsparteien waren zugelassen, die Bürgerrechte wurden respektiert. Damit schien ein Ausweg aus Armut und Unterentwicklung eröffnet. Doch die Regierung der USA sah in der Niederlage eines verbündeten Regimes vor allem den Vormarsch des Kommunismus und der UdSSR in Mittelamerika, dem „Hinterhof“ der USA. Die CIA bewaffnete frühere Mitglieder von Somozas Nationalgarde, die als „Freiheitskämpfer“ vom benachbarten Honduras aus einen gnadenlosen Terrorfeldzug gegen das neue Regime eröffneten. Washington versuchte unterdessen, die Verbündeten und die Öffentlichkeit gegen die angebliche totalitäre Gefahr in Mittelamerika zu mobilisieren. Vor allem Kuba, aber auch die Sowjetunion verstärkten ihre Unterstützung für die Sandinisten, was Nicaragua endgültig zwischen die Fronten im Ost-West-Konflikt geraten ließ.

Der Druck der USA – vor allem durch Wirtschaftssanktionen – brachte das Land in starke Bedrängnis. Zehn Jahre später, im Februar 1990, verloren die Sandinisten bei den Parlamentswahlen die Mehrheit. Von einem Tag auf den anderen verloren die USA ihr Interesse an Nicaragua und stellten auch die Hilfe für ihre somozistischen Protegés ein. Das Land durfte verelenden, solange es nur nicht „kommunistisch“ wurde.

Noch aufschlussreicher ist das Exempel Afghanistan. Im April 1978 stürzte ein kommunistischer Putsch das Regime in Kabul, das immerhin Bündnisverträge mit der Sowjetunion geschlossen hatte. Bei dem Versuch, im konservativen Afghanistan radikale Reformen durchzusetzen, stießen die neuen Machthaber vor allem in den ländlichen Regionen auf heftigen Widerstand. Washington beschloss, die Mudschaheddin, eine islamisch orientierte Allianz von Regimegegnern, mit Waffen auszurüsten. Im Dezember 1979 marschierte die Sowjetarmee ein und installierte ein neues Regime – eine Intervention im Kolonialstil, die von der internationalen Gemeinschaft deutlich verurteilt wurde.

Doch aus Sicht des Westens und vor allem der USA war diese Invasion in erster Linie ein Beleg für das traditionelle Bestreben des Kreml, sich Zugang zu den „eisfreien Meeren“ zu verschaffen – vor allem zum Arabischen Golf. Die gerade ins Amt gekommene US-Regierung unter Ronald Reagan sah den Konflikt als einmalige Gelegenheit, die Rote Armee „bluten“ zu lassen. Sie war bereit, einen Teufelspakt zu schließen, und wechselte den Kurs. Anstelle der gemäßigten Opposition bewaffnete sie nun, mit Hilfe des pakistanischen und saudischen Geheimdienstes, die radikalsten islamistischen Gruppierungen. Zugleich sperrten sich die USA gegen alle Versuche der Vereinten Nationen, den Konflikt auf politischem und diplomatischem Wege zu lösen.1 Er sollte sich möglichst lange hinziehen. Die Folgen sind bekannt: Die Sowjetunion zog aus Afghanistan ab, und prompt verloren die USA das Interesse sowohl an dem Land als auch an den radikalislamischen Kräften, die sie – mit Hilfe Ussama Bin Ladens – stark gemacht hatten. Afghanistan versank im Bürgerkrieg, dem erst 1996 der Siegeszug der Taliban ein vorläufiges Ende bereitete.

Heute weiß man, dass die Entscheidung, in Afghanistan einzumarschieren, im sowjetischen Politbüro umstritten war. Es ging gar nicht um globale Expansionspläne, sondern um die Frage, ob man verhindern müsse, dass ein traditionell mit der UdSSR verbündetes Anrainerland in die Hände radikaler Islamisten gerät. Auch ist heute klar, dass die Sowjetunion zu diesem Zeitpunkt militärisch in keiner Weise mehr in der Lage war, die Welt zu bedrohen oder zu beherrschen. Doch im Westen leistete das sowjetische Schreckgespenst immer noch treffliche Dienste. 1983, zwei Jahre bevor Michail Gorbatschow an die Macht kam, versuchte etwa Jean-François Revel politische Weitsicht zu beweisen, indem er das Ende der Demokratien voraussagte. Es fehle an der nötigen Entschlossenheit im Kampf gegen den „schlimmsten äußeren Feind, den Kommunismus, der die aktuelle Spielart und Endform des Totalitarismus darstellt“.2 Die Endform bestand gerade noch ein paar Jahre.

Doch das „Ost-West-Schema“ des Kalten Krieges blieb allzu lange ungebrochen. Die USA wie die UdSSR gaben sich als Großmächte, die auf dem globalen Schachbrett ihre Figuren zogen: Die USA unterstützten die Diktaturen in Lateinamerika oder des Suharto-Regimes in Indonesien, während die Sowjetunion in Ungarn (1956) und in der Tschechoslowakei (1968) intervenierte. Innenpolitisch war die Situation für beide Kontrahenten allerdings nicht so einfach zu regeln. Und viele Fragen wurden falsch eingeschätzt, weil sie nicht in das Schema des „Kalten Krieges“ passten – zum Beispiel die Probleme der Umwelt, der weltweiten Armut, der Ausbreitung neuer Seuchen wie Aids. Diese Herausforderungen haben das Ende des Kalten Krieges, aus dem die USA als Sieger hervorgingen, ebenso überdauert wie die strukturellen Ursachen für künftige Erschütterungen der Weltordnung. Mit dem Ende der Sowjetunion sahen Militär und Geheimdienste in den USA und in vielen westlichen Ländern ihre Bedeutung schwinden: Der Feind, dem sie ihre Existenz und ihre gewaltigen Budgets verdankten, existierte nicht mehr. Ähnlich erging es all den Instituten für strategische Studien, die davon gelebt hatten, in düsteren Szenarien die strategische Überlegenheit der UdSSR zu beschwören oder gar deren Angriff auf Westeuropa zu prophezeien.

Anfang der 1990er-Jahre kam die These vom „Ende der Geschichte“ auf, ihr prominentester Vertreter war der amerikanische Politologe Francis Fukuyama. Doch die Botschaft, die westliche liberale Marktwirtschaft habe gewonnen und werde sich über die ganze Welt verbreiten, stieß im eigenen Lager nicht auf ungeteilte Zustimmung. Die Fraktion der konservativen Rechten, die bereits die Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion und den Pakt mit Michail Gorbatschow missbilligt hatte, schoss sich jetzt auf die „neuen strategischen Gegner“ der einzigen Weltmacht USA ein. Weit gefährlicher als der Kommunismus, hieß es jetzt, und wesentlich schwerer zu packen seien die Terroristen und all die Schurkenstaaten im Besitz von Massenvernichtungswaffen. Zugleich wurde in wissenschaftlichen und journalistischen Publikationen ein neues Schreckgespenst herausgestellt: „der Islam“, der angeblich über eine „machtvolle Ideologie“ und ein Potenzial von mehr als einer Milliarde Menschen verfüge.

1993 machte der US-amerikanische Politologe Samuel Huntington die Formulierung vom „Kampf der Kulturen“ populär. „Meine These lautet“, schrieb er damals in Foreign Affairs, „dass in der Welt von morgen nicht länger Ideologie oder Ökonomie die entscheidenden Ursachen für Konflikte sein werden. Die Menschheit wird sich vielmehr in kulturelle feindliche Lager teilen. Den Nationalstaaten bleibt ihre führende Rolle in den internationalen Beziehungen, doch in den wichtigsten politischen Auseinandersetzungen stehen sich nun Nationen und Gemeinschaften aus unterschiedlichen Kulturen gegenüber. Der Zusammenprall von Kulturen bestimmt die künftige Weltpolitik.“3

Doch erst nach dem 11. September 2001 waren die westlichen Führungsschichten überzeugt, dass der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg nun eine weitere globale Konfrontation bevorstehe. Allerdings war der neue Feind, im Unterschied zu den Nationalsozialisten und den Kommunisten, merkwürdig gesichtslos. Terrorismus ist eigentlich keine Ideologie, sondern eine Kampfform. Gemeinsamkeiten zwischen der IRA, der korsischen Unabhängigkeitsbewegung und der al-Qaida springen nicht gerade ins Auge. Was die letztgenannte Organisation betrifft, so muss man sie mit Polizeimethoden bekämpfen, man kann ihr nicht den Krieg erklären. Und die Schurkenstaaten? Schon die Idee, Nordkorea und den Iran auf derselben „Achse des Bösen“ zu verorten, wirkt unsinnig. Diese Staaten sind vielleicht eine regionale Gefahr, aber niemals eine globale Bedrohung, wie es angeblich die Sowjetunion einst war.

Was hier mit Hilfe von ideologischen Kampagnen immer deutlicher Gestalt annahm, war ein neuer Kampf der Kulturen zwischen dem Westen und dem Islam. Mit Ausnahme von Nordkorea und Kuba nahmen die USA ausschließlich muslimische Länder ins Visier: Iran, Irak, Syrien und den Sudan. Mit seiner bedingungslosen Unterstützung der israelischen Politik unter Ariel Scharon wurde diese neue Einteilung der Welt durch Präsident Bush voll bestätigt. Auf dessen Versicherung, Scharon führe einen Krieg der „Zivilisation“ gegen die „Barbarei“, antwortete Ussama Bin Laden ganz im selben Geiste: „Die Welt teilt sich in zwei Lager, eines unter dem Banner des Kreuzes, wie Bush, der Führer der Ungläubigen erklärt hat, das andere unter dem Banner des Islam.“

Wenn man diesen Vorstellungen folgt, kann es keine friedliche Lösung geben. Wozu soll man sich noch mit dem Unrecht befassen, das den Menschen in dieser oder jener Region der muslimischen Welt widerfährt, wenn „sie“, die Muslime, ohnehin von Hass auf den Westen erfüllt sind – und dies nicht wegen unserer Handlungen, sondern weil sie Freiheit und Demokratie verachten. Und diese Wahrnehmung enthält auch schon die Rechtfertigung für den Krieg. Denn damit wird jeder regionale Konflikt zum Teil der ewigen, unabwendbaren Konfrontation der Kulturen. Der Kampf der Palästinenser, ein Terroranschlag auf Java, der Widerstand im Irak, ein Fall von Antisemitismus in einem Gymnasium in Paris, ein Zwischenfall in irgendeinem Vorort – alles wird nun irgendwie unter den Generalangriff der Islamisten subsumiert. Und diesen neuen Weltkrieg müssen wir an allen Fronten führen, auch an der Heimatfront.

Im Juni 2003 wurde General William G. Boykin, ein Veteran der Antiterroreingreiftruppe „Delta Force“, als Geheimdienstberater im Rang eines Staatssekretärs ins US-Verteidigungsministerium berufen. „Jerry“ Boykin, ein bekennender Protestant, nahm kein Blatt vor den Mund. Bei einem Auftritt in Oregon meinte er zum Beispiel, der Hass der radikalen Islamisten auf Amerika erkläre sich daraus, „dass wir eine christliche Nation sind, dass wir unsere Wurzeln in der jüdisch-christlichen Tradition haben“4 . Zu seinem Einsatz gegen die Warlords in Somalia erklärte er: „Ich wusste, dass mein Gott größer war als seiner; ich wusste, dass meiner ein wirklicher Gott ist und seiner nur ein Götze.“5 Während Boykin von Verteidigungsminister Donald Rumfsfeld verteidigt wurde, versicherte Condoleezza Rice: „Wir führen keinen Religionskrieg.“ Das möchte man bezweifeln, wenn die Folteropfer von Bagdad berichten, dass sie gezwungen wurden, Schweinefleisch zu essen und ihrem Glauben abzuschwören.6

Zweifel wecken auch die Berichte US-amerikanischer und europäischer Medien, die aus ihrer Islamfeindlichkeit kein Hehl machen. Ann Coulter ist eine populäre Kolumnistin der Rechten in den USA, die regelmäßig in den Nachrichtensendungen der großen Radio- und Fernsehstationen auftritt. Nach ihrer Ansicht werden die Muslime in Frankreich in den nächsten zehn Jahren die Macht übernehmen: „Als wir gegen die Kommunisten kämpften, na ja, da gab es Massenmörder und die Gulags, aber wir hatten es mit Weißen zu tun, mit Menschen, die bei Verstand waren. Jetzt treten wir gegen Wilde an.“ Und: „Seit zwanzig Jahren bereits greifen uns unzivilisierte fanatische Muslime an. Die Geiselnahme im Iran oder der Anschlag auf die Diskothek in Berlin – das waren doch keine Leute von al-Qaida.“ Auf die Frage, was Libyen mit dem Islamismus zu tun habe, antwortete sie: „Sagen Sie, was Sie wollen, aber ich sehe, dass Muslime immer noch Menschen töten.“7

„Wir sollten uns der Überlegenheit unserer Kultur bewusst sein“, erklärte Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi am 26. September 2001 und erläuterte begeistert, dieses Wertesystem habe „allen Ländern, die es übernahmen, Wohlstand gebracht – und damit auch die Achtung der Menschenrechte und der Religionsfreiheit“. Der italienische Parlamentspräsident ist der Meinung, dass „die Überlegenheit der westlichen Werte“ viele Völker überzeugen werde. Das habe sich ja schon „in der kommunistischen Welt und in einem Teil der islamischen Welt gezeigt. Leider sind andere Teile dieser Welt noch immer 1 400 Jahre im Rückstand.“8

In seinem Buch „L’Obsession anti-américaine“ (Die antiamerikanische Obsession) weist Jean-François Revel anerkennend darauf hin, dass George W. Bush und einige europäische Führer nach dem 11. September 2001 demonstrativ Moscheen aufgesucht hätten, um – vor allem in den USA – Übergriffe der einheimischen Bevölkerung auf arabischstämmige Mitbürger zu verhindern: „Diese demokratische Fürsorge ehrt die Amerikaner und Europäer, doch sie sollte sie nicht blind machen für den Hass auf den Westen, der die Mehrheit der unter uns lebenden Muslime erfüllt.“9 Hier heißt es tatsächlich schwarz auf weiß: „die Mehrheit der Muslime“. Und man fragt sich, ob der Philosoph Revel sie alle ausweisen möchte.

Solche Erklärungen finden Widerhall in der Öffentlichkeit. Der Kalte Krieg bewegte seit den 1980er-Jahren nur noch die Militärs, das rote Schreckgespenst beeindruckte niemand mehr, der sowjetische Kommunismus taugte längst nicht mehr zu einem sozialen Gegenentwurf. Anders steht es mit dem Krieg gegen den Terrorismus. Im Westen wie in der islamischen Welt glauben heute viele bereitwillig, es gehe um einen „Kampf der Kulturen“, die Front verlaufe also nicht mehr zwischen Machthabern und Unterdrückten, Reichen und Armen, Wohlhabenden und Besitzlosen. Vom „Klassenkampf“ will man in den Ländern des Westens nichts mehr wissen, stattdessen schart man sich um das Banner des „Kampfs gegen den Anderen“. Es könnte der Auftakt zu einem Tausendjährigen Krieg sein, der zum Ziel hat, die bestehende schlechte Ordnung aufrechtzuerhalten.

deutsch von Edgar Peinelt

Fußnoten: 1 Siehe dazu Diego Cordovez, Selig G. Harrison, „Out of Afghanistan. The Inside Story of the Soviet Withdrawal“, Oxford (Oxford University Press) 1995. 2 Jean-François Revel, „Comment les démocraties finissent“, Paris (Grasset) 1983. 3 Samuel Huntington, „The Clash of Civilizations“, Foreign Affairs, Jg. 72, Nr. 3 (1993). 4 Los Angeles Times, 16. Oktober 2003. 5 Ebd. 6 Siehe Reuters, 21. Mai 2004. 7 The Independent, 16. August 2004. 8 Le Monde, 28. September 2001. 9 Jean-François Revel, L‘Obsession anti-américaine, Paris (Plon) 2002, S. 129.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2004, von ALAIN GRESH