Die Tee-Chauvinisten
Fünftausend Jahre alt wollen China und seine Teekultur sein, und die Beschäftigung mit Tee(o)logie ist dort schwer in Mode. Nicht aber die Beschäftigung mit ihren historischen Wurzeln. Die Behauptung über das Alter stimmt nicht – dient aber einem nationalistischen Diskurs.
Von NICOLAS ZUFFEREY *
IM Jahr 1823 stieß der Brite Robert Bruce, ein Offizier der East India Company, in der indischen Provinz Assam auf wilde Teesträucher. Bis dahin hatte festgestanden, dass der Teestrauch – von den Botanikern im 18. Jahrhundert thea sinensis oder camellia sinensis genannt – ursprünglich aus China stammte. Bruce’ Entdeckung hingegen deutete in den Augen mancher Forscher auf eine indische Herkunft des Tees hin. Später hieß es dann, der Tee habe eine „doppelte Herkunft“, der kleinblättrige nämlich stamme aus China und der mit den großen Blättern aus Indien. Noch später folgte die Annahme, der Tee sei ursprünglich in verschiedenen Regionen Südostasiens heimisch gewesen; und schließlich ging man von einem einzigen noch größeren Herkunftsgebiet aus, das das heutige China, Indien und Birma umfasst.
Dass der Ursprung des Tees woanders als in China liegen sollte, war eine Theorie, die den Chinesen nicht gefallen konnte. Sie machten sich auf die Suche nach wilden Teesträuchern auf ihrem Boden und wurden in einem Dutzend Provinzen an mindestens 200 Standorten fündig. Sie spürten in alten Texten Stellen auf, wo wilde Teesträucher vorkamen. Sie wiesen darauf hin, dass zu der Zeit, als die Teepflanze entstand – vor hundert bis zweihundert Millionen Jahren –, der Norden Indiens entweder noch vom Meer überflutet oder durch ein Meer vom asiatischen Kontinent getrennt war. Schließlich machten sie geltend, dass wegen der nahen Artverwandtschaft der großblättrige und der kleinblättrige Tee nicht von unterschiedlichen Pflanzen abstammen könnten.
In diesen weit zurückliegenden Zeiten gab es eigentlich weder Chinesen noch Inder und auch noch kein China oder Indien, und der Wunsch, den Tee unbedingt für sich zu reklamieren, wirkt ein wenig lächerlich, zumal er gelegentlich auch noch voll Empörung vorgebracht wird. Derartige Töne hört man sonst nur in patriotischen Reden über weitaus wichtigere Fragen wie etwa die Unabhängigkeit Tibets oder den Status von Taiwan. Verwunderlich ist diese Empfindlichkeit auch insofern, als niemand den Chinesen ihre Rolle bei der „Entdeckung“ des Tees als Getränk oder ihren Beitrag zur Teekultur (cha wenhua) streitig macht.
Denn welches andere Volk hätte den Tee zu einem seiner „sieben Schätze“ erkoren – zusammen mit der Zither (quin), dem Schachspiel, der Kalligrafie, der Malerei, der Dichtung und … dem Alkohol? In welcher anderen Kultur der Menschheit wird der Tee seit tausend Jahren zu den „sieben Notwendigkeiten“ des täglichen Lebens gezählt – neben Brennholz, Reis, Öl, Salz, Sojasoße und Essig? Doch gerade deswegen kommt der Frage nach dem Ursprung eine besondere Bedeutung zu. Die Geschichte des Tees ist mit der nationalen Identität verbunden, und die Chinesen tun sich schwer, diese mit etwas Abstand zu betrachten.
Seit wann zum Beispiel trinkt man denn Tee in China? Alle Bücher käuen Chinas „fünftausendjährige Geschichte“1 wieder. Aber woher kommt diese Zahl? Häufig wird eine Verbindung zwischen der Entdeckung des Tees und der mythischen Gestalt des Shennong, des „göttlichen Landmanns“, hergestellt, der nach der Überlieferung Anfang des 3. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung gelebt haben soll. Die Überlieferung sieht natürlich den „Bencao jing“, eines der ältesten erhaltenen Bücher über Heilpflanzen, in dem auch der Tee Erwähnung findet, als ein Werk von Shennong. Tatsächlich jedoch stammt der „Bencao jing“ vom Anfang unserer Zeitrechnung und sagt deshalb nichts aus über den Teegenuss vor fünftausend Jahren.
Die zweite Erklärung für die „fünftausend Jahre“ ist ganz allgemein die Zeitspanne der chinesischen Geschichte. Die Chinesen werden nicht müde zu behaupten, diese betrage fünftausend Jahre. Und wenn der Tee mit der Zivilisation gleichzusetzen wäre, müssten dann nicht beide eine gleich lange Geschichte aufweisen? So heißt es in einem neueren Teehandbuch: „Blättert man durch die fünftausendjährige Geschichte des chinesischen Volkes, so strömt einem fast auf jeder Seite der Duft des Tees entgegen.“2 Problematisch daran ist nur, dass fünftausend Jahre für die Dauer der chinesischen Geschichte eine maßlose Übertreibung darstellen. Denn auch diese Zahl ist aus einer Vermischung von Geschichte und Legende entstanden. Sie verweist auf die Gründergestalten, die Anfang des dritten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung gelebt haben sollen, vor allem auf den Gelben Kaiser, als dessen Kinder und Kindeskinder sich alle Chinesen betrachten. Doch die ersten Texte, die diese Personen erwähnen, sind Jahrtausende später entstanden, und so ist ihre historische Wirklichkeit zumindest zweifelhaft.
Die Entwicklung der Schrift, der Bronzeguss, das Entstehen früher Städte und einer komplexeren gesellschaftlichen Organisation beginnt in Sumer (Uruk) oder in Ägypten zwar schon vor gut fünftausend Jahren, in China allerdings erst tausendfünfhundert Jahre später. Die ersten schriftlichen Dokumente aus China wurden in der Frühzeit der Shang-Dynastie (17.–11. Jahrhundert) verfasst, einer Zeit, aus der auch die ersten Bronzen stammen. China hat also eine Geschichte von zirka 3 500 Jahren, was nicht wenig ist, den chinesischen Historikern aber nicht genügt. Sie leiden offenbar darunter, dass die Geschichte ihres Landes derjenigen anderer Kulturkreise hinterherhinkt.
Die ersten schriftlichen Quellen, die unbestreitbar auf den Tee Bezug nehmen, gehen auf die Han-Dynastie zurück, die von 206 vor bis 220 nach Christus herrschte. Eine dieser Quellen, der bemerkenswerte „Vertrag mit einem Diener“ (Tong yue) aus dem Jahr 59 v. Chr., beschreibt in allen Einzelheiten die täglichen Aufgaben eines Bediensteten, darunter auch den Einkauf und die Zubereitung des Tees. Tee ist also in China wohl erst seit gut zweitausend Jahren nachweisbar, und ein im ganzen Land verbreitetes Getränk war er erst ein paar hundert Jahre später.
Bis zum dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung ist der Tee im Wesentlichen auf die heutige Provinz Sichuan im Südwesten Chinas beschränkt. Das „Shi shuo xin yu“, eine Anekdotensammlung aus dem fünften Jahrhundert, berichtet von einem Adligen aus dem vierten Jahrhundert, der den angebotenen Tee nicht als solchen erkannt habe, was die Vermutung nahe legt, dass der Tee zu jener Zeit in manchen Gegenden noch ein exotisches Getränk war. In der Folgezeit gelangte er mit dem Buddhismus nach Nordchina, aber erst während der Tang-Dynastie (618–907), genauer im achten Jahrhundert, wird er zu einem relativ gängigen Produkt. Mit dem berühmten „Klassischen Buch des Tees“ von Lu Yu (733–804), der ersten von zahllosen Abhandlungen über den Tee, fasst er im achten Jahrhundert dann auch in der chinesischen Kultur Fuß. Und ebenfalls im achten Jahrhundert setzt sich das Schriftzeichen cha durch, mit dem der Tee noch heute bezeichnet wird. Von den fünftausend Jahren, von denen in den Handbüchern die Rede ist, sind wir also weit entfernt. Unbestritten bleibt dennoch, dass der Tee in China eine sehr viel längere Geschichte hat als in Europa, wo er erst Mitte des siebzehnten Jahrhunderts eingeführt wurde.
Unzählige Bücher und Zeitschriften, Nebenprodukte und eine große Schar von Kennern zeugen seit einigen Jahren – ähnlich der Önologie-Welle in Frankreich – von einem wieder auflebenden Interesse für die „Teekultur“. Gewiss ist diese „Tee(o)logie“, um ein nahe liegendes Wortspiel zu bemühen, auch eine Modeerscheinung und ein riesiger Markt. Uns interessiert hier jedoch ein anderer Aspekt des Phänomens, nämlich die Auffassung, dass die Teekultur mit der chinesischen Kultur im Allgemeinen gleichzusetzen sei. Der Tee wurde im wahrsten Sinn des Wortes zum „Nationalgetränk“ (guoyin) erhoben. Viele meinen, eine Wesensverwandtschaft zwischen dem Tee und dem chinesischen Volk zu erkennen. Natürlich geht es auch bei französischem Wein oder schottischem Whisky um Fragen der nationalen Identität. Trotzdem würde niemand so weit gehen, zu sagen, die „Weinkultur“ sei mit der französischen Kultur gleichzusetzen oder sei deren Inbegriff. In China erlebt man alle möglichen Versuche, den Tee mit den grundlegenden Aspekten der chinesischen Kultur, das heißt mit dem Nationalcharakter oder dessen Quintessenz, in Verbindung zu bringen.
So hat er mit der alten Malerei und Dichtung angeblich gemein, „fade“ oder „geschmacklos“ (dan) zu sein, wobei die deutschen Wörter zu negativ klingen, als dass sie die feinen, kaum merklichen Unterschiede beschreiben könnten, die für den Experten in chinesischer Ästhetik eine wesentliche Qualität von Kunstwerken darstellen.3
Auch zu Philosophie und Religion oder – grundsätzlicher – zur chinesischen Sicht auf die Welt und zum Leben in Gemeinschaft werden immer wieder Verbindungen hergestellt. So assoziiert man mit Tee häufig die Vorstellung von „Harmonie“ (he), wobei die entsprechenden Texte zwischen dem Einfachen und dem Komplexeren changieren: „Normalerweise vertragen Wasser und Feuer sich nicht, aber im Dao des Tees vertragen sie sich nicht nur, sie profitieren sogar voneinander.“4 Mit anderen Worten: Der Tee ermöglicht einen Ausgleich der Gegensätze. Zusammen Tee zu trinken bedeutet, dass man zumindest für einen Augenblick bereit ist, die Waffen niederzulegen. In manch einem Handbuch gerät der Ton auch etwas großspurig, wenn es etwa heißt: „Die Teekultur ist zu einer geistigen Kraft für jene Menschen auf der Welt geworden, die Ruhe und Frieden suchen, und in den internationalen Beziehungen spielt sie bereits eine wichtige Rolle.“5
Die Vorstellung von einem „Dao des Tees“ (cha dao – Weg des Tees), in dem sich praktische Gesichtspunkte wie guter Tee, gutes Wasser, richtiges Zubehör und richtige Zubereitung mit spirituellen Dimensionen verbinden, ist über tausend Jahre alt. Schon Lu Yu behauptete in seinem oben erwähnten Klassiker: „Wenn man sich dem Tee widmet und sich dadurch von Weisheit, moralischen Grundsätzen und Tugend erfüllen lässt, wenn man mit Hilfe des Tees seinen Charakter kultiviert und sich in rechtschaffenem Lebenswandel übt, wenn man über das Dasein nachdenkt, über die Wahrheit meditiert und sie sucht, sodass man geistiges Wohlergehen und sittliche Reinheit findet, dann erreicht man das höhere Reich des Tees: das Dao des Tees.“
Während es den Autoren von einst nicht um die Vorstellung von einer chinesischen Nation, sondern gewissermaßen um eine universelle Botschaft ging, stellen die heutigen Autoren in ihren diesbezüglichen Erörterungen einen starken Identitätsbezug her, wenn sie die Teekultur mit den ihrer Ansicht nach typischen beziehungsweise wesentlichen Zügen des chinesischen Nationalcharakters in Verbindung bringen.
Ein Autor behauptet von sich, er habe „den Tee in den Knochen“6 . Damit wird der Tee zu einer quasi biologischen Komponente der chinesischen Identität. Ein anderer meint: „Das Dao des Tees entspricht zutiefst der chinesischen Natur.“7 Er fragt sich, ob „man Chinese sein kann, ohne Tee zu trinken“8 . Viele Texte betonen, dass die schlichte Gewohnheit, Tee anzubieten, „in vollkommener Weise Kultur und Höflichkeit des chinesischen Volkes widerspiegelt“9 . Sie stehe in einem radikalen Gegensatz zum Westen, der „Feuer und Macht“ betone, während man China als friedlich, sanft und liebenswürdig, standhaft und hartnäckig beschreibt. Diese Eigenschaften treten sehr deutlich in den Vorstellungen vom goldenen Mittelweg und der Harmonie hervor, die für das konfuzianische Denken charakteristisch sind. „Der Tee passt, weil er sanft und friedlich ist, sehr gut zu diesen Eigenschaften.“10
Aus den gleichen Gründen sehen die Chinesen einen Gegensatz zwischen ihrem Dao des Tees und der japanischen Teezeremonie (chanoyu). Der Teegenuss in China „folgt nicht so starren Forderungen wie das japanische Dao des Tees. Aus der Sicht unserer chinesischen Lebensgewohnheiten entbehrt die japanische Art des Teetrinkens jeder Lebensfreude.“11 Die Japaner sind nach chinesischer Ansicht viel zu formalistisch, viel zu rigide, sie verlieren das Wesentliche aus den Augen: „Wir Chinesen finden, dass die künstliche (japanische) Art des Teetrinkens eine leere Form ist, das Ziel sollte es aber sein, das innere Wesen zum Ausdruck zu bringen.“12 Das hören die Japaner bestimmt gern.
Noch peinlicher ist es, wenn der Tee als nationaler Kitt herhalten muss, als Mittel zur Überbrückung der Unterschiede beziehungsweise Gegensätze zwischen Han-Chinesen und Nicht-Han-Chinesen: „Die 56 Ethnien der Volksrepublik China haben alle eine tiefe gefühlsmäßige Beziehung zum Tee. Das erklärt sich vielleicht daraus, dass alle von den mythischen Herrschern Yandi und Huangdi abstammen und durch Blutsbande vereint sind.“13 Allerdings schließt dieses Harmoniestreben hierarchische Abstufungen nicht aus. Viele Autoren behaupten, die Art des Teekonsums bei manchen Ethnien – die ihn zum Beispiel mit anderen Zutaten mischen – entspreche einem primitiven Stadium der Teekultur. Die Han-Chinesen, die den Tee ohne Zusätze trinken, stehen nach dieser Lesart natürlich auf der höchsten Stufe dieser Kultur.
Es ist interessant, diese Instrumentalisierung des Tees in den gegenwärtigen politischen Kontext zu stellen. Seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts schwankt die politische Orthodoxie zwischen einer revolutionären Ideologie, die eine mehr oder weniger totale Ablehnung der Vergangenheit voraussetzt, und einem nationalistischen, die Größe der „nationalen“ Geschichte betonenden Diskurs. Seit Ende der Siebzigerjahre sind in China die Vorstellungen von der großen Revolution auf dem Rückzug, und die Machthaber stützen sich mehr und mehr auf einen nationalen, wenn nicht nationalistischen Diskurs, um ihre Autorität zu untermauern und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu festigen oder einfach die wahren Probleme vergessen zu machen. Diese Strategie bedient sich des Nationalstolzes und geht mit einer Aufwertung alter Traditionen und Wertvorstellungen einher – zu denen auch die Teekultur gehört. Was sich nicht zuletzt deshalb anbietet, weil manche dieser Wertvorstellungen, besonders die konfuzianischen, in einer Gesellschaft ohne moralische Anhaltspunkte als Moralersatz taugen.
deutsch von Sigrid Vagt
* Professor an der Universität Genf.