08.10.2004

Realer Sozialismus, der keiner war

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Realer Sozialismus, der keiner war

Die Kommunistische Partei Chinas hat das Land seit der Revolution 1949 permanent umgebaut. Dabei waren ihr die realen Interessen stets wichtiger als ideologische Positionen.

Von ROLAND LEW *

ALLENTHALBEN verkünden die Prognosen: Schon 2025 wird die aufsteigende Wirtschaftsmacht China es als einziges Land mit den USA aufnehmen können. Manche Experten meinen, dass China bis spätestens 2050 die gesamte EU überholt haben wird. Die chinesische Wirtschaftskraft wird lauthals gerühmt, gegenteilige Stimmen finden kaum Gehör.

Es ist unbestreitbar, dass sich Chinas Staat und mehr noch die Kommunistische Partei – eine Bezeichnung, die tagtäglich widersinniger wird – als beständiger erwiesen haben, als angesichts der vielen erkennbaren Schwachstellen zu erwarten war. Man brauchte damals kein Hellseher zu sein, um vorauszuahnen, dass die Zeit nach 1976 als Nach-Mao-Ära – wie auf andere Weise die sowjetische Nach-Stalin-Ära – eine Phase der Entmaoisierung sein würde. Dafür sprach schon die negative Regierungsbilanz, vor allem in der Zeit der Kulturrevolution. Doch zwischen dem, was man sich unter „Entmaoisierung“ vorstellte, und dem, was tatsächlich geschah, liegen Welten. Niemand konnte eine derartige Entwicklung vorausahnen, schon gar nicht unter Führung der KP.

Zu Beginn der Wende um 1978 musste sich die Reformbewegung um Deng Xiaoping1 zwischen gefährlichen Klippen und vielfältigen Widerständen hindurchlavieren. Sie schien richtungslos und bisweilen chaotisch, sodass wachsende Spannungen innerhalb der Partei wie auch zwischen Führung und Bevölkerung erwartet wurden. Doch tatsächlich erlebte das Land nur eine einzige dramatische Krise, die vom Frühjahr 1989 auf dem Tiananmen-Platz, die eine reale Legitimitätskrise war: Denn Teile der Studentenschaft und der städtischen Bevölkerung brachten ihre Ablehnung der fortdauernden autoritären Ordnung und der Korruption in massenhaften Demonstrationen zum Ausdruck.2 Damals ging es den Machthabern um zweierlei – um die Überwindung einer kritischen Phase des wirtschaftlichen Reformprozesses und um die Stärkung ihrer diktatorischen Logik. Diese Logik wurde anfänglich mit repressiver Gewalt, doch alsbald flexibler und geschickter durchgesetzt.

Um die Reformen zu bewerkstelligen, setzte die Regierung auf die erprobten autoritären Methoden, vor allem auch, weil sie mithilfe ihres Gewaltmonopols – also mit der Armee im Rücken – hart um ihr politisches Überleben kämpfte. Doch dass ihr dies gelang, lag nicht zuletzt daran, dass Teile der städtischen Bevölkerung sie unterstützten, sodass sie den autoritären Weg beibehalten konnten, der ja eine lange Tradition hat. Hinzu kam, dass sich die bäuerliche Bevölkerung, die die für die Repression benötigten Milizionäre stellt, weitgehend neutral verhielt. Nach und nach gewann die Partei auch die Unterstützung der vom wirtschaftlichen Reformkurs profitierenden städtischen Gesellschaftsschichten zurück und schließlich sogar Sympathien bei Teilen der Intelligenz. Vor allem entstanden eine Mittelschicht und eine neue bürgerliche Klasse von Unternehmern, die unter Mao Tse-tung zerschlagen worden war und jetzt erneut aufgewertet und in die Partei integriert wurde. Inzwischen ist die chinesische Regierung zwar nicht unbedingt beliebt, kann sich aber auf eine wirkliche gesellschaftliche Basis stützen.

Eine solche Entwicklung, einen derartigen Sprung nach vorn hätte niemand der Kommunistischen Partei zugetraut. Das lag großenteils daran, dass man aus ihrer „Identität“ nicht schlau wurde. Lange Zeit hat man verkannt, in welchem Ausmaß die Kommunistische Partei in ihren Beweggründen und Zielen sowie in der eigenen Geschichte bereits seit den 30er-Jahren von nationalistischen Ideen geprägt ist. Diese nationalistische Dimension erklärt die Entwicklung der chinesischen KP weit besser als der Kommunismus, der als rein ideologische Drapierung diente. Für China steht also noch eine ähnliche Analyse aus, wie sie Moshe Lewin für die Sowjetunion der Stalinära geleistet hat:3 Eine Analyse, die sich von den – sozialistischen – Selbstansprüchen der Partei löst, ja diese ignoriert. Statt wie in der Vergangenheit die Bestätigung der positiven oder negativen Haltung zu erforschen, sollte man sich endlich bemühen, den originären Charakter des Regimes zu erfassen.

Im Fall Chinas – Ähnliches gilt auch für andere Länder wie Vietnam – hatte sich im Kommunismus ein revolutionärer Nationalismus verpuppt, der mit einer anderen Form des Nationalismus, der Kuomintang4 , rivalisierte. Dieser Kommunismus ist nationalistisch, denn es geht ihm darum – wie die seit den 1920er-Jahren geltende Parole lautet –, die Nation den imperialistischen Räubern zu entreißen, sie zu verteidigen um letztlich ihre Einheit wiederherzustellen. Diesem dramatischen Gebot der Stunde zu folgen war damals die wirksamste, ja vielleicht die einzig mögliche Methode, die Nation tief greifend zu mobilisieren und vor allem ihre aktivsten Kräfte zu gewinnen (die hauptsächlich in den Städten, insbesondere unter den Intellektuellen zu finden sind).

Man kann sich darüber streiten, ob der chinesische Kommunismus von Anfang an nationalistisch war. Fest steht jedoch, dass eine der Grundpositionen, mit denen die Partei seit 1937 immer mehr Anhänger gewann, der legitime Befreiungskampf gegen den japanischen Aggressor war. Und dieses Konzept war tatsächlich revolutionär, denn um das proklamierte Ziel zu verwirklichen, musste das Land umgestaltet werden, und zwar nach dem Vorbild jenes industriellen Westens, den man aus dem Land jagen und gleichzeitig nachahmen wollte. Hierzu bedurfte es der Mobilisierung der Volksmassen – eine unerhört neue Theorie und Praxis, die einen revolutionären Bruch markierte und traditionelle, bei den Eliten tief verwurzelte Werte und Verhaltensweisen in Frage stellte. Der Staat sollte als alleiniger Motor dieses Projekts in sozialer wie ökonomischer Hinsicht den Wandel in die Wege leiten, wozu es einer Partei bedurfte, die straff organisiert und zentralisiert war, von einer Mobilisierungsideologie durchdrungen und fest entschlossen, die inneren und äußeren Feinde zu besiegen. Auf diese Weise geriet das allgemeine Programm unter den Einfluss des Leninismus und orientierte sich am sowjetischen Beispiel, insbesondere dem der Stalinzeit.5

Das nationalistische Primat, samt der antiimperialistischen Dimension und dem Willen zur westlichen Modernität, erforderte einen Pragmatismus, der mit der kommunistischen Ideologie kaum vereinbar ist. So entstand bereits früh eine Fixierung auf Ziele wie den Anschluss der Äußeren Mongolei an die künftige Volksrepublik, dem sich Stalin schon vor 1949 widersetzte, und vor allem den immer wieder formulierten Anspruch auf Taiwan.6

Um den „realen Sozialismus“ chinesischer Prägung zu verstehen, muss man zur Kenntnis nehmen, dass die neuen revolutionären Eliten sich lange vor 1949 in der chinesische KP breit machten. Diese Eliten hatten keine Verbundenheit mit den Volksmassen und verschafften sich rasch gesellschaftliche Privilegien, anfangs noch in bescheidenem Maßstab. Doch den Bauern entging diese Entwicklung ebenso wenig wie die Entstehung der neuen gesellschaftlichen Hierarchien, die wachsende Bedeutung der Parteikader und der Status des Großen Vorsitzenden Mao Tse-tung. Mao und Stalin besaßen die gleiche despotische Logik: Ihre Motive oder – um es deutlich zu sagen – ihre launenhaften und manchmal aberwitzigen Beschlüsse liefen bisweilen den nationalen Erfordernissen zuwider, doch am Ende wurden sie diesen dann doch gerecht. Der Tyrann konnte sich zahllose absurde Entscheidungen leisten und völlig willkürlich Leiden verordnen, doch auf Dauer konnte er den Pakt, den er mit dem Volk eingegangen war, nicht brechen. Und dieser verpflichtete ihn auf die Verteidigung der Nation und darauf, dass die Modernisierung des Landes als wirksamste Methode dieser Verteidigung anzusehen sei.

Alles Weitere (sprich: ein Großteil der neuen emanzipatorischen Ziele, die man dem westlichen Sozialismus entlehnt hatte – wie Demokratie oder „Volksmacht“) wurde bald als zweitrangig oder gar als lästig angesehen. Deshalb verfolgte das Regime gewaltsam jene Minderheiten, die sich für die pluralistischen Ideen aus dem Westen empfänglich zeigten und an der revolutionären Bedeutung der Volksbefreiung festhielten. Auch Mao selbst hat dieses Konzept, das er in den Zwanzigerjahren vertreten hatte, sehr schnell aufgegeben, etwa die Forderung nach „Selbstbefreiung der bäuerlichen Massen“.

Der „reale Sozialismus“ ist eine historische Erfindung, für die es immer noch keinen treffenden Namen gibt, obwohl sie bereits zu Grabe getragen wurde. Seine Geschichte beginnt in der Sowjetunion mit der Machtergreifung durch die Bolschewisten, die ihre politische Praxis sehr rasch den realen Machtverhältnissen anpassten. Man denke nur an die Kehrtwende im Staatsverständnis: von der noch 1917 von Lenin (in „Staat und Revolution“) emphatisch vertretenen Ablehnung des Staatsmacht zum autoritären und den Massen misstrauenden Staatssozialismus, wie er schon 1918 ausgerufen wurde. Ganz zu schweigen von der Verfolgung realer (durchaus vorhandener) wie eingebildeter Feinde. Dieser Richtungswechsel mündete in eine „Nationalisierung“, also in die Beschränkung des Kommunismus auf Russland, die Stalin entgegen der internationalistischen Tradition des Bolschewismus schon vor seinem Machtantritt verfocht. Bei den anderen kommunistischen Experimenten, die nicht von außen aufgezwungen wurden – wie in Osteuropa –, sondern das Resultat interner Kämpfe waren – wie in Jugoslawien, China, Vietnam oder Kuba –, hatten die Kommunisten bereits auf die nationalistische Karte gesetzt, bevor sie an die Macht gelangten – und mit dem gewünschten Erfolg.

Der „reale Sozialismus“ chinesischer Prägung ist in Wirklichkeit eine historische Variante des Nationalismus, eine neuartige Form der Modernisierung, die man vom (sowohl kapitalistischen wie sozialistisch-antikapitalistischen) Westen übernahm. Insbesondere übernahm man die Organisierung der Massen und die mobilisierende Kraft des Nationalismus – die beide im Grunde Produkte des 19. Jahrhunderts sind. Dieser Nationalismus ist staatsautoritär und antidemokratisch, was zum einen mit der damaligen Kriegssituation zu tun hat, zum anderen von einer älteren Tradition herrührt, der pluralistische und demokratische Ideen fremd waren. Das Emanzipationsstreben des breiten Volkes konnte nur in dem Maße Gestalt annehmen, als es mit der Logik des Parteistaates und dem Machtstreben der Nation vereinbar war. Eine reale, begrenzte gesellschaftliche Emanzipation kann gemäß dieser Logik nur von oben kommen.

Im Falle Chinas war der nationalistische Imperativ so übermächtig, und die Katastrophen des 19. und 20. Jahrhunderts hatten so viele Wunden hinterlassen, dass die kommunistischen Eliten gezwungen waren, völlig unabhängig von den Dogmen und Erklärungen des Regimes eine große Anpassungsfähigkeit zu entwickeln. Das zeigt sich am deutlichsten bei der wichtigen Frage des Marktes, den Stalin wie Mao gleichermaßen ablehnten. In Wahrheit hat diese Frage die ganze Geschichte des „realen Sozialismus“ begleitet – eine Debatte, die mal offen, mal verklausuliert geführt wurde. Und in beiden Ländern, in Volkschina wie in Sowjetrussland, hat es stets einen Markt gegeben, einen informellen, illegalen oder geduldeten Markt, was offiziell allerdings mehr oder weniger heftig bestritten wurde. Die Problematik war stets präsent und wurde, wo die Bedingungen es zuließen, auch zum Thema (partei-)öffentlicher Auseinandersetzungen. Der marktwirtschaftliche Sozialismus ist also keine Entdeckung der Deng-Xiaoping-Ära. Ähnliches hatte es schon in der UdSSR gegeben, von Bucharin bis zu den Debatten der Sechzigerjahre, aber weniger offen auch in China.

Gerade das, was historisch die Stärke und den Erfolg des modernisierenden und mobilisierenden Nationalismus der KP ausgemacht hatte, hatte Zug um Zug den „realen Sozialismus“ abgewandelt und schließlich de facto zu dessen Abschaffung geführt. Die Herausforderungen und Gefahren, denen sich das Land und seine Führungselite jüngst zu stellen haben, lösen ganz ähnliche Reaktionen aus wie in der Vergangenheit: Man stößt Veränderungsprozesse an, um die Herrschaft über das Land zu sichern und den langen Marsch zur Großmacht erfolgreich fortzusetzen. Diese Absicht wird heute immer offener zugegeben.

Das Ziel der „Reformen“ von Deng Xiaoping – den „realen Sozialismus“ zu revitalisieren – hat ein anderes Modell am Horizont auftauchen lassen. Demnach will sich das neue China im Grunde in das siegreiche System des globalen Kapitalismus einordnen, dabei aber zum einen die nationale Unabhängigkeit möglichst weitgehend bewahren und zum andern die dominierende Rolle des Staates und der ihn tragenden Partei absichern. Das Umdenken fiel den Eliten nicht leicht, was einige der Irritationen in der Deng-Xiaoping-Ära erklärt. Doch der Überlebenstrieb und die Flexibilität vieler Funktionäre, die sich schon längst nicht mehr an ideologischen Dogmen orientierten, machte die Umgestaltung leichter als erwartet.

Die zweite Überraschung kam aus der Gesellschaft selbst. Die auf Mao folgende Führungselite übernahm eine soziale Trümmerlandschaft (vor allem in den Städten) mit einem traumatisierten Volk, das die Kulturrevolution mit ihrer repressiven Gewalt und ihren oftmals unverständlichen Zielen hinter sich hatte. Die Arbeiterschaft hatte sich auf die Industrieorte zurückgezogen,7 wo sie nach dem Konzept der Danwei (der Gesellschaften im Miniaturformat) in kleinste Arbeitseinheiten aufgesplittert war. Als das Land nach dem Ende der Mao-Ära begann, die politische Öffnung insbesondere zu den USA anzustreben und auch eine wirtschaftliche Öffnung anzubahnen, war es für viele Kader eine schockierende Erkenntnis, wie schwach die Position Chinas gegenüber seinen potenziellen Gegnern in Asien und im Westen war. Der Wandel war überfällig. Die Aufgabe war zwar eine durchaus heikle, stellte sich jedoch, zumindest für die Parteioberen, als lösbar heraus – und zwar ausgerechnet wegen der äußerst disparaten Resultate der maoistischen Modernisierung: Das Land war zwar erstarrt, hatte sich aber vor allem in den Städten schon zu sehr verändert, um sich Stagnation leisten zu können.

Viele Beobachter machen den Fehler, die Veränderungen der ersten 25 bis 30 Jahre der Mao-Ära zu übersehen und die aktuellen Erfolge allein auf die letzten 25 Jahren zu verbuchen. Die Mao-Jahre waren teils gewiss erratisch und grausam – man denke nur an die allgemeine Armut und die Repression zur Zeit des Großen Sprungs nach vorn (1957–1961) –, doch in dieser Zeit entstanden auch die Grundlagen für ein gesellschaftlich und wirtschaftlich moderneres China, vor allem in den Städten. Vor dem Hintergrund dieses neuen China erscheint Mao (wie seine Kampfgefährten) als überholt, weil er zu diktatorisch und in seinen Visionen zu stark rückwärts gewandt war. Der Wille zur Modernität wie das Bestreben der Parteikader, stabilere Strukturen aufzubauen, gerieten in Widerspruch zu einem despotischen Willkürregime. Darin ähnelte das China der Nach-Mao-Ära durchaus der Sowjetunion nach Stalin, wobei dieser Prozess in beiden Fällen schon zu Lebzeiten der Gewaltherrscher untergründig eingesetzt hatte. Es ist kein Zufall, dass der Maoismus aus dem Innern der Partei heraus liquidiert wurde, und im Grunde konnte es auch – wie im sowjetischen Falle – gar nicht anders sein.

Gegen Ende der Mao-Ära hatte es den Anschein, als sei das terrorisierte Land auf allen gesellschaftlichen Ebenen erstarrt. In Wirklichkeit schlugen sich die Menschen in allen Bereichen schlecht und recht durch, indem sie passiv auf bessere Tage warteten oder sich individuell auf eine andere Zukunft vorbereiteten. Selbst die gigantischen Bauernmassen, die scheinbar gehorsam die widersprüchlichsten Direktiven befolgt hatte, gingen ihre eigenen Wege und hielten eine bemerkenswerte Distanz zum Regime, die sie bei allen möglichen Anlässen demonstrierten.

Obwohl von der chinesischen KP streng kontrolliert und gegängelt, bewies diese Gesellschaft eine doppelte Fähigkeit: zum einen die, die traditionellen Werte gegen modernere Zielsetzungen der Regierung zu verteidigen, zum anderen jene, sich auf neue Entwicklungen selbst dann einzulassen, wenn die Machthaber auf die Bremse traten. So hielten die Bauern einerseits an Werten wie Familie und Klan wie auch an Traditionen und verbotenen religiösen Überzeugungen fest. Andererseits aber trieben sie ganz unauffällig den schon vor 1949 eingeleiteten Veränderungsprozess voran und brachten damit eine zügige Wende auf dem Land in Gang, die zugleich eine Rückwendung zum und eine Abkehr vom alten China bedeutete. Das gilt noch stärker für die Städte: Hier entwickeln sich hinter der scheinbaren Einförmigkeit des Lebens und Denkens bedeutsame soziale Differenzierungen, hier wächst vor allem bei jungen Leuten die Neigung zum Individualismus, hier entstehen neue unternehmerische Fähigkeiten, neue Familienstrukturen und neue Formen des Umgangs zwischen Männern und Frauen. Und all diese Entwicklungen kamen mittels, trotz und jenseits des Systems in Gang. Noch bezeichnender war die Anpassungsfähigkeit der Parteikader. Sie hatten bisher so gut wie keine Entscheidungsbefugnisse und lebten in einer streng hierarchisierten Befehlsstruktur; doch auch sie haben eine eigene, komplexe und wandlungsfähige Gesellschaft herausgebildet: eine herrschende Klasse, die ihren Beruf gelernt hat.

Diese vielfältige Dynamik in allen Bereichen der Gesellschaft steht in auffälligem Kontrast zu einer (außerhalb der Eliten) bis heute verbreiteten allgemeinen politischen Passivität. Zur aktiven Teilnahme an der Politik bedarf es eines Lernprozesses, der gewiss langwierig und schmerzhaft sein wird. Denn der Maoismus war nicht nur diktatorisch und demokratiefeindlich, er zielte bewusst und von Anfang an auf die Fragmentierung der Gesellschaft und insbesondere der Arbeiterklasse. All seinen Parolen zum Trotz war das Mao-Regime, wie das von Stalin und seinen Nachfolgern, zutiefst entpolitisierend. Es hat die antidemokratischen Tendenzen verfestigt, ja sogar verschärft und das Volk genauso ausgeschlossen wie die Regime vor ihm.

Das erklärt womöglich den aktuellen Kontrast zwischen der Anpassungsfähigkeit der flinken Eliten und der Schwäche und Duldungsbereitschaft der vielen. So strömen etwa schon seit Jahren zig Millionen Bauern in die Städte, anfangs ohne, später mit Erlaubnis des Regimes und neuerdings im Einklang mit den neuen Zielvorgaben der Regierung, die eine teilweise Reduzierung der Landbevölkerung anstrebt.

Auch Millionen von Städtern versuchen sich im Kleinhandel und mit privaten Geschäften, andere nutzen die wachsenden Freiräume zu künstlerischer oder geistiger Betätigung, jenseits der offiziellen Dogmen des Marxismus-Leninismus-Maoismus, denen man aber noch ab und zu Reverenz erweisen sollte. Andererseits driften aber auch Millionen in die Arbeitslosigkeit damit in die neue Armut ab, oder sie schlagen sich mit allen möglichen Gelegenheitsjobs durch.

Dieses kapitalistische, geschäftstüchtige China ist mittlerweile so inegalitär geworden, dass es die ersten Dollarmilliardäre hervorbringt und daneben eine neue städtische Massenarmut, während die Menschen in entlegenen Regionen nach wie vor in unsichtbarer und zuweilen bitterster Armut leben, als gäbe es überhaupt kein Wirtschaftswachstum.

Die starke gesellschaftliche Dynamik bei gleichzeitigen sozialen Gegensätzen und die politische Ohnmacht machen verständlich, warum sich das Regime trotz größerer Revolten (wie der von 1989) und der in den Städten wie auf dem Land häufigen, aber nur selten gewalttätigen Unruhen im Sattel halten und den Veränderungsprozess weiter vorantreiben konnte. Noch beeindruckender ist, dass es bislang auch die nicht einkalkulierten Folgen seiner Reformen bewältigt hat, auch wenn dies nicht ohne weiteres möglich schien.

In Anbetracht dieser Umstände haben sich Staat und Partei als erstaunlich robust erwiesen. Zwar mussten die Machthaber den Erwartungen und dem Druck aus der Gesellschaft zum Teil nachgeben und vor allem auf die Initiativen und Interessen der regionalen und örtlichen Kader sowie der neuen gesellschaftlichen Akteure eingehen. Dabei haben sie jedoch auf die (ohnehin unmögliche) totale Überwachung des ideologischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Geschehens – sprich auf die totalitär genannte Logik – verzichtet, um nur die großen Leitlinien und die wichtigsten Instrumente ihrer Durchsetzung vorzugeben. Das hat bislang unerwartet gut funktioniert, wobei man sich natürlich das Monopol für die Repressionsinstrumente erhalten hat, die man nach wie vor nach Gutdünken einsetzen kann.

Die gegenwärtigen Erfolge sind keine Garantie für die Zukunft. Seit zehn oder fünfzehn Jahren gibt es unverändert dieselben Probleme: die Unzufriedenheit unter den Bauern, die vom chinesischen Wirtschaftswunder nichts abbekommen haben (von den fetten Jahren zu Beginn der Reform einmal abgesehen); die zugespitzte soziale Frage in den Städten (zugewanderte Bauern, Arbeitslosigkeit und teils hemmungslose Ausbeutung durch das einheimische und das ausländische Kapital); ungelöste Umweltprobleme (auch wenn Partei und Regierung diese mittlerweile ernster nehmen); eine unzulängliche Energie- und Lebensmittelversorgung; die wachsende Arroganz der neuen Reichen und der neuen Parteieliten; die immer noch grassierende Korruption usw.

China steht heute ganz sicher selbstbewusster als je zuvor in seiner neueren Geschichte da. Aber noch ist ungewiss, ob das Land je die stabile und gut funktionierende Großmacht sein wird, die sich viele erhoffen und die andere befürchten. Für das Land, und vor allem für seine Eliten, ginge damit ein Traum in Erfüllung, der sie für die verheerenden Desaster der jüngeren Vergangenheit entschädigen würde. Dabei wird China der Welt beweisen müssen, dass es sich nicht damit zufrieden gibt, zu einer „anderen Supermacht“ aufzusteigen.

deutsch von Josef Winiger

* Mitherausgeber von „Siècle des Communismes“, 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, Paris (Seuil, Points) 2004.

Fußnoten: 1 Deng Xiaoping (1904–1977), lange Zeit bedingungsloser Mao-Anhänger, bezog nach dem „Großen Sprung nach vorn“ eine kritischere Position und wurde von Mao Tse-tung während der Kulturrevolution kaltgestellt. 2 Siehe Wang Hui, „Postmaoistischer Staat und Neoliberalismus in China. Stark sein an zwei Fronten“, Le Monde diplomatique, April 2002. 3 Siehe Moshe Lewin, „Le siècle soviétique“, Paris (Fayard) 2003; und: „Rückblick auf ein Kapitel Sowjetgeschichte. Reformkommunist Juri Andropow“, Le Monde diplomatique, März 2003. 4 Im Jahre 1912 von Sun Yat-sen gegründete Partei. Nach dessen Tod (1925) übernahm Tschiang Kai-schek (1887 bis1975) die Führung der Partei. Er schwor sie auf die Einheit des Landes ein, zunächst gegen den japanischen Eroberer, dann gegen die Kommunisten. 5 Zwischen der KP Chinas und Stalin kam es schon 1949 zu Auseinandersetzungen über die Frage der nationalen Interessen; bis zum offiziellen Bruch mit der UdSSR Anfang der Sechzigerjahre, blieb dieser Konflikt allerdings geheim. 6 Die Insel kam 1683 zu China. 1895 wurde sie von den Japanern annektiert, 1945 zurückgegeben. Nach dem Sieg der Kommunisten im Jahre 1949 wurde sie zum Refugium der Nationalisten um Tschiang Kai-schek. 7 Zu diesem Thema gibt es den sehr schönen Dokumentarfilm von Wang Bing, „West of Tracks“, China 2003. 8 Moshe Lewin, „La formation du système soviétique“, Paris (Gallimard) 1987, besonders die Kapitel 11 und 12.

Le Monde diplomatique vom 08.10.2004, von ROLAND LEW