Militärbasen, Pipelines und Grenzverläufe
Von PETER BÖHM *
ALS am 16. September der kirgisische Präsidialbeauftragte für Regionale Angelegenheiten, Salamat Alamanow, bekannt gab, dass die Demarkierung der kirgisisch-chinesischen Grenze abgeschlossen ist, hörte kaum einer mehr hin – obwohl genau diese Grenze im Sommer 2002 der Anlass für die bisher schwerste Krise der jungen kirgisischen Nation gewesen war.
Die Grenze zwischen der UdSSR und China war jahrzehntelang dicht, und sie wurde auch nie genau demarkiert. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gingen die Nachfolgestaaten jedoch daran, die Grenzverläufe festzulegen. In den Jahren 1996 und 1999 schloss der kirgisische Präsident Askar Akajew zwei Grenzabkommen mit China, die sein sonst handzahmes Parlament jedoch nicht absegnen wollte. Die Vereinbarung sah vor, dass Kirgistan seinem Riesennachbarn im Osten 1 270 Quadratkilometer überlässt.
Um welches bzw. welche Gebiete es sich handelt, ist Staatsgeheimnis – ohnehin verläuft die Grenze vollständig im Hochgebirge –, aber der Aufschrei in Kirgistan war groß. Die Regierung reagierte mit der Festnahme des Vorsitzenden des zuständigen Parlamentskomitees, Asimbek Beknasarow. Der renitente Politiker wurde wegen eines Vergehens, das mehr als sieben Jahre zurücklag, vor Gericht gestellt und auch verurteilt. Als die Polizei im März 2002 auf eine der zahlreichen Demonstrationen gegen das Urteil im Fall Beknasarow das Feuer eröffnete, wurden 5 Menschen getötet und weitere 90 verletzt. In diesem Sommer 2002 gab es praktisch jede Woche Demonstrationen gegen die Regierung.
Sobald in den asiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken von China die Rede ist, gehen die Emotionen hoch. Wenn, wie im August geschehen, ein 800 Hektar großes Gelände am Südufer des kirgisischen Issykulsees auf 49 Jahre an ein chinesisches Unternehmen verpachtet wird – das dort Erholungsanlagen errichten will –, kommt es zu Demonstrationen, und der Abgeordnete Beknasarow spricht von einer „offenen Expansion auf kirgisisches Territorium“.1 Wenn die chinesische Zeitung People’s Daily meldet, 3 000 chinesische Bauern dürften in einem kasachischen Oblast Soyabohnen anbauen, muss das kasachische Außenministerium gleich eine Pressekonferenz abhalten, um die Meldung zu dementieren.
Dass China in Zentralasien oft als Bedrohung wahrgenommen wird, ist einerseits noch ein Erbe der sowjetisch-chinesischen Rivalität. Andererseits hat es aber natürlich auch mit der schieren Größe Chinas, seiner Bevölkerungzahl und seiner dynamischen Wirtschaft zu tun. Aber auch in China hatte man bis vor kurzem eine negative Wahrnehmung von den zentralasiatischen Ländern. Dieses Bild von bedrohlichen Nachbarn beginnt sich erst seit kurzem zu wandeln. Nach der Unabhängigkeit galten diese Länder zunächst als Hort islamischer Extremisten, inzwischen jedoch sind sie für China äußerst wichtig, weil sie den rapide wachsenden Rohstoffbedarf seiner Wirtschaft, vor allem an Erdöl und Gas, befriedigen sollen.
Chinas Westprovinz Sinkiang gehörte viele Jahrhunderte zum gemeinsamen kulturellen Raum der Turkvölker. Bis zur Einwanderung vieler Han-Chinesen in den vergangenen fünf Jahrzehnten lebten dort fast ausschließlich Uiguren, die wie die Nachbarn im Westen Muslime sind und eine Turksprache sprechen. Deshalb ist Sinkiang aus Pekinger Sicht ein potenzieller Unruheherd, und die chinesische Politik gegenüber den zentralasiatischen Nachbarn zielt vor allem darauf ab, die Autonomiebestrebungen der Provinz im Keim zu ersticken.
Als 1996 die Taliban in Kabul einmarschiert waren, lud China zum ersten Mal Russland und die drei zentralasiatischen Staaten Kirgistan, Kasachstan und Tadschikistan zu gemeinsamen Beratungen nach Schanghai ein. Auf der Tagesordnung standen nur zwei Themen: die Gefahren des Terrorismus und der Drogenschmuggel. 2001 wurde diese „Schanghai-Gruppe“ um Usbekistan erweitert.
Heute hat sie sich zu einer durchaus ambitionierten Regionalorganisation entwickelt, die jedes Jahr ein Treffen auf der Ebene der Staatschefs abhält und erstmals seit vergangenem Jahr gemeinsame Militärmanöver abhält, die in Zukunft regelmäßig stattfinden sollen. Beim jüngsten Treffen im Juni hat China versucht, die Schaffung einer Freihandelszone als langfristiges Ziel festzuschreiben. Doch die zentralasiatischen Länder werden sich angesichts der vielen billigen chinesischen Exporte wohl noch gut überlegen, ob dieses Projekt in ihrem Interesse liegt.
Seit die USA im im Gefolge des 11. September 2001 in Usbekistan und Kirgisien jeweils eine Militärbasis einrichteten, hat die Schanghai-Gruppe für China jedoch einen weiteren wichtigen Aspekt hinzugewonnen: Man will gemeinsam mit Russland den Einfluss der USA möglichst in Grenzen halten. Umgekehrt können die zentralasiatischen Länder die drei in Zentralasien bestimmenden „Großmächte“ gegeneinander ausspielen. Zum Beispiel hat das Vier-Millionen-Einwohner-Land Kirgisien ein Stück Territorium an China abgeben müssen, zugleich aber nicht nur der US-Armee, sondern im Sommer 2003 auch den Russen eine Basis zur Verfügung gestellt – die nur 30 Kilometer vom Stützpunkt der GIs entfernt liegt.
Viel wichtiger für China sind aber die Öl- und Gasvorkommen Zentralasiens. Nach einem Jahrzehnt der wilden Spekulationen ist zwar inzwischen klar, dass sich die Reserven rund um das Kaspische Meer nicht mit denen des Mittleren Ostens messen können – nach Expertenmeinung machen sie nur etwa 10 Prozent davon aus –, aber sie reichen dennoch aus, um sich etwas Unabhängigkeit von der Krisenregion des Mittleren Ostens zu erkaufen.
Bis 1995 gehörte China noch zu den Öl exportierenden Nationen, inzwischen ist es nach den USA und Japan weltweit der drittgrößte Importeur. Nach Angaben des chinesischen Finanzministeriums wird das Land ab dem Jahr 2010 jährlich 120 Millionen Tonnen Rohöl importieren müssen. Das ist doppelt so viel wie 2002. „China hat keine strategische Ölreserve“, sagt Matthew Oresman vom „Center for Strategic and International Studies“. „In gewisser Weise ist eine Pipeline aus Kasachstan fast eine Notwendigkeit nationaler Sicherheit.“2 Das gilt umso mehr, seitdem wegen des Vetos der russischen Regierung das Projekt einer Pipeline aus Sibirien nach China gestorben zu sein scheint – sie wird nun stattdessen den japanischen und koreanischen Markt versorgen.
Entsprechend entschieden ist China deshalb in Kasachstan aufgetreten. Die mittelasiatische Republik wird in zehn Jahren, wenn es seine Fördermenge verdreifacht hat, zu den fünf größten Erdölexporteuren der Welt gehören. Einen Anteil am Hauptgewinn, dem Kashagan-Ölfeld, das als größte Entdeckung der letzten 30 Jahre gilt, hat die chinesische staatliche Ölgesellschaft CNPC jedoch vergeblich zu erwerben versucht. Stattdessen hat sie Beteiligungen an kleineren Ölfeldern in Kasachstan gekauft und auch einige am gegenüberliegenden Ufer des Kaspischen Meeres, in Aserbaidschan.
Nach China bringen wird das Öl eine rund 3 000 Kilometer lange Pipeline. Der erste, 500 Kilometer lange Teilabschnitt im Westen Kasachstans ist bereits seit Anfang des Jahres in Betrieb. Der zweite, fast 1 000 Kilometer lange Abschnitt wurde Ende September begonnen. Die über zwei Milliarden US-Dollar Baukosten werden allein mit staatlichen chinesischen Geldern finanziert. Geplant ist, dass 2006 schon das erste Öl fließen wird.3
© Le Monde diplomatique, Berlin
* Der Autor berichtet für deutschsprachige Medien aus Zentralasien mit Sitz in Taschkent.