Böse Geister und Chrysanthemen
Die Atmosphäre zwischen den Erzrivalen Japan und China ist so spannungsgeladen wie eh und je. In China haben die Machthaber auf die nationalistische Karte gesetzt, um von Problemen abzulenken, in Japan ist man gern stolz, Japaner zu sein.
Von CLAUDE LEBLANC *
KEIN Zweifel: Wenn der Sport, wie die Soziologen behaupten, ein Spiegel der Gesellschaft und ihrer Frustrationen ist, stellen die Ereignisse, die sich am 7. August 2004 innerhalb und außerhalb des Pekinger Arbeiterstadions zugetragen haben, eine Wende in den Beziehungen zwischen China und Japan dar. An diesem Tag trafen die Fußball-Nationalmannschaften beider Länder im Endspiel des Asien-Cups aufeinander. Schon die Begegnungen der Vorrunde, in denen Titelverteidiger Japan sich für das Finale qualifizierte, waren von zahlreichen Zwischenfällen überschattet. Das gilt vor allem für die Spiele in Chong Ching im westlichen Zentralchina. Immer wieder äußerte sich die Feindseligkeit des chinesischen Publikums nicht nur in Pfiffen, wie sie bei solchen Spielen üblich sind, sondern in ausgesprochen antijapanischer Agitation: Ein Pfeifkonzert hatte die japanische Nationalhymne übertönt; jeder Ballkontakt eines japanischen Spielers wurde mit Buhrufen quittiert. In Erinnerung an die massive Bombardierung ihrer Stadt durch die Kaiserliche Armee während des Zweiten Weltkriegs wollten die Einwohner von Chong Ching den Japanern, ob Sportler oder bloße Zuschauer, demonstrieren, wie stolz sie sind, Chinesen zu sein. Auch auf die Gefahr hin, die Obrigkeiten ihres Landes in Verlegenheit zu bringen.
„Diese Art Patriotismus kann niemand unterstützen“, stand am Vortag des großen Entscheidungsspiels vom 7. August auf der Titelseite der offiziellen Tageszeitung für die Jugend. Die Mahnung an ihre Leser, sie sollten „Sport nicht mit Politik verwechseln“, ließ ahnen, dass die chinesische Regierung sich zunehmend Sorge machte, wie man den Nationalismus einer Bevölkerung kanalisieren könne, die Japan erneut geschlagen sehen wollte. Die Ausschreitungen, zu denen es dann beim Endspiel trotz eines Polizeiaufgebots von 16 000 Mann nach der 3:1-Niederlage der Chinesen im Umkreis des Arbeiterstadions kam, zeigen erneut, dass die chinesische Führung große Probleme hat, die von ihr selbst in den letzten Jahren geschürte Bewegung unter Kontrolle zu halten.
Die Konflikte zwischen China und Japan haben eine lange Geschichte. Während das Reich der Mitte, über Jahrhunderte die vorherrschende Macht in Asien, gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Europa abhängig geworden war, konnte Japan ein solches Schicksal abwehren. Im Bestreben, mit den erobernden Westmächten gleichzuziehen, beanspruchte das Reich der aufgehenden Sonne ebenfalls sein eigenes Kolonialreich. Das Opfer war China, gegen das Japan einen Angriffskrieg führte, der im April 1895 mit dem Vertrag von Shimonoseki endete. Darin musste China seinen Verzicht auf Taiwan erklären und das faktische Protektorat Japans über Korea anerkennen.
Die zutiefst gedemütigten Chinesen haben sich von dieser Niederlage nie erholt. Bis heute, über ein Jahrhundert später, belastet sie das Verhältnis zu Japan immer noch nachhaltig. Der Kampf gegen die japanische Besatzungsmacht war ein Motor der Renaissance des chinesischen Nationalismus, der als vordringliches Ziel verfolgt hatte, die nationale Einheit wiederherzustellen. Seither wurde der Stolz, einen Beitrag zur japanischen Niederlage im Zweiten Weltkrieg geleistet zu haben, von den Herrschenden sorgfältig gepflegt. Und auch geschickt instrumentalisiert, wann immer die Situation danach war, etwa während schwieriger Verhandlungen mit Tokio oder als Antwort auf japanische Drohungen, die Entwicklungshilfe einzustellen.
Die Auswirkungen dieses Nationalismus hielten sich allerdings immer in Grenzen. Chinesen und Japaner verfügten lange Zeit nicht über die nötigen Mittel, um sich als direkte Rivalen um die führende Rolle in Asien aufzuspielen. Erst das Ende des Kalten Krieges hat für beide Länder wieder die Voraussetzungen für eine unmittelbare Konfrontation geschaffen.
Während Japan, gerade weil es ökonomisch angeschlagen war, umso dringlicher eine politische Rolle im asiatischen Kontext anstrebte, versuchte China, das inzwischen zweistellige Wachstumsraten erzielte, seine zentrale Position auf dem regionalen Schachbrett zurückzuerobern, ohne sich seine Pläne von Tokio durchkreuzen zu lassen. Und angesichts zunehmender Proteste aus dem Innern der Gesellschaft befand man in Peking, dass sich der Appell an das Nationalgefühl als ideales Mittel anbietet, um die Frustrationen eines Teils der chinesischen Bevölkerung abzufangen.
„Seit die Kommunistische Partei Chinas nicht mehr kommunistisch ist, hält sie es für ihre Pflicht, chinesisch zu sein“, schrieb Thomas Christensen in Foreign Affairs.1 Dieser Nationalismus richtet sich nicht ausschließlich gegen Japan, aber die Annäherung, die nach dem 11. September 2001 im Namen des Kampfs gegen den Terrorismus zwischen Peking und Washington erfolgte, hat die Tendenz der chinesischen Machthaber bestärkt, ihren Hauptfeind in Tokio zu suchen. Zu einer ihrer obersten Prioritäten machten sie die patriotische Erziehung (aiguo jiaoyu). In den Schulbüchern und bei jeder sich bietenden Gelegenheit wird an die Demütigung erinnert, die China in der Vergangenheit unter dem Einfluss der „bösen Geister des Westens“ (yang guizi) und der „bösen Geister“ (guizi) schlechthin – das heißt der Japaner – erlitten hat.2 Die japanische Tageszeitung Yomiuri Shimbun3 hat erst kürzlich geballte Beweise für diese patriotische Erziehung publiziert. Demnach sind nicht weniger als neun Kapitel der an chinesischen Oberschulen meistverbreiteten Geschichte Chinas, erschienen im Verlag für Volkserziehung, der japanischen Invasion gewidmet, wobei die von der Kaiserlichen Armee begangenen Gräueltaten noch besonders hervorgehoben werden. „Angesichts der marktwirtschaftlichen Entwicklung und der Erschütterung der sozialistischen Ideologie besteht die einzige Überlebenschance der Kommunistischen Partei Chinas jetzt offenbar in einem maßlos überhöhten Patriotismus“, kommentiert die japanische Zeitung.4
Beunruhigend ist dabei vor allem, dass die chinesische Führung große Probleme hat, die nationalistischen Entgleisungen einer seit Jahren durch ihre eigene Propaganda aufgeheizten öffentlichen Meinung in Schach zu halten. Im vergangenen Jahr waren besonders viele alarmierende Ereignisse zu verzeichnen. Im Juni 2003 organisierten chinesische Aktivisten die erste Fahrt zu den Senkaku-Inseln (chinesisch: Diaoyu), um die Ansprüche ihres Landes auf die sieben kleinen Inseln zwischen Taiwan und Okinawa wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Schlechtes Wetter und die japanische Küstenwache konnten ihre Landung verhindern, aber das chinesische Außenministerium sah sich dennoch zu einer Stellungnahme genötigt und erklärte, „die Souveränität Chinas über diese Inseln“ stehe außer Frage. Einige Tage später kamen 90 000 Unterschriften für eine Petition zusammen, die sich gegen den Beschluss der Regierung richtete, ein japanisches Unternehmen mit dem Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecke Peking–Schanghai zu beauftragen.
Am 4. August kam es bei Erdarbeiten zur Explosion japanischer Senfgasgranaten aus dem Zweiten Weltkrieg; ein Arbeiter kam dabei ums Leben, viele wurden verletzt. Die Fotos, die danach in der Presse erschienen, lösten wütende Reaktionen aus. Eine neuerliche Petition, in der die japanische Regierung aufgefordert wurde, die auf chinesischem Boden zurückgebliebenen chemischen Waffen ein für alle Mal zu entsorgen, fand über eine Million Unterzeichner und wurde dem japanischen Botschafter in Peking während des Krisengesprächs mit seinem chinesischen Kollegen überreicht.
Zwei Wochen später, am 18. September, kam es zu einem Skandal um eine Gruppe von 400 japanischen Geschäftsleuten, die in einem Hotel in Zhu Hai nördlich von Macao abgestiegen waren und sich die Dienste von etwa 500 chinesischen Prostituierten erkauften. Die Affäre, die durch die Zeitungen ging und im ganzen Land eine Welle der Empörung auslöste, fiel mit dem 72. Jahrestag des Zwischenfalls von Mukden zusammen, der 1931 zur Besetzung der Mandschurei durch die japanische Armee geführt hatte. 90 Prozent der Chinesen, die sich an einer Internetumfrage auf der Website Sohu.net beteiligten, vermuteten hinter dem Prostitutionsskandal „die Absicht der Japaner, China zu erniedrigen“.
Ein großer Teil der Aktionen militanter chinesischer Nationalisten läuft mittlerweile übers Internet. Trotz aller Bemühungen, die Nutzung der weltweiten Vernetzung als Mittel der freien Meinungsäußerung einzuschränken, ist es dem Regime nicht gelungen, den schlimmsten Hetzern das Wort abzuschneiden. Angesichts der ständig wachsenden Zahl von Internetbenutzern haben die Behörden schon genug mit der Verfolgung von Cyberdissidenten zu tun,5 als dass sie auch noch Jagd auf Nationalisten machen könnten. Dabei wird das Internet nicht nur zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung benutzt, sondern es gibt auch immer wieder Attacken chinesischer Hacker auf offizielle japanische Websites.
Während die japanische Regierung den zunehmenden Nationalismus im Nachbarland aufmerksam beobachtet, registrieren viele Beobachter mit Sorge ganz ähnliche Tendenzen auch auf den japanischen Inseln, wenngleich nicht als Resultat eines erklärten politischen Willens. Der Widerstand gegen nationalistische Positionen, die im Lauf der letzten zehn Jahre immer deutlicher und regelmäßiger artikuliert wurden, hat erkennbar abgenommen. Nach der japanischen Kapitulation von 1945 hatte die Sehnsucht nach einem strahlenden Reich der aufgehenden Sonne rechtsextreme Gruppierungen entstehen lassen, die in allen Städten auf dieselbe Weise auftraten: Geschmückt mit der Nationalflagge und der Chrysantheme, fuhren sie mit schwarzen Lieferwagen durch die Straßen und schwangen Reden, in denen sie die Größe Japans beschworen und die ungerechten territorialen Verluste beklagten. Ihre lärmenden Auftritte fanden jedoch wenig Beachtung.
Aufmerksamer beobachtete man im Ausland die Versuche der japanischen Regierung, eine bestimmte Lesart der Geschichte vorzuschreiben oder Schulbücher von Passagen freizuhalten, die an die Gräueltaten der Kaiserlichen Armee in Asien erinnern. Jedes Mal, wenn neue Schulbücher herauskamen, protestierten die meisten asiatischen Länder beim japanischen Erziehungsministerium nachdrücklich gegen solche Geschichtszensur. Solche Klagen wurden von den mächtigen japanischen Lehrergewerkschaften unterstützt, die sich nicht nur auf dem Rechtsweg zur Wehr setzten, sondern ihre Mitglieder auch aufriefen, die tabuisierten Themen im Unterricht zu behandeln. Bei der feierlichen Eröffnung des neuen Schuljahres im April weigerten sich zahlreiche Lehrer, die Nationalflagge zu grüßen und die Nationalhymne mitzusingen. Natürlich konnte diese wachsame Haltung nicht verhindern, dass einige Politiker nationalistische Thesen formulierten oder regelmäßig den Yasukuni-Schrein in Tokio besuchten, wo die Asche japanischer Soldaten – einschließlich der Kriegsverbrecher – aufbewahrt wird, aber sie hat solche Tendenzen doch entscheidend eingeschränkt.
Ein nationalistisches Manifest als Comic
DAS war auch deshalb leichter möglich, weil Japan sich nicht gegen andere Länder behaupten musste. Unter der militärischen Obhut der USA, die Japan zum letzten Schutzwall gegen den Kommunismus gemacht hatten, konnte man sich ganz auf die eigene ökonomische Entwicklung konzentrieren und zur weltweit zweitgrößten Wirtschaftsmacht heranwachsen.
Dann aber brachten die Umwälzungen, die Ende der 1980er-Jahre mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems in Gang kamen, die Spekulationsblase auf den Aktien- und Finanzmärkten zum Platzen. Innerhalb kürzester Zeit sahen sich die Japaner mit einer neuen Weltordnung konfrontiert, auf die sie nicht vorbereitet waren. Sie hatten sich daran gewöhnt, vom großen Freund Amerika beschützt und beschirmt zu werden, jetzt aber standen sie vor der brutalen Wahrheit, dass dieser Freund wohl nicht mehr ganz die gleichen Ziele verfolgte. Nachdem es keine sowjetische Bedrohung mehr gab, orientierte sich Washington eher in Richtung Peking als an Tokio. Seither werden die nationalistischen Parolen klarer artikuliert und verstecken sich nicht mehr hinter vagen Begriffen wie „Respekt vor dem Kaiser“. Und auch die Ziele haben sich verändert. Die Sehnsucht nach dem mächtigen alten Nippon spielt keine Rolle mehr, die nachdrängende junge Generation hat andere Dinge im Kopf.
In der jungen Generation, der die Wirtschaftskrise hart zusetzt, lassen sich viele von den Sirenen des Nationalismus verführen. Das zeigt sich etwa am Erfolg der Comics von Yoshinori Kobayashi, der seine Leser – vor allem in dem berühmten Manifest des neuen Stolzes (Shin gomanizumu) – dazu auffordert, als stolze Japaner aufzutreten, die sich von niemand anders etwas sagen lassen müssen.6 Der Skandal um HIV-verseuchte Blutkonserven, das schlechte Krisenmanagement beim Erdbeben von Kobe im Januar 1995 oder auch der Sarin-Anschlag, den die Aum-Sekte im März desselben Jahres in der U-Bahn von Tokio verübte, boten Gelegenheit genug, die Staatsorgane zu kritisieren und die Japaner aufzurufen, sich nicht von „Weichbäuchen“ regieren zu lassen. Kein Wunder, dass ein Mann wie Shintaro Ishihara, der zum Beispiel 1989 das Pamphlet „Ein Japan, das Nein sagen kann“ (No to ieru Nippon) verfasst hat, mit deutlichem Vorsprung vor allen Rivalen zum Bürgermeister von Tokio gewählt wurde. Als Vollblutprovokateur sorgt Ishihara mit seinen donnernden Sprüchen über die Nachbarländer oft genug für Schlagzeilen. Damit wird der Premierminister häufig ins gleiche Fahrwasser gezwungen – vor allem zu ebenso unversöhnlichen Tönen gegenüber China.
Auch der Yasukuni-Schrein zieht immer mehr junge Menschen an. Nach einer im April 2004 durchgeführten Umfrage der Asahi Shimbun waren 63 Prozent der 20- bis 30-Jährigen für eine Änderung der pazifistischen Verfassung, die ein Resultat des Zweiten Weltkriegs ist. Sie sind also bereit, die Existenz einer regulären Armee zu legalisieren, während die Älteren sich mehrheitlich dagegen aussprechen.7 Die gleichen jungen Leute füllen auch die Stadien, wo sie hemmungslos die Nationalfahne (Hi no maru) schwingen und im Chor die früher eher verpönte Hymne singen. Die Psychiaterin Rika Kayama hat dies als Syndrom des puchi Nationalismus – des „kleinen“ Nationalismus – bezeichnet8 und meint damit eine Bewegung, die mit der Wiederentdeckung der japanischen Sprache und einer Rückkehr zur Bodenständigkeit einhergeht. Trotz aller Offenheit für westliche Einflüsse scheint die Jugend in jüngster Zeit sehr stolz auf ihre Vergangenheit und auf ihre nationalen Wurzeln zu sein. In ihren Augen gibt es keinen Grund mehr, sich der japanischen Nationalität zu schämen und sich die Last der militärischen Vergangenheit aufbürden zu lassen.
In diesem „kleinen“ japanischen Nationalismus äußert sich vor allem die Identitätssuche einer Generation, die sich im Gefolge der Wirtschaftskrise der 1990er-Jahre allein zurechtfinden muss. Aus diesem kleinen könnte allerdings ein größerer Nationalismus erwachsen, sollte es in China zu weiteren antijapanischen Ausbrüchen kommen. Die Kluft zwischen China und Japan war seit 1945 niemals größer als heute.
deutsch von Grete Osterwald
* Journalist