Rettet die Archive!
IM Rahmen der Jahrestagung der „International Federation of Television Archives“ (Ifta) findet vom 15. bis 19. Oktober in Paris die größte Versammlung von Hütern der audiovisuellen Speichermedien statt. Thema: Wie kann man den Verfall der Bild- und Tondokumente aufhalten, die unsere Zeit besser dokumentieren als alles Geschriebene? Weltweit sind 80 Prozent der Archive von der Zerstörung bedroht. Privatisierung und Kommerzialisierung von Urheberrechten behindern die demokratische Nutzung. Aber man muss nicht widerspruchslos hinnehmen, dass sich das audiovisuelle Erbe des 20. Jahrhunderts verflüchtigt.
Von EMMANUEL HOOG *
Dass ich sterben würde, ich wusst es wohl.“ Das sagt Antigone, ihr tragisches Schicksal auf sich nehmend, zu Kreon, dem König von Theben. Wir schreiben das Jahr 19671 , und in einer Antigone-Inszenierung von Jean Cocteau sind die Kameras von Jean-Claude de Nesle auf das Gesicht von Nita Klein gerichtet. Nach der Aufführung findet zum ersten Mal eine Sophokles-Tragödie den Weg ins Fernsehen – und in eine neue Zeitlichkeit. Denn festgehalten auf einer Filmspule, so dachte man, werde sie ewig leben.
Mitnichten. Auch Bilder, Töne, Filme, Videos und Tonbänder sind der Vergänglichkeit geweiht. Ihr absehbares Ende lässt das audiovisuelle Erbe der Menschheit zum tragischen Helden eines modernen Trauerspiels werden, das vom Tod unseres kollektiven Gedächtnisses handelt. Nur – ungewöhnlicherweise gibt es in diesem Trauerspiel weder Unabwendbarkeit noch Fluch. Alles ist vermeidbar. Es gibt Tragödien, deren Ende umgeschrieben zu werden verdient.
Zwei Welten stehen sich gegenüber: die analoge und die digitale. Der Übergang von der einen zur anderen bedeutet die Rettung des gesamten audiovisuellen Gedächtnisses der Welt. Man muss also eine Art Durchzug durch das Rote Meer organisieren, um gemeinsam ins gelobte Land zu kommen. Die Digitalisierung der Archive ist erprobt, sie ist ein Lebenselixier, das den Völkern dazu verhilft, ihr Bildergedächtnis in vollem Umfang wiederherzustellen. Es geht um nicht weniger als die Vielgesichtigkeit der Welt, die Bewahrung der Identitäten und die Weitergabe an die kommenden Generationen.
Nach Unesco-Angaben wird das audiovisuelle Erbe der Welt (ohne Kinofilme) auf 200 Millionen Stunden geschätzt2 , die jeweils etwa zur Hälfte auf Fernsehen und Radio entfallen. 80 Prozent dieses Erbes sind gefährdet. Je nach Trägermaterial variiert die Lebensdauer um einige Jahre, doch eines steht unverrückbar fest: In zehn Jahren wird alles verloren sein.
Eine Aufzählung der drohende Verluste ist unmöglich. Es sind auch nicht alle Gegenden der Welt gleichermaßen betroffen. Zur vielfach beschworenen Kluft in der Ausstattung mit Computern3 gesellt sich die Ungleichheit bei den Speichermedien. Am stärksten bedroht sind Südamerika, Afrika, der Nahe Osten und Südostasien. In Europa setzen Länder wie Großbritannien, Italien, Frankreich, Deutschland oder Schweden Rettungspläne um.4 Im Gegensatz dazu müssen die armen Länder des Südens zusehen, wie ganze Bereiche ihrer audiovisuellen Archive unlesbar werden.5 Die kulturelle Vielfalt ist bedroht. Denn das audiovisuelle Erbe ist nicht nur ein für die Bewahrung der Identitäten und der Geschichte unverzichtbarer Fundus, es ist auch der Spiegel unserer Gesellschaften, unseres Lebens, unserer Leidenschaften und Gefühle.
1977 wurde in Rom die Ifta gegründet, die International Federation of Television Archives.6 Einige Jahre später, 1980, verabschiedete die Unesco ihre grundlegenden Empfehlungen über den Schutz und die Bewahrung von Bewegtbildern.7 Mit 180 Mitgliedern in 60 Ländern fördert die Ifta die regionale Kooperation und mahnt die Archivbenutzer, sich für die Erhaltung des audiovisuellen Erbes einzusetzen.8 Doch ein Problembewusstsein entwickelt sich nur allmählich.
Das audiovisuelle Gedächtnis leidet darunter, dass es zwar aus Bildern und Tönen besteht, aber sein Erlöschen in der Öffentlichkeit weder sichtbar noch hörbar ist. Wenn ein Glasfenster der Kathedrale von Chartres herabfällt oder ein Feuer die Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar verwüstet, erregen sich ganz Frankreich und Deutschland. Sofort werden landesweite Spendenaktionen organisiert. Und die ganze Welt findet es unerträglich, dass die Tempel von Angkor verfallen. Derweil zerfallen in aller Stille und Tag für Tag Kilometer von Film- und Tonbändern.
Die digitale Technik könnte dem audiovisuelle Erbe ein langes und erneuerbares Leben bescheren.9 Sie ermöglicht außerdem die räumliche Trennung von Datenträger und Benutzer, und im Zuge dessen macht sie die Archive auch zugänglich. Als komprimierte Dateien sind Töne und Bilder unter eindeutiger Bezeichnung abrufbar, und zwar für alle nur vorstellbaren Zwecke, kulturelle, künstlerische, pädagogische oder wissenschaftliche. Indem es Eingang in die Schulen und Universitäten findet, bereichert das audiovisuelle Erbe den Unterricht um eine neue Dimension. Für den Forscher stellt es ein hervorragendes mediales Arbeitsmittel dar, und für künstlerische Berufe wird es zur Quelle von Inspiration, Innovation und Reflexion. Die materielle Sicherung der audiovisuellen Archive hat dieselbe Bedeutung wie die Restaurierung unserer Kathedralen.
Der finanzielle Aufwand beeinflusst die Entscheidung – besser gesagt: das Ausbleiben einer Entscheidung. Für kostspielige technische Lösungen reicht oft das Geld nicht, vor allem in den Ländern des Südens. Hier ist gegenseitige Hilfe geboten. Manchmal ist das Geld da, zum Beispiel in den USA. Doch ausgerechnet hier fehlt immer noch ein Programm zur Digitalisierung der gewaltigen analogen Schätze, weil die Meinung vorherrscht, die Archive hätten zu wenig Marktwert.
Zu den finanziellen Problemen gesellt sich ein zweifaches Schulungsdefizit: Erstens bei den Entscheidungsträgern, die sich nicht dazu durchringen können, den Ernst der Problems zu sehen. Und zweitens bei der Ausbildung des für die Archivierung zuständigen Personals. In vielen Ländern müssen Techniken neu erarbeitet und vermittelt werden. Afghanistan zum Beispiel besitzt zwar einen Teil seiner Geschichte auf Band, doch im Zwei-Zoll-Format, und dafür gibt es dort keine Abspielgeräte mehr.10 Das Land ist blind – das Konvertieren ganzer Bilder- und Tonwelten ins digitale Format brächte so etwas wie eine neue Beleuchtung. Afghanistan ist nicht allein – eine ganze Reihe von Ländern muss weiterhin im Finstern sitzen.
Ambitionierte Projekte sollen die Unterschiede entschärfen, zum Beispiel das von der EU unterstützte und von mehr als 30 Partnern entwickelte Presto Space. Es erstrebt globale Lösungen für die Digitalisierung und Nutzung aller Formen von audiovisuellen Sammlungen. Die Konservierungstechniken werden gemeinschaftlich genutzt und dadurch kostengünstiger, für die Bestände werden einheitliche Zugangs- und Nutzungsstrategien entwickelt; eine enorme Entlastung für die teilnehmenden kleinen und mittleren Unternehmen und ihre Archive.
Inzwischen hat Senegals Präsident Abdoulaye Wade eine Strategie der „digitalen Solidarität“ angeregt, die den Graben zwischen Nord und Süd verkleinern soll. Das internationale Kooperationsprojekt InterPares vereinigt an die 20 Länder und bietet digitale Konservierungstechniken an. In Südafrika denken die kulturellen und wissenschaftlichen Einrichtungen gemeinsam über die Schaffung eines digitalen Archivzentrums nach. In Taiwan haben sich neun nationale Institutionen zu einem ähnlichen Vorhaben zusammengefunden.
Warum nicht weiter gehen? Warum lassen wir uns auf die Frage nach der Zukunft dieses Gedächtnisses nicht eine originelle Antwort einfallen: einen globalen Datenspeicher in einer globalen Welt? Würde man diesen Weg einschlagen, wäre es das exakte Gegenteil dessen, was bisher immer zu beobachten war, zum Beispiel das Gezerre um die im British Museum ausgestellten Figuren des Parthenon-Frieses, von denen das griechische Volk sagt: „Gebt sie zurück, sie gehören uns.“ Bei digitalen Bildern und Tönen gibt es keine „nationale Frage“. Wenn ein Land Bilder eines anderen konserviert und aufbewahrt, kann man Kopien davon machen11 und sie an das Ursprungsland weitergeben. Niemand verliert etwas.
Zugleich sinken die Kosten der Speichermedien schnell, und die Infrastruktur erlaubt eine immer schnellere Übertragung auch von zentralen Rechnern aus. Wenn die Anstrengungen in dieser Richtung weitergehen und dank der Digitalisierung die entscheidenden Anstöße gegeben werden, könnten wir morgen bereits am anderen Ufer des Roten Meers angekommen sein und einen großen Teil des Gedächtnisses der Welt gerettet haben.
Abgesehen von den Kosten wird das eigentliche Problem sein, wie mit den Urheber- und Eigentumsrechten und den daraus entstehenden Ansprüchen Einzelner umzugehen ist. Die fortschreitende Privatisierung und Personalisierung der Eigentumsrechte an unseren Erinnerungen scheint dem allgemeinen Zugang zum gemeinsamen Erbe zu widersprechen. Entsteht hier ein neues Paradox, eine neue Grenze? Die Geschichte der Archive war lange Zeit eins mit der der Trägermedien, nun scheint sie zunehmend zur Geschichte der Eigentumsrechte zu werden. Wird es uns gelingen, die Interessen an Privatbesitz und Gemeingut zu vereinen und einen Zugang zu den Schätzen zu ermöglichen? Für die Zukunft ist eine gesetzliche Pflicht zur Hinterlegung von Belegexemplaren geplant. Sie führt zum planvollen Aufbau audiovisueller Bibliotheken, die morgen den durch Verschlüsselungs- und Kopierschutztechniken zwar gesicherten, aber allgemeinen Zugriff auf alle Gedächtnisse der Welt erlauben könnten.
deutsch von Josef Winiger
* Präsident der International Federation of Television Archives (IFTA), Paris.