08.10.2004

Iteka bedeutet Würde

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Iteka bedeutet Würde

Am 13. August 2004 wurden im Flüchtlingslager Gatumba im Osten Burundis 163 Tutsi ermordet. Seither stockt der Friedensprozess, der zu einer neuen Verfassung, zu allgemeinen Wahlen und zur gleichberechtigten Teilnahme von Tutsi und Hutu an der Regierung Burundis führen sollte.

Von BARBARA VIGNAUX *

DAS heutige Burundi gleicht dem Ruanda des Jahres 1994.“ So lautet die Befürchtung, die wortgleich in zwei verschiedenen Gesprächen in der burundischen Hauptstadt Bujumbura fällt: mit Paul Nkunzimana, dem Dekan der Psychologischen Fakultät der Universität, und mit Joseph Ndayizeye, Vizepräsident der Iteka-Liga. Auf Kirundi, der in Burundi gesprochenen Sprache, bedeutet Iteka „Würde“; die Iteka-Liga ist eine Organisation zum Schutz der Menschenrechte.

Anlass zum Vergleich mit der Lage in Burundis nördlichem Nachbarland Ruanda vor zehn Jahren ist ein Massaker im Flüchtlingslager von Gatumba, vier Kilometer von der Grenze mit dem Kongo entfernt. Wegen der dadurch ausgelösten politischen Spannungen werden jetzt möglicherweise die Parlamentswahlen verschoben, die eigentlich bis Ende Oktober über die Bühne hätten gebracht sein sollen. Burundi, überschattet von der ruandischen Tragödie, wird immer wieder auch selbst zum Schauplatz erschreckender ethnisch motivierter Gewalttaten. So wurden 1993 innerhalb von zehn Tagen mehr als 100 000 Tutsi und gemäßigte Hutu aus Rache getötet, nachdem am 21. Oktober Präsident Melchior Ndadaye, ein Hutu, von Tutsi-Offizieren ermordet worden war. Der Staatschef war vier Monate zuvor bei den ersten demokratischen Wahlen des Landes ins Amt gewählt worden.

Das Gespenst des Völkermords geht wieder um, seit eine im Jahr 2000 von der Regierung und 17 politischen Parteien in Arusha (Tansania) abgeschlossene Friedensvereinbarung von zwei wichtigen Gruppierungen nicht unterzeichnet wurde: den Tutsi der Puissance d’autodéfense (etwa „Kraft zur Selbstverteidigung“, PA) und den Hutu der Forces nationales de libération (Nationale Befreiungskräfte, FNL). Hartnäckig hält sich unter den 3 000 Rebellen der FNL der Hass auf die Tutsi, denen sie nicht nur die Ermordung von Präsident Ndadaye, sondern vor allem die Anstiftung zum Völkermord an den Hutu vorwerfen. So bezichtigen sich die FNL, denen an einer Zunahme der Spannungen gelegen ist, der Täterschaft an dem Massaker von Gatumba an den Tutsi. Doch es gibt Augenzeugenberichte von Überlebenden, die auch Milizionäre aus dem Kongo und aus Ruanda erkannt haben wollen.

Die Umtriebe der ehemaligen belgischen Kolonialmacht, die sich auch noch in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit von 1962 in die inneren Angelegenheiten des Landes einmischte, hatten das alte Gleichgewicht zwischen den Ethnien – den Tutsi, Hutu und Ganwa – zerstört.1 Seither dominierte die Minderheit der Tutsi, die nur 14 Prozent der Bevölkerung stellen, die staatlichen Institutionen, vor allem Justiz und Armee sowie die Einheitspartei Union pour le progrès national (Uprona). Diese Vorherrschaft nährte das Misstrauen und die Ressentiments unter der Hutu-Mehrheit.2 Die offizielle Darstellung lautet, dass sich in den Massakern von 1993 lediglich der „Volkszorn“ der Hutu entladen habe, weil die Tutsi-Minderheit die Wahl von Melchior Ndadaye aus der Hutu-Mehrheit nicht hatten akzeptieren wollen.

Zwei Gründe sprechen gegen diese Version. Erstens weiß man, dass Tutsi unter diversen Vorwänden gezielt und in Massen in Schulen, Kirchen oder Gemeindeverwaltungen gelockt und anschließend umgebracht wurden. Zweitens kam 1996 eine Untersuchungskommission der Vereinten Nationen zu dem Schluss, dass die Massaker ein „Akt des Völkermords“ waren. Auch der Weltsicherheitsrat äußerte sich in einer Resolution „tief besorgt über die in Burundi begangenen Gewalttaten, über die von gewissen Radiosendern weiterhin betriebene Anstiftung zu Hass und Gewalt und über die vermehrten Aufrufe zu Vertreibung und Völkermord“; neben 100 000 Toten zählten 1993 auch 600 000 Binnenflüchtlinge und 200 000 ins Ausland Vertriebene zu den Opfern.

Anlass zur Beunruhigung geben außerdem die durchlässigen Grenzen im Afrika der Großen Seen und die überstaatliche Dimension des Konflikts zwischen Hutu und Tutsi, die die Morde in Gatumba neuerlich belegen. Denn die bewaffneten Hutu in Burundi sind mit den ruandischen Hutu-Milizen der Interahamwe verbündet, die im benachbarten Kongo operieren und für den Völkermord an den Tutsi in Ruanda verantwortlich waren – und die jetzt möglicherweise auch in Gatumba gesehen wurden.

Die von Anhängern des ermordeten Präsidenten Ndadaye gegründeten Forces pour la défense de la démocratie (FDD), die mit 10 000 Mann größte Hutu-Rebellengruppe, haben hingegen im Dezember 2002 einen Waffenstillstand unterzeichnet. Als Gegenleistung erhielten sie mehrere Posten in der Übergangsregierung, die im November 2001 gebildet worden war und seit Mai 2003 von Domitien Ndayizeye, gleichfalls einem Hutu, geleitet wird. Seine interethnische provisorische Regierung, die von der Tutsi-nahen Uprona und zwei vornehmlich von Hutu beherrschten Parteien, dem Front pour la démocratie en Burundi (Frodebu) und den FDD, getragen wird, sollte dafür sorgen, dass eine neue Verfassung ausgearbeitet und bis zum 31. Oktober 2004 allgemeine Wahlen durchgeführt werden. Eine gewaltige Aufgabe.

Zwar wurde am 6. August 2003 im südafrikanischen Pretoria nach vierjährigen Verhandlungen ein Vertrag über die Teilung der Macht zwischen Tutsi und Hutu geschlossen. Die Tutsi sollten eine Quote von 40 Prozent und die Hutu 60 Prozent der Posten erhalten. Doch auch diesmal unterzeichneten nicht alle Akteure das Abkommen: Auf der Seite der Tutsi verweigerte sich die Uprona, auf der Seite der Hutu wiederum die FNL. Außerdem wird das Vorhaben, eine neue Verfassung zu schaffen, zwar von den Hutu gebilligt, aber von den Tutsi-Parteien abgelehnt.

Den stockenden Friedensprozess im Kongo vor Augen und angesichts der Konflikte in Ruanda befürchten viele Tutsi in Burundi eine neue Eskalation der Gewalt im eigenen Land, nach zehn Jahren Bürgerkrieg, in dem mindestens 300 000 Menschen ums Leben kamen. Denn jetzt zeigen sich auch die Opfer früherer Massaker – die aber die Tutsi an den Hutu begangen hatten. Wenige Wochen vor dem Wahltermin kehren immer mehr Hutu-Vertriebene aus Tansania zurück. Nach der blutigen Niederschlagung eines Staatsstreichs im Jahr 1972, bei dem die von den Tutsi beherrschte Armee laut UN-Berichten 250 000 Hutu ermordet haben soll, flüchteten etwa 800 000 Hutu aus dem Land. Davon sollen 150 000 seit 2002 wiedergekommen sein, ebenso viele werden noch bis Ende des Jahres erwartet.3

Dies wird die Problematik um das Grundeigentum in diesem zu 90 Prozent landwirtschaftlich geprägten Land noch weiter verschärfen. Die Bevölkerungsdichte liegt bei 250 Einwohnern pro Quadratkilometer, mehr als doppelt so hoch wie in der Europäischen Union. Der Durchschnittsbesitz einer bäuerlichen Familie bleibt unter 0,5 Hektar. Die 1972 und 1993 aufgegebenen Äcker sind längst vergeben – der einstige Nachbar bestellt heute das Feld. Um die Rechtsstreitigkeiten nicht ausufern zu lassen, hat die Regierung entschieden, dass nur die Flüchtlinge von 1993, nicht aber die von 1972 ihren Besitz zurückfordern können.

Da auch die Eintragung in die Wählerverzeichnisse noch nicht begonnen hat, könnte es sein, dass die Wahlen verschoben werden, während die Hutu sich immer noch um ihren Wahlsieg von 1993 betrogen fühlen. Auch der Wahlkampf ist erschwert. „Die Menschen werden sich bestimmt nicht mehr zu größeren Versammlungen rufen lassen wie 1993“ – um dort umgebracht zu werden, meint Sylvestre Barancira, der einzige Psychiater des Landes. Eine starke Hutu-Macht an der Spitze könnte die Interahamwe-Milizen der Hutu aus dem Kongo und Ruanda ermutigen. Die geplante gemischtethnische Regierung, die nach den Wahlen gebildet werden soll, facht die Diskussion über die ethnischen Quoten an. Die Tutsi befürchten, gänzlich von der Macht verdrängt zu werden, und verlangen für Parlament, Regierung, Armee und Verwaltung dieselben Quoten, die für die Übergangsinstitutionen festgelegt worden sind: 40 Prozent für die Tutsi und 60 Prozent für die Hutu. Doch die grundsätzliche Einigung vom 6. August letzten Jahres vermag nicht alle Befürchtungen zu zerstreuen. So glaubt zwar Venant Bamboneyeho, Präsident der Tutsi-Organisation AC Génocide, dass es keine Alternative zu den Quoten gibt, hält diese formelle Ethnifizierung aber auch für einen „Fluch“ und warnt: „Warum registriert man die Volkszugehörigkeit nicht gleich im Personalausweis? Genau das hat aber in Ruanda zur Katastrophe geführt. Dort hat man den Personalausweis dazu benutzt, die Leute auszusondern.“ Und die Friedenstruppen von 2 800 bis 5 600 Mann der Vereinten Nationen in Burundi, denen nach den Abkommen von Arusha der Schutz auch der Hutu obliegt, sehen sich hier mit der heiklen Aufgabe konfrontiert, die Mörder von 1993 schützen zu müssen.

Den Aussöhnungsprozess belastet die bisher unbewältigte juristische Aufarbeitung der über Jahrzehnte begangenen Gewalttaten. Die Vereinten Nationen haben immer noch keine internationale Untersuchungskommission und keinen Ad-hoc-Gerichtshof eingerichtet, wie er in den Abkommen von Arusha vorgesehen ist. In der Praxis behindern einander das Gebot, sich zu versöhnen, und der Gerechtigkeitssinn. In den diplomatischen Protokollen von Pretoria aus dem Jahr 2003 wird den Soldaten und einstigen Rebellen Straffreiheit zugesichert. Aber die Formulierungen sind vage. „Gerade die schlimmsten Mörder werden belohnt“, meint Joseph Ndayizeye von der Iteka-Liga.

Außerdem ist das im Mai verabschiedete Gesetz über Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit so kompliziert, dass man es praktisch gar nicht anwenden kann. Nach Informationen der Organisation Anwälte ohne Grenzen sind im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1993 insgesamt 8 000 Personen festgenommen worden – in Ruanda waren es nach dem Völkermord dagegen 110 000. Eine Verurteilung der des Völkermords in Burundi beschuldigten Personen erscheint schwierig, meint der Brüsseler Rechtsanwalt Fidel Luvengika, der die Mission der Anwälte ohne Grenzen in Bujumbura leitet: „Die Verhafteten bestreiten die Rechtmäßigkeit des Verfahrens, weil sie der Ansicht sind, die vorläufige Amnestie für die ins Ausland geflohenen Führungspersönlichkeiten müsse auch für sie gelten. Außerdem behaupten sie, 1993 sei auf beiden Seiten gemordet worden, aber man habe ausschließlich Hutu verhaftet.“

Wenn es trotz dieser Schwierigkeiten zu einem Urteil kommt, wird es nur in Ausnahmefällen umgesetzt. Auch die Kompensation liegt im Argen: „Bis heute ist keines der Opfer entschädigt worden. Und insgesamt sind nicht einmal zehn Verurteilte hingerichtet worden“, berichtet Etienne Ntiyankundiye, Rechtsanwalt und Mitglied der Tutsi-Gruppe AC Génocide. Wegen der Überlastung der Gerichte sind 90 Prozent der Verfahren verschoben worden. Außerdem muss der Kläger den Beschuldigten während der gesamten Untersuchungshaft mit Essen versorgen. Das entmutigt zahlreiche Opfer in einem Land, das als das drittärmste der Welt gilt.

„Die Ruander haben das Böse beim Namen genannt. Das geschieht hier nicht“, klagt AC-Génocide-Chef Bamboneyeho. Vollkommene Gerechtigkeit gebe es nicht, „aber in Ruanda hat man wenigstens symbolische Gerechtigkeit herzustellen versucht. Dort nimmt man die Pflicht zur Erinnerung und das Schicksal der Überlebenden ernst.“ Die Organisationen der Tutsi verlangen deshalb weiterhin, dass die Ereignisse von 1993 als Völkermord anerkannt werden, und kämpfen gegen jene „Form von Revisionismus“, die darin bestehe, „im Plural“ davon zu sprechen.

Aber was ist mit den Ereignissen von 1972? Hier liegt das eigentliche Problem. „Jeder spricht über seinen eigenen Völkermord“, meint Esdras Ndikumana, Korrespondent von Radio France Internationale in Bujumbura. Und Adrien Sindayigaya, Vizedirektor des Radiosenders Ijambo („Wort“ auf Kirundi), der sich für die Versöhnung einsetzt, spricht von einem „zweifachen Völkermord“, nämlich 1972 und 1993. Ein Teufelskreis der Rache ist entstanden: Unter den Mördern von 1993 fanden sich Waisen von 1972 und unter den ersten Ermordeten einstige Mörder.

Neben der Einrichtung einer nationalen Wahrheits- und Versöhnungskommission – das zugehörige Gesetz wurde Anfang September verabschiedet – soll nun ein wissenschaftlicher Ausschuss die Geschichte Burundis seit den frühesten Anfängen schreiben und dabei gerade auch die Vieldeutigkeit der Ereignisse berücksichtigen. In dem unter der Schirmherrschaft der Unesco stehenden Ausschuss sollen burundische und ausländische Historiker aus unterschiedlichen Perspektiven ein Standardwerk erarbeiten, das als Grundlage für zukünftige Schulbücher dienen kann. Emile Mworoha, Leiter der Organisationsgruppe in Bujumbura, Historiker, Abgeordneter und ehemaliger Kultusminister, hofft, dass dieses Projekt die Versöhnung mit der Vergangenheit erlaubt. Aber kann die Geschichtsschreibung ein zerrissenes Volk mit sich selbst versöhnen? Jean-Pierre Chrétien, französischer Historiker und Mitglied des Ausschusses, meint, sie könnte zumindest helfen, politische und soziale Hintergründe nicht mehr so oft zugunsten ethnischer Interpretationen auszublenden.

„Ethnische Zugehörigkeit ist wegen der blutigen Streitigkeiten etwas sehr Reales“, meint der Psychiater Barancira. Die Debatte über die Quotierung der politischen Ämter zeigt, wie schwer es ist, die ständig präsente Identitätsfrage mit dem demokratischen Prinzip der Gleichwertigkeit aller Stimmen in Einklang zu bringen.

deutsch von Michael Bischoff

* Journalistin

Fußnoten: 1 Die Kolonialherren förderten die ethnischen Unterschiede und nutzten sie für ihre Zwecke. Die Belgier sollen für die Ermordung des Premierministers Louis Rwagasore verantwortlich gewesen sein, dessen königliche Abstammung die staatliche Autorität vor der Ausrufung der Republik im Jahr 1966 sicherte. Siehe Jean-Claude Willame, „Aux sources de l‘hécatombe rwandaise“, Cahiers africains, Sonderband 14, Brüssel 1995. 2 Siehe Colette Braeckman, „Burundi – ein ethnisch geteiltes Land“, Le Monde diplomatique, Juli 1995. Ferner: Willy Nindorea, „Médiations tanzaniennes dans les Grands Lacs“, Le Monde diplomatique, Oktober 2002. 3 „Réfugiés et déplacés burundais“, 2. 12. 2003, International Crisis Group (www.crisisweb.org). Siehe auch „Les civils dans la guerre au Burundi: Victimes au quotidien“, Human Rights Watch, Dezember 2003 (www.hrw.org).

Le Monde diplomatique vom 08.10.2004, von BARBARA VIGNAUX