08.10.2004

Das Land, wo die Raketen fehlen

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Das Land, wo die Raketen fehlen

DASS die ukrainischen Präsidentschaftswahlen Ende Oktober fair verlaufen werden, ist eher unwahrscheinlich. Die herrschende Clique sieht ihre Pfründen gefährdet, und Ministerpräsident Janukowitsch, Kandidat des alten Machthabers Kutschma, wird wohl mit denselben Tricks arbeiten, die schon Kutschma zum Einsatz gebracht hat, um im Amt zu bleiben. Dass die Ukraine durch solche Machenschaften keine Chance mehr hat, in absehbarer Zeit der Europäischen Union und der Nato beizutreten, ist Janukowitsch egal. Er setzt auf Atomkraft, Gängelung der Medien und die Zusammenarbeit mit Moskau.

Von VICKEN CHETERIAN *

Nach offizieller Darstellung ist die Außenpolitik der Ukraine das Resultat „mehrerer Vektoren“, aber ein anderes Bild wird der Wirklichkeit eher gerecht: das eines Pendels, das zwischen Russland auf der einen und Nato und EU auf der anderen Seite hin und her schwingt. Wann immer Wahlen bevorstehen, schlägt dieses Pendel eher in Richtung Osten aus, und genau dies passiert gerade im Vorfeld der Wahl des Staatspräsidenten am 31. Oktober.

Im September 2003 hatte Präsident Leonid Kutschma einen Vertrag über die ökonomische Integration mit Russland, Weißrussland und Kasachstan unterzeichnet und einen „Gemeinsamen Wirtschaftsraum“ begründet, der auf einen Binnenmarkt der vier Länder abzielt. Vor kurzem wurde die Militärdoktrin des Landes modifiziert und das Ziel einer Mitgliedschaft in der Nato und der EU aus dem Text gestrichen. Außerdem wurde die Ölpipeline zwischen Odessa und Brody nahe der polnischen Grenze umfunktioniert: Sie transportiert nun nicht mehr aserbaidschanisches Öl, das Tanker nach Odessa brachten, in Richtung Europa, sondern russisches Öl in Richtung Schwarzes Meer, das an der Küste verschifft wird.

Das Versprechen engerer Zusammenarbeit mit Russland, das Kutschma in seiner Wahlkampagne von 1994 gegeben hatte, musste er nun also kurioserweise am Ende seiner zweiten und letzten Amtsperiode einlösen, und zwar als Zwangsresultat einer Reihe von außenpolitischen Fehlschlägen und innenpolitischen Zwängen. Denn Kutschma braucht die Unterstützung Moskaus, um die Stimmen der ethnischen Russen zu gewinnen, mit deren Hilfe der jetzige Ministerpräsident Wiktor Janukowitsch zum nächsten Präsidenten werden soll. Auf der anderen Seite ist Kutschma bei den westlichen Führungen unten durch, nachdem sich seine Regierung eine ganze Serie von Skandalen geleistet hat.

Dieser Präsidentenwahl kommt eine entscheidende Bedeutung im doppelten Sinne zu: entscheidend für die Ukraine, insofern sich herausstellen muss, in welche Richtung die Entwicklung nach einem schwierigen und chaotischen Jahrzehnt gehen soll; entscheidend aber auch für Europa und Russland, insofern sich zeigen wird, wie groß ihr jeweiliger Einfluss ist und wo die Grenzen dieses Einflusses verlaufen. Der Nachfolgekandidat Wiktor Janukowitsch, der aus der russischsprachigen Kohle- und Industriestadt Donezk im Osten stammt, wurde zum Kandidaten der Kontinuität, nachdem er als Regierungschef die Mehrheit der herrschenden Cliquen gefestigt hatte, die sich die Macht im Lande teilen, sich zugleich aber auch heftig untereinander befehden. Tatsächlich kann er mit den russischen Stimmen im Osten des Landes und auf der Krim rechnen. Janukowitsch wird aber auch alle verfügbaren „administrativen Mittel“, also Behörden und staatliche Einrichtungen einschließlich der polizeilichen Repressionsinstrumente, sowie die politisch kontrollierten Medien benutzen.

Sein Herausforderer ist Wiktor Juschtschenko, der Kandidat der Oppositionsbewegung Nascha Ukraina („Unsere Ukraine“), bis vor kurzem Ministerpräsident und davor Präsident der Nationalbank. Juschtschenko, der während seiner Amtszeit als prowestlicher Reformer gepriesen wurde, repräsentiert die Stimmen für einen Wandel. Er stützt sich vor allem auf die Wähler im Zentrum und im Westen des Landes, wo das ukrainisch-nationale Bewusstsein stärker ausgeprägt ist als in den bis 1954 russischen östlichen Landesteilen. Ein weiterer Bewerber ist Petro Symonenko, der Führer der Kommunisten, obwohl seine Partei an Einfluss verloren hat, weil sie keine unabhängige Politik zu artikulieren vermochte.

Doch wer der nächste Präsident der Ukraine sein wird, ist weniger wichtig als eine Antwort auf die Frage, auf welche Weise er sein Amt erlangen wird: mit den Stimmen der Wähler, also auf eine Art, die das Ausland als legitim empfindet – oder als ein Präsident, der sein Amt gegen den Willen des Volkes usurpiert?

Die Ukraine ist einer der postsowjetischen Staaten, in denen ein Machtwechsel aufgrund von Wahlen stattgefunden hat. 1994 war der geschwächte Leonid Krawtschuk, der das Land in die Unabhängigkeit geführt hatte, durch Leonid Kutschma abgelöst worden. Seit der ehemalige Parteiaktivist und Direktor einer Raketenfabrik in Dnepropetrowsk an der Macht ist, haben der demokratische Reformprozess und der Rechtsstaat diverse Rückschläge erlitten. Die Präsidentschaftswahlen von 1999 wurden in einem Bericht der OSZE-Beobachter scharf kritisiert. Demnach haben die staatlichen Institutionen den amtierenden Präsidenten auf breiter Front unterstützt, die staatlichen und privaten Medien haben einseitig berichtet, und das Krankenhauspersonal wie die Studenten mussten ihrer Stimmen unter der Aufsicht ihrer Vorgesetzten und Betreuer abgeben. Werden die Wahlen Ende Oktober fairer verlaufen?

Schmutzige Politik, aber kein Polizeistaat

DIE Oligarchen, die von den gigantischen Privatisierungen der letzten Jahre profitiert haben und die Wirtschaft wie die Politik nach wie vor dominieren, scheinen ziemlich nervös zu sein, müssen sie doch um die Wahrung ihrer Interessen fürchten, falls ein unabhängiger und populärer Kandidat gewinnen sollte. Der Verlauf der Bürgermeisterwahlen in Mukatschewo im April dieses Jahres war ein böses Vorzeichen, das die internationale Gemeinschaft nervös gemacht hat. In der kleinen Stadt im Gebiet Transkarpatien an der Grenze zu Ungarn wurden gravierende Gesetzesverstöße registriert, von falschen Stimmzetteln in den Wahlurnen über Störaktionen von Skinheads bei Kundgebungen der Opposition bis hin zu Stimmenkauf. Am Ende verkündeten die Behörden den Wahlsieg des Regierungskandidaten, obwohl alle Nachwahlbefragungen eine klare Mehrheit für die Opposition prognostiziert hatten.

Ein Beispiel für die undemokratischen Zustände ist die einseitige Unterstützung der staatlichen wie der von den Oligarchen dominierten privaten Medien für die Kandidatur von Ministerpräsident Janukowitsch. Die fünf großen landesweiten Fernsehkanäle gehören entweder Wiktor Medwedschuk, dem Leiter des Präsidialamtes, oder Wiktor Pintschuk, Kutschmas Schwiegersohn. Nach Aussagen von Sergiy Taran, der am Institut für Massenmedien in Kiew arbeitet, haben die Medien in der Vorwahlperiode ein interessantes Modell von „strikter Zensur entwickelt, die an ein Militärregime erinnert“. Nach diesem temniki genannten Modell schreibt das Präsidentenamt den Massenmedien vor, welche Themen unter welchem Blickwinkel zu behandeln sind, aber auch welche Themen nicht vorkommen dürfen. In der heißen Wahlkampfphase hatte man noch mehr schmutzige Tricks auf Lager. Im August berichtete Juschtschenko, wie ein Lastwagen versuchte hatte, sein Auto, mit dem er auf Wahlkampfreise unterwegs war, über den Haufen zu fahren. Solche Unfälle sind in der Ukraine eine beliebte Methode, politische oder wirtschaftliche Konkurrenten loszuwerden.

Doch die Ukraine ist kein Polizeistaat, und die Regierung kann dem Land nicht unwidersprochen ihren Willen aufzwingen. Einen Monat nach den gezinkten Wahlen trat der neue Bürgermeister von Mukatschewo zurück. Und Anatoli Grytsenko, der stellvertretende Leiter von Juschtschenkos Wahlkampagne, äußert die Überzeugung: „Wenn die Behörden das Wahlergebnis fälschen, ist vielerorts mit Protesten zu rechnen. Und was die Reaktionen im Ausland betrifft, so betonen unsere Partner im Westen ständig, wie wichtig freie und faire Wahlen in der Ukraine sind.“ Die Kutschma-Janukowitsch-Regierung kümmere sich nicht um die Warnungen vor einem in die ferne Zukunft verschobenen Beitritt zur EU und zur Nato. „Aber ihr Besitztümer und ihre Bankkonten im Westen sind ihnen nicht egal.“

In den letzten zehn Jahren hat die Ukraine eine katastrophale Entwicklung durchlaufen. Im Zeitraum von 1992 bis 2000 schrumpfte das Pro-Kopf-Einkommen um 42 Prozent, von 1990 bis 2000 ging die Lebenserwartung um mehr als 2,5 Jahre zurück, ebenso die Einwohnerzahl, und zwar von 1990 bis 2001 von 51,6 auf 48,2 Millionen.1 Im ukrainischen Steinkohlebergbau wird – wie übrigens auch im südafrikanischen Goldbergbau – eine makabre Statistik geführt: Menschenleben pro Fördermenge. Danach kostete die Förderung von 1 Million Tonnen Kohle im Jahr 1989 durchschnittlich 1,54 Bergleuten das Leben. 1999 mussten 3,62 Arbeiter mit dem Leben bezahlen, während es Anfang 2002 schon 5 Tote für jede Million Tonnen Kohle waren – nur einer von vielen Belegen für den Zerfall der industriellen Infrastrukturen und die Gefahren, die das für die Arbeiter bedeutet.

Noch dramatischer ist der Zustand der ukrainischen Streitkräfte. Zu sowjetischen Zeiten war das Land ein Zentrum der modernsten Rüstungsindustrie; heute ist die ukrainische Armee finanziell nicht mehr in der Lage, bei den einheimischen Unternehmen neue Waffensysteme oder auch nur Ersatzteile zu kaufen. Die Armee erfährt eine gründliche Umstrukturierung, wobei die Personalstärke von 300 000 drastisch abgebaut wird. Bei Waffensystemen und in der Kommandostruktur herrscht das totale Chaos. Deswegen waren in den letzten Jahren zahlreiche Unglücksfälle zu verzeichnen. Im Oktober 2001 wurde ein Verkehrsflugzeug auf dem Weg von Tel Aviv nach Nowosibirsk über der Ukraine abgeschossen, offenbar von einer Rakete, die bei einem Militärmanöver gezündet worden war; alle 78 Passagiere fanden den Tod. Im Juli 2002 stürzte während einer Flugschau in der Nähe von Lviv (Lemberg) ein Sukhoi-27-Kampfflugzeug in die Zuschauermenge und tötete 78 Menschen. Im März 2004 erklärte Verteidigungsminister Jewchen Martschuk gegenüber einer Lokalzeitung: „Wir vermissen mehrere hundert Raketen. Sie wurden bereits ausgemustert, aber wir können sie nicht finden.“2 Nach anderen Quellen fehlt in den Inventarlisten des Militärs tatsächlich der Nachweis über 200 Raketen. Diese Nachrichten lösen im Zeitalter des internationalen Terrorismus große Unruhe aus. Denn die Bestückung einer Rakete mit einer schmutzigen Bombe – einem konventionellen Sprengkörper, der radioaktives Material verbreitet – gilt als optimale Waffe für Angriffe auf die Bevölkerung großer Städte.

Doch die schlimmste Hinterlassenschaft der Kutschma-Ära ist die Korruption. Sie hat in den herrschenden Klassen tiefe Wurzeln geschlagen. In den letzten Jahren lieferten sich ehemalige Parteifunktionäre und regionale Potentaten brutale Macht- und Verteilungskämpfe mit ständig wechselnden Allianzen. Der frühere Ministerpräsident Pawel Lazarenko, der später zu einem Rivalen Kutschmas wurde, muss sich vor einem Gericht in San Francisco wegen Geldwäsche (von 114 Millionen Dollar) und weiterer 28 Delikte verantworten.

Dieser Prozess bringt die dunkelste Seite der Grabenkämpfe und der Korruption ans Licht, die sich in den Führungszirkeln der ukrainischen Machtelite abspielen. Lazarenko, auch „der Gaskönig“ genannt, hatte früher hohe Ämter in der Kommunistischen Partei inne und trat als enger Vertrauter Kutschmas auf. Von 1992 bis 1995 war er Regierungschef im Gebiet Dnipropetrowsk, danach wurde er Ministerpräsident, bis das Anwachsen seiner Macht und seines Vermögens 1997 selbst dem Präsidenten als Bedrohung erschien. Der folgende Machtkampf zwischen Kutschma und Lazarenko wurde unter anderem mit Bomben, Autounfällen und Mordanschlägen auf Parlamentarier ausgetragen. 1999 wurde die Immunität von Lazarenko aufgehoben, der sich daraufhin in die USA absetzte, wo er wegen zahlreicher Delikte verhaftet wurde.

Als reichten diese ökonomischen und politischen Pleiten nicht aus, erlebte die Ukraine auch noch eine ganze Serie von Skandalen, die ihre bereits angeschlagene Reputation weiter beschädigt haben. Dazu gehört der „Tonbandskandal“, der sich auf die angeblichen Mitschnitte von Kutschmas Gesprächen mit Mitarbeitern bezieht. In ihnen soll er in extrem hämischen Worten über die Ausschaltung des Enthüllungsjournalisten Georgi Gongadse gesprochen haben, dessen verstümmelte Leiche im September 2000 aufgefunden wurde. Die Beziehungen mit Washington waren 2002 auf einem Tiefpunkt angelangt, als ein Abkommen bekannt wurde, mit dem Kutschma Radaranlagen und Raketen an Saddam Hussein verkauft haben soll.3 Seitdem hat Kiew jedoch den Zorn Washingtons offenbar beschwichtigt, indem es 1 600 ukrainische Soldaten in den Irak entsandte, die dort unter polnischem Kommando dienen.

All diese Probleme und Skandale haben der Ukraine negative Schlagzeilen in den Medien und ein entsprechend übles Image beschert. „Die Ukraine ist so groß – und so schwach“, hieß es im Londoner Economist. „Die Ukraine könnte eine führende Industrienation Europas sein […], stattdessen ist sie eine peinliche Belastung“, schrieb das US-Magazin Time.

Westliche Politiker scheinen dasselbe Bild von der Ukraine zu haben: groß und mit großen Problemen. Europäische wie US-amerikanische Regierungsvertreter wollen ihre Haltung zur Ukraine weitgehend davon abhängig machen, wie korrekt die Wahlen verlaufen und zu welchen Reformen die nächste politische Führung fähig sein wird. In Brüssel wurde bereits vor längerer Zeit entschieden, dass die Ukraine nicht bei der ersten oder zweiten EU-Erweiterungsrunde in Richtung Osten dabei sein kann. In Kiew registrierte man also von europäischer Seite ausgerechnet in der schlimmsten Periode, die man nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durchlaufen hat, nichts als Gleichgültigkeit und Ignoranz gegenüber den ukrainischen Interessen.

Aus der Sicht Washingtons wiederum hat die Ukraine nicht mehr dieselbe strategische Bedeutung wie früher. Zwar gibt es in Nordamerika eine starke ukrainische Diaspora, aber deren Einfluss fällt nicht ins Gewicht.4 Im Hinblick auf den „Krieg gegen den Terror“ und die hohen Ölpreise legt die US-Regierung zwar Wert auf eine stabile Partnerschaft mit dem Kreml. Deshalb drängt sie heute nicht mehr auf den Zusammenschluss der Guuam-Staaten, eines lockeren Verbandes der GUS-Staaten Georgien, Ukraine, Usbekistan, Aserbaidschan und Moldawien unter Führung von Kiew, der den russischen Einfluss zurückdrängen sollte. Damit ist die Guuam zu einer leeren Hülse geworden.

Viele Menschen in Kiew glauben, der Westen nehme die Ukraine nur zur Kenntnis, wenn wieder einmal ein Skandal auffliegt. Die Mängel ihres politischen Systems sind ihnen zwar bewusst, aber sie registrieren dennoch, dass ihr Land von der EU anders behandelt wird als ihre ostmitteleuropäischen Nachbarn. „Die westlichen Medien zeigen kaum ein Interesse, die Ukraine zu verstehen“, meint Inna Pidluska, Vorsitzende der Stiftung Europa 21, deren Ziel es ist, die Ukraine näher an Europa heranzubringen. Für Juri Miroschnitschenko, den Vizepräsidenten von Labour Ukraine, einer im Osten verankerten Partei, die den Kandidaten Janukowitsch unterstützt, „ist es unsere vordringlichste Aufgabe, eine eigene unabhängige Politik zu entwickeln. Die Ukraine ist heute schwach, deshalb werden wir von Europa und den USA nicht ernst genommen. Russland wiederum erhebt uns gegenüber territoriale Ansprüche. In den wichtigen internationalen Entscheidungsgremien über ökonomische und finanzielle Fragen ist unsere Meinung nicht gefragt.“

Dieses Land war der Schauplatz so vieler Schrecken des 20. Jahrhunderts. Der Erste Weltkrieg, die furchtbaren Exzesse des Bürgerkriegs, der stalinistische Genozid durch die Hungerepidemie im Gefolge der Kollektivierung, der Holocaust der Nazis, die großen Schlachten zwischen den deutschen und den sowjetischen Armeen, all diese schrecklichen Ereignisse haben in der Ukraine tiefe Narben hinterlassen. Die Ukrainer mögen stolz auf das Kiewer Reich als das älteste slawische Staatsgebilde verweisen, das lange vor dem späteren Großfürstentum Moskau gegründet wurde. Doch ihre neuere Geschichte nimmt sich weit bescheidener aus.

Eine nationale Zerreißprobe ist bisher ausgeblieben

DIE Teilung zwischen den benachbarten Mächten Russland und Polen erzeugte eine ambivalente Identität und die Polarisierung zwischen zwei Visionen nationalen Selbstbewusstseins, die auf unterschiedlichen geografischen, ethnischen und historischen Konzepten beruhen. Unter diesen Voraussetzungen ist es eine große Leistung, dass die Ukraine – wie es ein ausländischer Diplomat ausgedrückt hat – nicht den Versuchungen des Nationalismus erlegen ist und eine innere Zerreißprobe vermeiden konnte.

Der neue Atomreaktor, der am 9. August im Kraftwerkskomplex von Khmelnitsky in Betrieb genommen wurde, ist mehr als eine nur symbolische Wende in der ukrainischen Politik. Das Projekt wurde von der Ukraine aus eigenen Mitteln finanziert, obwohl mehrere europäische Regierungen dem Land Finanzhilfen in Höhe von 3 Milliarden Dollar zugesagt hatten, um nach der Abschaltung der Reaktorblöcke 1 und 3 von Tschernobyl alternative Stromerzeugungsquellen zu erschließen. Die Ukraine behauptet, ihre eingegangenen Verpflichtungen erfüllt zu haben, während die europäischen Gelder nie eingetroffen sind, weil Sicherheitsauflagen nicht erfüllt worden seien.5

Der neue Atomreaktor steht für eine strategische Neuorientierung: Mit dem Unglück von 1986 in Tschernobyl musste die Ukraine die schlimmste nukleare Katastrophe in Friedenszeiten erleben. Und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war das Land auch für kurze Zeit die drittgrößte Nuklearmacht der Welt, die über 1 300 atomare Gefechtsköpfe verfügte, bis das Abkommen mit Russland und den Vereinigten Staaten dafür sorgte, dass diese nach Russland abtransportiert und dort zerstört wurden. Heute ist die Ukraine offensichtlich entschlossen, trotz der Risiken erneut auf die Kernenergie zu setzen, um einerseits ihr Energieproblem zu lösen und sich andererseits gegenüber ihren Nachbarn als politische Macht darzustellen.

In dem Maße, in dem die Ukraine unter der Isolierung vom Westen und den selbst gemachten Skandalen litt, fand sie im Osten bei Russland immer offenere Arme. Erst kürzlich ermahnte Präsident Putin den Westen, sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Ukraine einzumischen, als er in Jalta vor einer Gruppe von Unternehmern aus beiden Ländern meinte: „Ihre Agenten innerhalb wie außerhalb unserer Länder versuchen alles, um die Integration zwischen Russland und der Ukraine zu behindern.“6

Angesichts der Ausdehnung von Nato und EU nach Osten versucht Russland, einen von Moskau dominierten Block postsowjetischer Staaten zu bilden, und in dieser Strategie kommt der Ukraine ein Schlüsselfunktion zu. Seit Wiktor Tschernomyrdin, der frühere Ministerpräsident und Chef des russischen Gaskonzerns Gazprom, den Kreml als Botschafter in Kiew repräsentiert, hat Russland bedeutende Anteile an der Energieinfrastruktur der Ukraine erworben, aber auch erhebliche Summen in diese wie auch in die Medienbranche investiert. Man sollte dieses Engagement allerdings auch nicht überschätzen, denn insgesamt orientieren sich die Handelsbeziehungen der Ukraine stärker nach Europa als nach Russland.7 Und die Russen bauen trotz ihrer neuen Partnerschaft mit der Ukraine einen neuen Kriegshafen für ihre Schwarzmeerflotte in Noworossisk.8

Auch der Gemeinsame Wirtschaftsraum mit Russland, Weißrussland und Kasachstan kommt nicht voran. Doch die Nachrichten, die aus dem „Grenzland“ (so die Bedeutung des Worts „Ukraine“) kommen, sind nicht alle schlecht. Die Wirtschaft des Landes macht rasche Fortschritte und lässt auf bessere Zeiten hoffen. Das erstaunliche Wirtschaftswachstum von inflationsbereinigt rund 9 Prozent im letzten Jahr soll auch in diesem Jahr fast erreicht werden können. Die Ukraine hat damit die höchste Wachstumsrate aller GUS-Länder,9 die auch rascher stieg als die sämtlicher anderer europäischer Länder.

Der Einfluss und die Interessen Russlands werden immer eine Rolle spielen, doch die Ukraine ist und bleibt ein unabhängiges Land, das einen Platz in Europa anstrebt. Der nächste Präsident der Ukraine wird vielleicht noch immer besser Russisch als Ukrainisch sprechen, doch er wird, um seine eigene Legitimation zu erhöhen, die Unabhängigkeit des Landes gegenüber Moskau verstärken. Die EU mag die politischen Zustände in der Ukraine nicht berauschend finden, doch sie kann es sich nicht leisten, die neuen Nachbarn dauerhaft zu ignorieren.

deutsch von Niels Kadritzke

* Journalist, Eriwan.

Fußnoten: 1 „The Power of Decentralization, Ukraine Human Development Report 2003“, hg. vom United Nations Development Programme, Kiew 2003, S. 14 und S. 99. 2 Valentinas Mite, „Ukraine: Kiev Says Hundreds Of Soviet-Era Missiles Are Missing, But Not Necessarily Lost“, RFE/RL, Prague, 29. 3. 2004. 3 Nezavisimaya Gazeta, Moskau, 29. 3. 2002. 4 1,2 Millionen US-Bürger und eine Million Kanadier sind ukrainischer Abstammung. Siehe Taras Kuzio, „La diaspora ukrainienne, force politique ou agent d‘influence?“, Courrier des pays de l‘Est, 5. 2. 2000. 5 Oleg Ivanov, „Ukraine: To K2 and Beyond“, Transitions Online (www.tol.cz) vom 16. 8. 2004. 6 Valeria Korchagina, „Putin Tells West Not to Meddle in Ukraine“, The Moscow Times, 27. 7. 2004. 7 1994 machte der Handel mit Russland 47,5 Prozent des ukrainischen Gesamtaußenhandels aus. Dieser Anteil ging bis 2001 auf 32 Prozent zurück und fiel bis 2002 auf 30 Prozent. Siehe Olexiy Haran and Rostyslav Pavlenko, „The Paradox of Kuchma‘s Russian Policy“, Ponars Policy Memo 291, September 2003. 8 Dies ist ein Verstoß gegen die Abmachung, bis 2017 den Hafen von Sewastopol zu benutzen. Siehe Nezavisimaya Gazeta, 11. 8. 2004. 9 Interfax, 3. 3. 2004.

Le Monde diplomatique vom 08.10.2004, von VICKEN CHETERIAN