08.10.2004

Der Große Sprung in die Zukunft

zurück

Der Große Sprung in die Zukunft

Beim Finanzministertreffen der G-7-Staaten in Washington war am 1. Oktober erstmals auch China zu Gast. Für das frühere „Reich der Mitte“ bedeutet dies ein erstaunliches Comeback in den Kreis der globalen Wirtschaftsmächte. Vom 16. bis 18. Jahrhundert hatte China den Handel innerhalb Asiens dominiert. Nach der quasi kolonialen Unterwerfung im 19. Jahrhundert und der Eroberung durch Japan erfolgte die nationale Befreiung nach 1945 unter kommunistischem Vorzeichen. Die heutige KP-Führung betreibt einen ökonomischen Umbau, der China einen erstaunlichen Boom beschert. Doch der Aufstieg zur globalen Wirtschaftsmacht produziert zugleich krasse Einkommensunterschiede - und wieder vor allem zu Lasten der Bauern.

Von PHILIP S. GOLUB *

NACH Japan und den anderen neu industrialisierten Ländern Ostasiens – Südkorea und Taiwan – hat China binnen 20 Jahren eine so enorme Wachstumsdynamik entfaltet, dass es inzwischen eine wesentliche Rolle in der Weltwirtschaft innehat. China ist sogar dabei, zum eigentlichen Pol der regionalen Handelsbeziehungen zu werden.

Diese Transformation widerlegt die ethnozentrische Sicht des Westens auf Asien, insofern diese unterstellt, dass sich der nahe wie der ferne „Orient“ aufgrund unveränderlicher kultureller Faktoren einer Modernität verweigern, die seit der europäischen industriellen Revolution als rein westliche Errungenschaft verstanden wird. Das Ausmaß der Veränderungen im „Okzident“ wirft neuerdings eine ganz andere Frage auf: Könnte nicht Asien wieder ins Zentrum der Weltwirtschaft rücken, was die internationalen Gewichte grundlegend verschieben würde? Im New York Times Magazine wurde im Sommer gefragt, ob das 21. Jahrhundert womöglich ein „chinesisches Jahrhundert“ sein werde. Denn falls China seine Wachstumsdynamik ohne größere soziale oder politische Brüche aufrechterhalten kann, wird es im Lauf dieses Jahrhunderts unzweifelhaft eine Hauptrolle im internationalen Wirtschafts- und Finanzwesen übernehmen.

Diese Entwicklung würde an die weit zurückliegende Zeit anknüpfen, da Asien eine andere Stellung im Weltsystem innehatte, bevor es im Zuge der Kolonisierung und der industriellen Revolution in Europa zu einem „Nord-Süd-Bruch“ und zur Herausbildung von „Dritte-Welt-Regionen“ kam. Auf einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten gesehen, lässt sich sagen, dass China wie ganz Asien im Begriff ist, an seine vorkoloniale Geschichte anzuknüpfen. Und damit die Position zurückzugewinnen, die es vor 1800 eingenommen hatte, als es ein Zentrum des internationalen Austauschs war und seine Manufakturwirtschaft die stärkste der Welt.

Damals stand China im Mittelpunkt eines dichten, seit Jahrhunderten bestehenden Netzes regionaler Handelsbeziehungen. Asien als Ganzes war der weltweit wichtigste und profitabelste Wirtschaftsraum. 1776 schrieb Adam Smith, der schottische Begründer der modernen Volkswirtschaftslehre, in seinem Hauptwerk „Der Reichtum der Nationen“: „China ist sehr viel reicher als alle Gegenden Europas.“ Das war den Jesuiten schon lange bekannt. In Pater Jean Baptiste du Haldes vierbändiger China-Enzyklopädie von 1735, die den Philosophen Voltaire zu begeisterten Kommentaren beflügelte und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als Pflichtlektüre für jedes Gespräch über China galt, war von einem blühenden Reich der Chinesen zu lesen, dessen innerer Handelsaustausch unvergleichbar entwickelter sei als der innerhalb Europas.

Hundert Jahre nach dieser „Déscription de la Chine“ hatte Europa die Vorherrschaft über die ganze Welt erlangt. Auf jener kleinen, zerfledderten, dem asiatischen Kontinent im Westen angehängten Halbinsel bildete sich in der Folge die Vorstellung heraus, dass der Ferne Osten auf immer in einen vormodernen Zustand gebannt sein werde. Die deutschen Philosophen, allen voran Hegel in seinen für das Chinabild Europas höchst aufschlussreichen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ von 1837, stellten sich China als eine geschlossene eigene Welt vor, „gleichsam noch außer der Weltgeschichte“. Für den französischen Historiker und Schriftsteller Ernest Renan war das chinesische Volk ein „Arbeitervolk von wunderbarem handwerklichem Geschick, fast ohne jedes Ehrgefühl“, schrieb er 1871. Dieses Volk sei einer „gerechten Behandlung“ zuzuführen, was für ihn hieß, dass man ihm eine „hohe Schuld zugunsten der erobernden Völker“ abfordern müsse.1 Solche Sätze wurden auf dem Höhepunkt der Kolonisierung geschrieben.

Dabei war vor 1800 der Handelsaustausch zwischen Chinesen, Indern, Japanern, Siamesen, Javanern und Arabern viel intensiver als der innereuropäische Handel. An wissenschaftlichen und technischen Kenntnissen waren die Chinesen den Europäern in vielen Bereichen voraus. „Auf technologischer Ebene war China Europa vor wie nach der Renaissance überlegen“, betont der englische Wissenschaftshistoriker Joseph Needham.2 Das zeigte sich in der Stahl- und Eisenverarbeitung, bei feinmechanischen Erzeugnissen (Uhren), in der Bautechnik (Hängebrücken) und der Produktion von Feuerwaffen.

Kein Wunder also, dass Asien in der Manufakturwirtschaft der damaligen Zeit weltweit absolut führend war. Nach Schätzungen des Genfer Wirtschaftshistorikers Paul Bairoch lag der Anteil Chinas an der globalen Manufakturproduktion im Jahr 1750 bei 32,8 Prozent, der Europas bei 23,2 Prozent, wobei die Bevölkerungszahl mit 207 Millionen für China und 130 Millionen für Europa angegeben wird.3 Zusammengenommen erreichten Indien und China einen Anteil von 57 Prozent an der globalen Manufakturproduktion; rechnet man die südostasiatischen Länder, Persien und das Osmanische Reich hinzu, kommt man für Asien im weiteren Sinne (ohne Japan) auf nahezu 70 Prozent. Besonders groß war der Vorsprung Asiens bei der Fertigproduktion von Textilien wie etwa bei indischen und chinesischen Baumwoll- und Seidenwaren, also in dem Sektor, der später in der industriellen Revolution Europas – auch exportmäßig – die größte Bedeutung erlangen sollte.

Von Bairoch lernen wir des Weiteren, dass 1750 nicht nur die Erzeugung, sondern auch die Wertschöpfung Chinas über dem europäischen Durchschnitt lag. Legt man die oben genannten Bevölkerungszahlen zugrunde, belief sich das chinesische Bruttosozialprodukt pro Kopf auf 228 Dollar gegenüber 150 bis 200 Dollar in den europäischen Ländern.4 Mit 66 Prozent der Weltbevölkerung stellte Asien im weiteren Sinne damals knapp 80 Prozent der weltweit produzierten Reichtümer her.

Fünfzig Jahre später lagen China und Europa beim Pro-Kopf-Niveau des Bruttosozialprodukts gleichauf, während England und Frankreich als einzige europäische Länder schon einen etwas höheren Industrialisierungsgrad als China aufwiesen. Insgesamt bezeichnet der Soziologe und Ökonom André Gunder Frank5 China und Indien als die beiden „zentralsten“ Großräume der Weltwirtschaft. Dabei erklärt er die Wettbewerbsfähigkeit Indiens mit der „relativen und absoluten Produktivität“ seiner Textilbranche und der „Vorherrschaft auf dem Weltmarkt der Baumwollwaren“, während er China eine „noch größere Produktivität im industriellen und landwirtschaftlichen Bereich, beim Transportwesen (Binnenschifffahrt) und im Handel“ zuspricht. Wie man mit Blick auf kleinere, aber prosperierende Staaten wie Siam (heute Thailand) feststellen kann, war diese Dominanz auch jenseits der Grenzen der beiden asiatischen Riesen anzutreffen. Auf der Ebene der Weltökonomie spielten Europa und Amerika, die vor 1800 hauptsächlich auf das atlantische Handelsdreieck beschränkt waren, eine „nicht besonders bedeutende Rolle“6 .

Die hier zusammengestellten Elemente ergeben ein Bild, das der immer noch weit verbreiteten Vorstellung, das Zeitalter des Westens habe um 1500 mit der Entdeckung und der Kolonisierung Amerikas begonnen, radikal widerspricht. Der tiefe Bruch, der sich durch die Welt zieht, erfolgte erst später, im 19. Jahrhundert, mit der Beschleunigung der industriellen Revolution und der kolonialen Expansion, als die globale Herrschaft der Europäer auch den Niedergang der Wirtschaft Asiens bewirkte. Ein Niedergang, der für Indien das quasi vollständige und für China das teilweise Verschwinden ihrer handwerklichen Manufakturen im Verlauf des 19. Jahrhunderts bedeutete.

Dieser Verfall wurde durch einen doppelten Mechanismus bewirkt. Zunächst durch den Vorsprung, den Europa auf der technischen Ebene erringen konnte. Die maschinelle Arbeitsweise des Westens ermöglichte eine wesentliche Steigerung der Produktivität und somit ein explosionsartiges Wachstum der Manufakturbetriebe, deren Produktionskosten ebenso rapide sanken. Zum anderen resultierte die „Entindustrialisierung Asiens“ aus ungleichen Handels- und Tauschbeziehungen, die den Kolonien von den Mutterländern aufgezwungen wurden. Auf den indischen und chinesischen Märkten spielte sich der Wettbewerb mit den europäischen Manufakturen im Rahmen eines „Freihandels“ ab, der alles andere als frei war. Die Kolonien wurden gezwungen, ihre Grenzen einseitig und ohne Gegenleistung für die europäischen Produkte zu öffnen.

Das war der Grund für den raschen Niedergang, den die Textilindustrie in Indien erlebte, die 1800 in der Baumwollverarbeitung noch führend gewesen war. Indien wurde ein reines Exportland für Rohbaumwolle und musste am Ende des 19. Jahrhunderts schließlich seinen gesamten Eigenbedarf an Textilwaren durch Importe decken. Zu den tragischen Folgen dieser Umwandlung in ein Rohstoff exportierendes Land gehören, abgesehen vom allgemein sinkenden Lebensstandard der Bevölkerung, die verheerenden Hungerepidemien, die dadurch verursacht wurden, dass jetzt Baumwolle statt Nahrungsmittelpflanzen angebaut wurde.7 Die Chinesen, die Mitte des 19. Jahrhunderts in den beiden Opiumkriegen erst von Großbritannien, dann von Frankreich zum Konsum der aus Indien stammenden Droge gebracht wurden,8 mussten ungleiche Verträge akzeptieren. Dadurch erfuhr das Land eine partielle Entindustrialisierung v. a. bei der Eisen- und Stahlverarbeitung.

Das Ergebnis war eine Dritte Welt, ein im Laufe des 19. Jahrhunderts stetig wachsendes Gefälle zwischen kolonisierten und kolonisierenden Ländern. Während die chinesischen und indischen Manufakturen um 1800 noch 53 Prozent der Weltproduktion hergestellt hatten, waren es 1900 nur noch 7,9 Prozent. Und während sich das Bruttosozialprodukt in Europa und Asien zu Beginn des 19. Jahrhundert ungefähr die Waage hielt – pro Kopf im Durchschnitt 198 Dollar für Europa und 188 Dollar für die künftige Dritte Welt9 –, war daraus bereits im Jahr 1860 ein Verhältnis von 2 zu 1 und im Fall Großbritanniens sogar von 3 zu 1 geworden (575 zu 174 Dollar). Diese „bemerkenswerten und schrecklichen Zahlen“ (Paul Kennedy10) machen deutlich, dass der Einbruch gegenüber Europa nicht nur einen relativen, sondern einen absoluten Rückstand bedeutete. Aufgrund der europäischen Expansion war der Lebensstandard in den kolonisierten Ländern 1860 tiefer gesunken, als er 1800 gewesen war.

Nur Japan und das Königreich Siam konnten sich der Kolonisierung entziehen. Dank der umfassenden Reformen der Meiji-Zeit und dem Entstehen eines starken dirigistischen Staates war Japan das einzige nichtwestliche Land, das ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine erfolgreiche Industrialisierung und Modernisierung betreiben konnte. Darin liegen die Wurzeln der Wirtschaftsblüte, die Japan trotz der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zustande gebracht hat.

Das gilt auch für China. Der wirtschaftliche Aufstieg, den das Land in den letzten 20 Jahren geschafft hat, ist auch ein Produkt seiner langen Geschichte. Der Westen, der sich als das denkende Subjekt in der Geschichte der Anderen zu imaginieren pflegt, wird seine eigene Geschichte künftig neu denken müssen – nicht mehr als glorreiche Ausnahme, sondern als begrenzten Moment im Ablauf der Weltgeschichte.

deutsch von Josef Winiger

* Journalist

Fußnoten: 1 Ernest Renan, „La Réforme intellectuelle et morale“, Paris 1871. 2 Zitiert nach André Gunder Frank, „Re-Orient, Global Economy in the Asian Age“, University of California Press, 1998. 3 Paul Bairoch, Victoires et déboires, Histoire économique et sociale du monde du XVIème siècle à nos jours, Paris 1997; alle folgenden Statistiken sind diesem Werk entnommen. 4 Ausgedrückt im Dollarwert von 1960. 5 André Gunder Frank, a. a. O. 6 Sie handelten vornehmlich afrikanische Sklaven gegen Rohstoffe (Kaffee, Kakao, Zucker) aus Amerika; siehe nebenstehende Karte. 7 Mike Davis, „Eine glanzvolle Organisation des Hungers“, in Le monde diplomatique, April 2003. 8 Siehe S. 18 dieser Ausgabe. 9 Ausgedrückt im Dollarwert von 1960. 10 Vgl. Paul Kennedy, „Rise and Fall of the great Powers“, New York 1989.

Le Monde diplomatique vom 08.10.2004, von PHILIP S. GOLUB