Das babylonische Paradies
Die irakischen Juden: ein unbekanntes Kapitel aus dem 20. Jahrhundert von Adam Shatz
Am 27. April 1950 flog ein Mann, den sein Pass als Richard Armstrong auswies, von Amsterdam nach Bagdad. Als Repräsentant einer US-amerikanischen Charter-Fluggesellschaft namens Near East Air Transport (NEAT) wollte er mit dem irakischen Regierungschef Tawfiq al-Suwaidi einen Vertrag machen, um irakische Juden nach Zypern auszufliegen.
Nur sechs Wochen zuvor hatte die irakische Regierung ein Ausbürgerungsgesetz beschlossen, das jüdischen Bürgern die Auswanderung ermöglichte, wenn sie ihre Staatsbürgerschaft – binnen eines Jahres – aufgaben. Al-Suwaidi ging damals davon aus, dass von den 125 000 irakischen Juden zwischen 7 000 und 10 000 das Land verlassen würden. Doch dann detonierte am letzten Tag des Passahfestes in der Abu-Nawas-Straße eine Bombe neben einem Café, in dem viele Juden verkehrten. Die mysteriöse Explosion versetzte die Juden in Panik; alsbald überstieg die Zahl der Ausbürgerungsanträge alle früheren Erwartungen.
Seit Beginn des Krieges zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn 1948 war die Lage der Juden im Irak in beunruhigendem Tempo schwieriger geworden. In Bagdad betrachtete man die Juden als eine Art fünfte Kolonne der Zionisten; auch diejenigen, die sich eindeutig zum irakischen Staat bekannten, wurden zunehmend verdächtigt und – auch physisch – bedroht. Im Frühjahr 1950 war die Frage nicht mehr, ob, sondern wann sie emigrieren würden. Am 9. Mai unterzeichnete die NEAT den Vertrag mit der Regierung in Bagdad über die Ausreise der Juden.
Für Richard Armstrong und die NEAT war die Verpflanzung der ältesten jüdischen Gemeinschaft nicht irgendein Geschäft, sondern eine politische Mission. Armstrong war in Wahrheit der Mossad-Agent Shlomo Hillel, der (noch mit dem Vornamen Selim) im Irak geboren war; heimlicher Eigentümer der NEAT war die Jewish Agency und Ziel der Flüge nicht Zypern, sondern Israel.
Dass al-Suwaidi und sein Innenminister Saleh Jabr sich täuschen ließen, ist unwahrscheinlich. Der ziemlich dunkelhäutige Hillel gab sich als in Indien aufgewachsener Sohn eines britischen Kolonialbeamten aus, sah aber nicht gerade nach einem Armstrong aus. Zudem war er zwei Jahre zuvor in Bagdad verhaftet worden, wo er unter dem Decknamen Fuad Salah in geheimen Kellern und Mansarden zionistische Kämpfer ausgebildet hatte. Aber wenn die irakische Seite um seine Identität wusste, ließen sie den Bluff nicht auffliegen. Da sie an dem Reiseunternehmen, das sich die NEAT als Kooperationspartner ausgesucht hatte, beteiligt war, zog sie aus dem Geschäft sogar Profit. „Wir verabschiedeten uns aufs Herzlichste“, schrieb Hillel in seinen Memoiren über das Treffen mit al-Suwaidi.1 Ende 1952 waren fast alle irakischen Juden ausgeflogen, die „Operation Esra und Nehemia“, wie der Mossad sie nannte, abgeschlossen.
Der Exodus der Juden aus Mesopotamien, deren Präsenz dort bis zur Zerstörung des ersten Tempels im Jahre 587 v. Chr. zurückreicht, wäre noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts undenkbar gewesen. Hier ist der Talmud entstanden, wurden jüdische Gesetze abgefasst. Aber mehr als ferne Erinnerungen waren es handfeste Gründe, die die Juden an die Heimat ihrer Eltern banden: ein Leben in Sicherheit und Wohlstand.
Von allen jüdischen Gemeinschaften im Nahen und Mittleren Osten waren die Juden in Mesopotamien am wohlhabendsten und am stärksten assimiliert und arabisiert. Unter osmanischer Herrschaft hatten sie ihre Religion unbeschränkt ausüben können und wurden zur ökonomisch stärksten Gruppe im Land. Es gab kaum einen Bereich mesopotamischer Kultur, den die Juden nicht beeinflusst hatten: von der Musik, die in den Cafés von Bagdad gespielt wurde, bis zur „schwebenden Amba“, einer marinierten Mangofrucht, die Bagdader Juden aus Indien mitgebracht hatten.
In politischen Diskussionen wurde in den letzten Jahren wiederholt auf die alltäglichen Demütigungen der Juden im Osmanischen Reich verwiesen. Damit will man die muslimische Toleranz als Mythos entlarven: Sie sei nichts als Beschönigung der Abhängigkeit von unberechenbaren und häufig grausamen muslimischen Herrschern. Die Erinnerungen irakischer Juden erzählen eine andere Geschichte.
Violette Shamash ist nicht die einzige Zeitzeugin, die das Leben ihrer Familie vor dem Einmarsch britischer Truppen während des Ersten Weltkriegs als „Paradies“ beschreibt. 1912 geboren, schrieb sie die letzten zwanzig Jahre ihres Lebens ihre „Memories of Eden“2 nieder, eine opulente Schilderung des Lebens in der jüdischen Elite von Bagdad. Das Buch ist ein Porträt der Stadt aus der Perspektive der Kaufmannsvilla, die ihr Vater am Ufer des Tigris hatte bauen lassen, genau gegenüber der heutigen „grünen Zone“, in der sich das US-Oberkommando und die irakische Regierung verschanzt haben.
Die Großfamilie Shamash wohnte in getrennten Flügeln der Villa, die im Erdgeschoss durch großzügige Flure verbunden waren. Der Garten war erfüllt vom Duft der Walnuss- und Aprikosenbäume und des auf einem mit Holz befeuerten Lehmofen (tanur) zubereiteten Kebab. Mit der Zeit wurde auch der westliche Lebensstil attraktiv: Die Familie kaufte bei Orosdi Beck, dem ersten irakischen Kaufhaus; Violette ging auf eine Schule der Alliance Israélite Universelle, einer französischen Organisation, die damals im ganzen Mittleren Osten aktiv war. Doch die Familie befolgte auch die lokalen Traditionen: Die Frauen trugen Amulette gegen den „bösen Blick“, und wenn ein Kind erkrankte, wurde ein muslimischer Heiler herangezogen.
Wie oft in den Memoiren von reichen Leuten, die später ins Exil gingen, erscheint dieses Leben in Bagdad wie das reinste Idyll, in das jäh das Unheil einbricht: „Alle Gemeinschaften lebten friedlich zusammen, wobei sich die Leute ganz unbefangen und herzlich wegen ihrer Religion aufzogen“, bis irgendwann „das Gift des arabischen Nationalismus und der Nazismus in den Blutkreislauf eindrangen“.
Das jüdische Leben unter der osmanischen Herrschaft hatte natürlich auch seine bitteren Seiten: Nur wenige Juden lebten in Palästen wie die Familie Shamash. Als Mitglieder einer nichtmuslimischen „Milliyet“ (Nationalität) mussten sie eine diskriminierende Steuer zahlen, im Übrigen ließ man sie weitgehend in Ruhe. Weitere Fortschritte schienen nur eine Frage der Zeit.
Abgesehen von den wenigen kurdischen Juden lebte die Mehrheit in den größeren Städten, die wohlhabenderen hatten sich als Bankiers, Händler und Geldverleiher so unentbehrlich gemacht, dass die Märkte in Bagdad nicht am muslimischen Ruhetag, sondern am Sabbat geschlossen blieben. Im 19. Jahrhundert war Bagdad stolz auf seine jüdischen Dynastien, etwa auf die Sassuns, die Abrahams, die Esras oder die Kedouries, deren Finanz- und Handelsimperien (für Baumwoll-, Tabak-, Seiden-, Tee- und Opiumimporte) sich bis Manchester, Bombay, Kalkutta, Singapur, Rangun, Schanghai und Hongkong erstreckten.
Als der britische Außenminister Balfour 1917 die Unterstützung für die Schaffung einer jüdischen Heimstätte in Palästina ankündigte, erweckte „die Ankündigung in Mesopotamien keinerlei Interesse“, schrieb Arnold Wilson, der höchste britische Zivilbeamte in Bagdad, nach einem Treffen mit jüdischen Notabeln an das Londoner Außenministerium. Palästina sei ja nur „ein armes Land“ und Jerusalem keine Stadt, in der man gut leben könne: „Verglichen mit Palästina ist Mesopotamien ein Paradies. Dies ist der Garten Eden, meinte einer, aus diesem Lande wurde Abraham vertrieben – gebt uns eine gute Regierung, und wir werden dieses Land zum Blühen bringen. Für uns ist Mesopotamien unsere Heimat, eine nationale Heimstätte, zu der die Juden aus Bombay, Persien und der Türkei gern kommen würden.“
Die Bagdader Juden begriffen allerdings nicht, dass die Regeln des osmanischen Milliyet-Systems, das die nichtmuslimischen Minderheiten auf besondere Weise geschützt hatte, unter der britischen Herrschaft nicht mehr galten. Nach dem Ersten Weltkrieg kontrollierten die Briten die Provinzen Bagdad, Basra und Mosul als Mandatsmacht des Völkerbunds. Die Bagdader Juden und die neue Macht empfanden eine spontane Verbundenheit. Aber die reicheren Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft erwarteten von dieser Freundschaft mehr, als die Briten bieten konnten, wenn sie friedliche Beziehungen mit der muslimischen Bevölkerung aufrechterhalten wollten. Und die war in dem seit 1921 arabischen Königreich Irak deutlich in der Mehrheit.
König Faisal und sein toleranter Nationalismus
Die Angst der Juden vor einer von der Mehrheitsbevölkerung bestimmten Regierung verleitete sie zu fatalen Fehleinschätzungen. Als 1918 britische Truppen in Bagdad einmarschierten, sprachen sich der Präsident des Jüdischen Rats und der amtierende Oberrabbiner für eine direkte britische Herrschaft aus mit der Begründung, ihre muslimischen Mitbürger seien nicht in der Lage, „die Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten wahrzunehmen“. Nachdem dieser Vorschlag nicht durchgegangen war, bemühte sich eine Gruppe jüdischer Notabeln um die britische Staatsbürgerschaft. Doch die Briten, die den aufkommenden arabischen Nationalismus zügeln wollten, konnten diesem Ansinnen unmöglich nachkommen. „Die Bagdader Juden hatten von Anfang an keine Chance“, schrieb 1970 der britische Historiker Elie Kedourie, der selbst einer Bagdader jüdischen Familie entstammt, „sie waren außerstande, die ganze Situation zu begreifen.“3
In den ersten zehn Jahren des irakischen Staats ging es ihnen noch gut, weil sie die Protektion des neuen Königs Faisal genossen, der versichert hatte: „In der Sprache des Patriotismus sind die Worte Juden, Muslime und Christen ohne jede Bedeutung; hier gibt es nur ein Land namens Irak, und alle seine Bewohner sind Iraker.“ Ein weiterer mächtiger Verbündeter der jüdischen Gemeinschaft war Nuri al-Said, der Mann Londons in Bagdad, der bis 1958 – bis zu seiner Ermordung und dem Sturz der Monarchie – insgesamt 14-mal irakischer Premierminister war.
Zu dieser Zeit kamen die westlich gebildeten Juden, häufig zweisprachig in Arabisch und Englisch, im öffentlichen Dienst unter, bestimmten das Wirtschaftsleben und halfen, die Fundamente eines modernen Staats zu legen. Doch ihre engen Verbindungen zu König Faisal und Nuri al-Said wurden mit der Zeit zu einer Belastung. Die politische Klasse des Irak, schreibt Kedourie, verachtete die Monarchie „als ein Fantasiereich, das auf falschen Ansprüchen beruhte und nach britischen Vorstellungen und im britischen Interesse funktionierte“. Das zeigte sich in einer Reihe demütigender „Abkommen“, mit denen die Souveränität des Landes abgeschafft und die britische Dominanz festgeschrieben wurde. Mit dem Vertrag von 1930 (drei Jahre nach der Entdeckung von Ölvorkommen im Raum Kirkuk) erhielten die Briten beispielsweise die Kontrolle über die irakische Außenpolitik.
Als Freunde der Briten wurden die Juden logischerweise zur Zielscheibe des antikolonialen Volkszorns. Die arabischen Massen identifizierten sie mit gleich zwei britischen Mandaten: dem über den Irak und dem über Palästina. In Wirklichkeit standen die irakischen Juden dem Zionismus gleichgültig, wenn nicht feindselig gegenüber. Zwar mochten einige einen gewissen Stolz auf die „nationale Heimstätte“ der Juden empfunden haben, aber der war überlagert durch die Sorge, dass dieses Projekt für die Juden im Irak, die wegen ihrer enormen ökonomischen Macht ohnehin schon viele Ressentiments auf sich zogen, eine Gefährdung bedeutete.
Nun behaupteten aber die Zionisten in Palästina, in Namen des jüdischen Volkes zu sprechen – also auch im Namen der irakischen Juden. Die konnten sagen oder tun, was sie wollten (einige spendeten sogar für den arabischen Widerstand in Palästina), nichts schützte sie davor, in der irakischen Presse und im Radio als fünfte Kolonne hingestellt zu werden. Das gilt besonders für die Zeit nach dem Tod König Faisals 1933. Dessen Sohn und Nachfolger, König Ghazi, der sich als Anhänger des Panarabismus gab und mit Naziparolen hantierte, verfügte eine Steuer für emigrierende Juden und freundete sich mit Fritz Grobba, Hitlers eiferndem Botschafter in Bagdad, an. Die Deutschen hatten ein Auge auf das irakische Öl geworfen und versuchten, Einfluss auf die arabischen Nationalisten in der Armee zu gewinnen, indem sie deren antibritische und antizionistische Gefühle bedienten. Eine paramilitärische Truppe, organisiert nach dem Vorbild der Hitlerjugend, begann in den Straßen von Bagdad Juden zu belästigen. Mit der Zeit, berichtet Violette Shamash, „kamen unsere Männer immer früher nach Hause, weil sie Angst hatten, allzu lange in der Stadt zu bleiben“.
Als König Ghazi 1939 bei einem Autounfall zu Tode kam (den manche für ein von Nuri al-Said und den Briten organisiertes Attentat hielten), konnten die Juden ein wenig aufatmen. An seine Stelle trat – als Regent für seinen vierjährigen Sohn – der Emir Abdal-Ilah, Ghazis probritischer Onkel. Doch nach dem Scheitern des arabischen Aufstands in Palästina im selben Jahr traf der Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, in Bagdad ein und startete eine Hetzkampagne gegen Juden. Al-Husseini wurde zum Inspirator einer Gruppe prodeutscher, panarabischer Obristen namens „Goldener Platz“ unter Führung von Raschid Ali al-Gailani. Für diese Leute gehörten die Iraker zur größeren arabischen Nation, in der die Juden ein prinzipiell fremdes Element darstellten.
Im April 1941 setzten die Obristen den Regenten ab und schlossen einen Geheimvertrag mit den Achsenmächten. Deutschland, Italien und Japan sollten Öl- und Pipelinelizenzen erwerben, irakische Häfen nutzen und sogar Marine- und Militärstützpunkte einrichten können. Doch im Mai marschierten britische Truppen ein und brachten den Regenten wieder an die Macht. Ohne diese Intervention hätte die Wehrmacht ihr „Unternehmen Barbarossa“ im Sommer 1941 vielleicht mit irakischem Öl bestreiten können.
Doch die britische Invasion führte auch zu den schlimmsten Übergriffen auf jüdisches Leben und Eigentum in der Geschichte des Irak, dem farhud (wörtlich: „Zusammenbruch von Recht und Ordnung“) vom Juni 1941. Die Al-Gailani-Anhänger hatten angedroht, die Juden für ihren „Verrat“ zu bestrafen, und ein britischer Geheimdienstler hatte gewarnt: „Wenn unsere Truppen nicht einmarschieren, wird es viele Tote geben“, aber die Briten blieben, nachdem der Regent zurückgekehrt war, in den Außenbezirken von Bagdad stehen. Die offizielle Begründung lautete, die Präsenz britischer Bajonette würde „die Würde unseres Verbündeten beeinträchtigen“. Um die Fiktion aufrechtzuerhalten, dass die Briten den Irak nicht etwa besetzt, sondern lediglich die legitime Regierung wieder eingesetzt hätten, ließ man die besiegten Kämpfer al-Gailanis mit ihren Waffen nach Bagdad zurückkehren.
Das geschah am 1. Juni, dem Tag des jüdischen Wochenfests Schawuot. Als die Kämpfer an jenem Morgen – nicht truppweise, sondern einzeln – über die Khir-Brücke im Westen von Bagdad marschierten, kamen ihnen kleine Gruppen von festlich gekleideten Juden entgegen. Die Al-Gailani-Leute gerieten in Wut: Weil Sonntag und nicht Sabbat war, gingen sie davon aus, dass die Juden ihre Festtagskleidung wegen der Rückkehr des Regenten angelegt hatten. Sie gingen auf die Juden los, zuerst mit Fäusten, dann mit Messern. So begann der farhud. Die Orgie der Gewalt dauerte zwei Tage und kostete 200 Juden und einigen Muslimen das Leben. Die meisten Juden versteckten sich ich ihren Kellern. Einige – wie die Shamash-Familie – wurden von ihren muslimischen Nachbarn geschützt. Nach dem farhud begannen wohlhabende Juden das Land zu verlassen. Etliche wie die Familie Shamash gingen zu Verwandten noch Indien, wo es ganze Gemeinden von Bagdader Juden gab. Für diejenigen, die blieben, war der farhud keineswegs der Anfang vom Ende, sie erlebten das „Goldene Zeitalter“ für Bagdad zwischen 1941 und 1948.
So beschreibt es in seiner Erinnerung auch der 1933 geborene Sasson Somekh.4 Er erlebte die 1940er-Jahre als eine Periode der „Sicherheit“, der wirtschaftlichen „Erholung“ und „Konsolidierung“, in der die Juden von Bagdad „ihre volle kreative Dynamik wiedererlangt hatten“. Sie bauten neue Häuser, Schulen und Krankenhäuser. All ihre Aktivitäten deuteten darauf hin, dass sie bleiben wollten. Und sie nahmen am politischen Leben teil wie nie zuvor; so repräsentierte etwa der jüdische Finanzminister Ibrahim al-Kabir den Irak bei der Konferenz von Bretton Woods. Unter den Arabern warben damals progressive Nationalisten und Kommunisten für eine Auffassung von nationaler Identität, die viel weiter gefasst war als der Panarabismus der Al-Gailani-Anhänger. Damit wurde es Juden möglich, sich mit anderen Irakern zusammenzuschließen – sogar in der Opposition gegen die Briten und Nuri al-Said.
In seinen Erinnerungen beschwört Somekh eine Welt, in der arabische und jüdische Schriftsteller in den Cafés der Al-Raschid-Straße zusammensaßen, sich in denselben Buchläden herumtrieben und gemeinsam von einem unabhängigen, säkularen, modernen Staat träumten. Eine Welt, in der ein junger Mann wie Somekh die Chance hätte, sich als Jude und Araber zu betrachten.
Viele der Autoren, die Somekh aus Bagdad kannte, bewegten sich im Umkreis der Kommunistischen Partei, die in den 1940er-Jahren zur stärksten oppositionellen Kraft wurde und eine führende Rolle bei den antibritischen Protesten und bei den Streiks in der Ölindustrie übernahm. Damit förderten die Kommunisten damals eine irakische Identität, die religiöse Abgrenzungen hinter sich ließ, und schafften es „die Wut des Volkes gegen ,Imperialismus‘ und ,Zionismus‘ zu lenken, und damit gerade nicht gegen die Juden“.
1946 gründete eine Gruppe jüdischer Kommunisten die „Liga zum Kampf gegen den Zionismus“. Sie brachte eine Zeitung heraus, die 6 000 Leser hatte – mehr als die Zahl der Anhänger der zionistischen Bewegung im gesamten Irak. Doch die Integration der Juden konnte angesichts des Kriegs in Palästina letztlich nicht gelingen. Am 15. Mai 1948 wurde der Staat Israel gegründet. Es folgte die Invasion der arabischen Armeen. Im Irak verhängte die Regierung das Kriegsrecht, und eine Woche später wurde in Zeitungen zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen. Das Einfrieren der Guthaben von Palästinensern durch die israelische Regierung und die Ankunft von 8 000 palästinensischen Flüchtlingen im Irak waren natürlich nicht dazu angetan, die Lage zu beruhigen. Die irakische Regierung erklärte die Unterstützung des Zionismus zu einem Kapitalverbrechen, entließ Juden aus dem Staatsdienst und begann – mit Hinweis auf die sowjetische Zustimmung zu dem UN-Teilungsplan – ein Kesseltreiben gegen Kommunisten aller Spielarten.
Das Ereignis, das die irakischen Juden am tiefsten traf, war der Schauprozess gegen einen Geschäftsmann, der enge Beziehungen zum Könighaus hatte. Shafiq Adas wurde beschuldigt, Schrottwaren der britischen Armee nach Israel geliefert zu haben. Er wurde zum Tode verurteilt und vor seiner Villa in Basra vor einer jubelnden Menge gehängt. Nach einhelligen Aussagen war Adas ein völlig unpolitischer Mensch.
Danach wurde die jüdische Bevölkerung anfälliger für die Avancen des Mossad, dessen Agenten 1941 zum Teil als Freiwillige der britischen Armee mit eingerückt waren. Das Ziel des Mossad war natürlich nicht, die Lage der irakischen Juden zu verbessern, sondern ihre Auswanderung zu beschleunigen. Die israelische Regierung brachte Gerüchte über irakische „Pogrome“ und „Konzentrationslager“ in Umlauf. Im März 1949 verurteilte sie Hinrichtungen von sieben Juden – die es, wie Mossad-Agenten in Bagdad selbst versicherten, gar nicht gegeben hatte. Überdies begannen die Israelis die Idee zu propagieren, dass man die Bevölkerungen „entflechten“ könnte – etwa in Form eines Austauschs irakischer Juden gegen eine gleiche Zahl palästinensischer Flüchtlinge. Diese Idee fand beim britischen Foreign Office durchaus Zustimmung.
Die fatale Verknüpfung von Zionismus und Judentum
Bis 1950 waren irakische Juden zu Tausenden geflohen. Viele hatten sich von arabischen und kurdischen Schmugglern auf Pferden über die Grenze in den Iran bringen lassen. Weil diese „wilde Emigration“ das Image des Irak belastete, beschloss das irakische Parlament das Ausbürgerungsgesetz vom 4. März 1950. Zu der Zeit teilte die US-Botschaft in Bagdad die Einschätzung des irakischen Regierungschefs, dass es kaum zu einer massenhaften Emigration kommen würde, solange Israel „eine Politik der Mäßigung betreibt und einer Friedensregelung zustimmt, die von den Arabern als einigermaßen vernünftig angesehen wird“. Doch Israels Ziel war – aus strategischen wie aus sentimentalen Gründen – nicht eine Friedensregelung, sondern die „Heimholung der Diaspora“.
Israel hatte 20 Prozent mehr Territorium erobert, als der Teilungsplan vorgesehen hatte; man brauchte also mehr Juden, um das Land und vor allem seine Grenzgebiete zu besiedeln. Elie Kedourie zieht das bittere Fazit: „Israel ging daran, der irakischen Regierung bei der Durchsetzung der nationalen Einheit zu helfen; es war eins der stillschweigenden, monströsen Beistandsgeschäfte, die in der Geschichte nicht ganz selten sind.“
Sasson Kedourie, der Oberrabbiner von Bagdad, hat sich damals gefragt: „Warum hat niemand mit uns gesprochen, statt mit Israel über die Aufnahme der irakischen Juden zu verhandeln? Warum hat niemand darauf hingewiesen, dass die geschlossene, verantwortliche Führung der irakischen Juden glaubte, dass dies ihr Land ist – in guten wie in schlechten Zeiten – und dass wir fest davon ausgingen, die unruhigen Zeiten würden vorübergehen?“ Die irakischen Juden, die dieser Ansicht waren, mussten unter Druck gesetzt werden: Es folgte eine Serie von Anschlägen, der erste war die Bombe in der Abu-Nawas-Straße vom April 1950, der letzte erfolgte kurz vor Ablauf der Frist für die Ausbürgerungsanträge. Seit langem gibt es Gerüchte – denen viele irakische Juden entschieden Glauben schenken –, die Attentate seien vom Mossad organisiert worden, um die Juden zur Auswanderung zu bewegen. Aber einen Beweis gibt es dafür nicht.
Bis zum Auslaufen der Frist am 8. März 1951 hatten mehr als 100 000 Juden ihre Anträge gestellt. Einen Tag darauf beschloss das irakische Parlament das Einfrieren der jüdischen Guthaben, weil es befürchtete, die irakische Wirtschaft – und der Staat als solcher – könnten den Kapitaltransfer nicht überstehen. Die Juden sollten nur 50 Dinar mitnehmen dürfen. Die Briten und die Amerikaner waren über diesen Beschluss nicht glücklich, aber sie sahen sich außerstande, gegen die Enteignung der irakischen Juden zu protestieren, nachdem Israel eine Entschädigung der palästinensischen Flüchtlinge verweigert hatte.
Etwa 6 000 Juden entschieden sich, im Irak zu bleiben. Ihre Lebensbedingungen wurden Ende der 1950er-Jahre unter der revolutionären Regierung des Generals Abdal Karim Kassem, der die Monarchie abgeschafft hatte, vorübergehend besser. Aber schon kurz nach dem von der CIA unterstützten Putsch der Baath-Partei 1963 wurden die Juden gezwungen, gelbe Ausweise mit sich zu führen. Die Niederlage der Araber im Sechstagekrieg von 1967 löste eine „antizionistische“ Kampagne aus – mit einem traurigen Höhepunkt 1969, als auf dem Befreiungsplatz in Bagdad acht jüdische „Spione“ aufgehängt wurden. Saddam Hussein forderte die Bevölkerung über Radio Bagdad auf, „zu diesem festlichen Anlass zu erscheinen“. Dem Aufruf folgten Hunderttausende. Heute gibt es im Irak nur noch etwa ein Dutzend Juden.
Somekh flog am 21. März 1951 mit weiteren 200 Juden nach Israel. Ihr babylonisches „Exil“ war zu Ende, aber bei der Ankunft sah er niemanden „niederknien und den heiligen Boden küssen“. Bevor sie das Flugzeug verlassen durften, wurden sie aufgefordert, sitzen zu bleiben, während ein Mann sie mit DDT besprühte. Diese Begrüßung hat keiner der Passagiere vergessen. Sie waren in Lydda gelandet, wo am 13. Juli 1948 israelische Truppen unter Führung von Jitzhak Rabin mehr als 30 000 Palästinenser aus ihren Häusern vertrieben hatten. Viele Flüchtlinge aus Lydda und dem benachbarten Ramleh sind damals auf dem Marsch nach Osten verhungert und verdurstet. Beide Städte wurden anschließend geplündert und die Häuser der Palästinenser beschlagnahmt. Den Juden aus Bagdad, die sich an den farhud erinnerten, waren solche Szenen nur allzu vertraut.
Der Grund für die Verzweiflung der irakischen Juden waren weniger die Lebensbedingungen als die Verunglimpfung ihrer Kultur in einem Israel, in dem die Aschkenasim aus Osteuropa dominierten. Dass Abraham und Jonah in Mesopotamien gelebt hatten, war für Ben Gurion ohne Bedeutung. „Wir wollen nicht, dass die Israelis Araber werden“, hatte er in seiner unverblümten Art gesagt. Die irakischen Juden, die in ihrem Heimatland eine Elite gewesen waren, sah man jetzt als „primitive“ Menschen an; die Nachkommen der einst verachteten Ostjuden waren fest entschlossen, in dem neuen Staat jede Spur von Orient auszulöschen.
Zu Beginn der 1990er-Jahre versuchte Somekh ein Komitee für die Solidarität mit dem irakischen Volk zu gründen. Damit wollte er an „die Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft zwischen Juden und anderen Irakern“ erinnern, damit „die kommenden Generationen etwas über das wunderbare Miteinander erfahren, das das jüdische Leben in der arabischen Welt 1 500 Jahre lang gekennzeichnet hatte“. Die Registrierung seiner gemeinnützigen Organisation wurde von der zuständigen Behörde in Jerusalem verweigert. Die Wiederbelebung solcher Erinnerungen sei keine gute Idee, beschied das Amt, man sehe darin vielmehr ein „potenzielles Instrument Saddam’scher Subversion“.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Adam Shatz ist Redakteur bei der London Review of Books. © London Review of Books, für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin