Innen Schoko – außen Vanille
SCHON unter Präsident Reagan erfuhr der soziale Wohnungsbau drastische Einschnitte – eine Politik, die von den Regierungen Clinton und Bush fortgesetzt wurde. Im Department of Housing and Urban Development entließ man Personal, und der Bau von Sozialwohnungen wurde eingestellt. Zudem verschärfte sich die soziale Lage in den Großstädten, nachdem die Industrie ins Um- oder Ausland abgewandert war. Aber die Bürgermeister der Millionengemeinden ließen sich etwas einfallen, was zu einem grundlegenden Wandel der Städte führte.
Von SUDHIR ALLADI VENKATESH *
Das traditionelle Wohlfahrtssystem der USA, das erst im 20. Jahrhundert entstanden ist, wird derzeit systematisch demontiert. Die progressiven politischen Kräfte hatten in der Zwischenkriegszeit begonnen, den Wohnungsbau zu fördern, die Armen mit Beihilfen zu unterstützen und für Rentner und Behinderte ein umfassendes System „sozialer Sicherheit“ zu schaffen. Doch in den letzten 30 Jahren wurden die Ansprüche auf diverse Sozialleistungen entweder ganz abgeschafft oder stark eingeschränkt. Heute erhalten Amerikas Arme nur noch fünf Jahre lang Sozialhilfe, und auf Rechtshilfe müssen sie praktisch ganz verzichten.
Mit der Abschaffung von Mietzuschüssen für Geringverdiener wird gerade ein weiterer Grundpfeiler des Wohlfahrtsstaats eingerissen. Aber das wird kaum in der Öffentlichkeit diskutiert, denn weder das linksliberale Lager noch die Linke haben sich groß um das Thema gekümmert, geschweige denn Widerstand organisiert. Die Einschnitte im sozialen Wohnungsbau, von Präsident Reagan eingeleitet und von Clinton und Bush fortgeführt, laufen darauf hinaus, dass die Rolle des Staates als Schutzinstanz für die Armen und die Arbeiterfamilien völlig neu bestimmt wird.
Während des 20. Jahrhunderts verlief das Wachstum der Städte in den USA die meiste Zeit über nach einem Polarisierungsschema: Die Armen lebten in den „Innenstädten“, also rund um das eigentliche Geschäftszentrum; die Mittel- und Oberschicht wohnte in den Vororten, der so genannten Suburbia. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab der Bauboom auf dem Häusermarkt vielen Städtern die Chance, aus den verkommenen Innenstädten in die neu entstandenen Vororte zu ziehen. Von dort aus fuhren sie dank eines Netzes von staatlich finanzierten Autobahnen und Bahn- oder Buslinien zur Arbeit wie zum abendlichen Vergnügen in das meilenweit entfernte Stadtzentrum zurück. Mehr als 90 Prozent dieser Pendler waren Weiße, während Schwarze und Latinos in den Innenstädten wohnen blieben, da ihnen von den Banken keine Kredite gewährt wurden. Der Volksmund erfand für diese Polarisierung die Begriffe chocolate cities und vanilla suburbs.
In den 1990er-Jahren vollzog sich dann ein dramatischer Wandel. Als Industriezentren hatten die Städte keine Zukunft mehr. Im Zuge der Informationsrevolution mussten sie neue Prioritäten setzen und versuchten, höhere Angestellte und Unternehmer in die Innenstädte zurückzulocken. Pioniere dieser neuen urbanen Philosophie waren die Bürgermeister von New York, Chicago, Baltimore, Cleveland und San Francisco. Sie setzten auf die Umwandlung großer Gebiete, die einst als Gewerbezonen geplant waren, in luxuriöse Wohnviertel mit Parks, Cafés, Lofts und Apartmenthäusern für aufstrebende Freiberufler und Neureiche. Auch die „Slums“ und heruntergekommenen Viertel, wo vorwiegend Schwarze und Latinos in Sozialwohnungen lebten, standen auf der Abrissliste, und es drohte ihnen die Umwandlung in gehobene Wohnviertel für die neuen weißen Retter.
Eröffnet wurde dieser Klassen- und Rassenkrieg mittels einer „Recht und Ordnung“-Strategie, um in den öffentlichen Räumen die Art von Sicherheit zu schaffen, die von den neuen Innenstadtbewohnern aus den Mittel- und Oberschichten verlangt wird. Überall in den USA erließen die Städte Verordnungen gegen das „Bandenwesen“ und gegen öffentliches „Herumlungern“. Mit Sperrstunden versuchte man, die „kriminelle Klasse“ – vor allem junge Männer verschiedener Minderheiten – daran zu hindern, sich an den Straßenkreuzungen, in den Parks und Geschäftsvierteln breit zu machen. Besonders zweifelhaften Ruhm erlangten Rudolph Giuliani in New York und Richard M. Daley in Chicago, die auf ein hartes Durchgreifen auch gegen geringfügige Vergehen setzten und sich dabei auf die modische „Theorie der eingeschlagenen Fenster“ beriefen. Mit dem Argument, dass Schwerverbrechen eingedämmt werden können, wenn man bereits die kleinsten Anzeichen gesellschaftlichen Verfalls bekämpft, schlossen sie Obdachlosenasyle und Notunterkünfte. Sie vertrieben Sexfilm-Videotheken und Pornokinos und kriminalisierten Obdachlose und Prostituierte. Vandalismus und Straßenraub wurden hart bestraft. Überall im Lande feierten die Stadtoberen diese „Bratton-Philosophie“, die nach dem New Yorker Polizeipräsidenten benannt ist, der sie entwickelt hat – und der heute städtische Polizeibehörden in Südafrika, Venezuela und in ganz Europa berät.
Nur in Ausnahmefällen sind die Leute, die diese neuen Wohnviertel aufwerten, Schwarze oder Lateinamerikaner. Meistens sind sie Weiße, die nicht nur höhere Einkommen, sondern auch besseren Zugang zu Krediten und Hypothekendarlehen für den Erwerb von Wohneigentum haben.
Dagegen müssen Schwarze und Lateinamerikaner häufig auch dann noch in ärmeren Stadtteilen mit schlechterer öffentlicher Versorgung leben, wenn sie gar nicht arm sind (eine Erscheinung, die als neighbourhood gap bezeichnet wird). Bis heute sind die US-amerikanischen Städte durch ethnische und Klassengrenzen gekennzeichnet. So leben die meisten Schwarzen in Vierteln mit einem Durchschnittseinkommen, das etwa 50 Prozent unter dem der Weißen liegt. Diese Schere hat sich seit 1990 immer weiter geöffnet. Nur wenig besser ergeht es den Latinos.1 Selbst die wenigen Glücklichen, die sich in einem besseren Viertel etablieren können, haben es damit noch nicht automatisch besser als die ärmeren Schwarzen und Lateinamerikaner, was die Gleichberechtigung beim Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen betrifft. So gehen die allermeisten hispanischen oder schwarzen Kinder in Schulen, wo der Anteil von Mitschülern aus armen Familien bei über 65 Prozent liegt. Für die Weißen beträgt dieser Anteil nur 31 Prozent.
Gewinner- und Verliererviertel
DIE Renaissance der amerikanischen Innenstädte trägt wesentlich zu einem Mangel an bezahlbaren Wohnungen bei. Hier gibt es zu wenig Wohnraum für Arbeiterfamilien aller ethnischen Gruppen. In einem aktuellen Bericht des Department of Housing and Urban Devlopment (HUD) heißt es: „Eine Familie mit einem ganztags arbeitenden Ernährer, der den Mindestlohn verdient, kann sich nirgends in den Vereinigten Staaten eine Dreizimmerwohnung zu marktüblichen Mietpreisen leisten.“2 Fast 20 Prozent aller Familien geben heute mehr als die Hälfte ihres Einkommens für die Miete aus – nach regierungsamtlicher Auffassung sollten sie dafür höchstens ein Drittel aufwenden .
Eine der Ursachen für diese Schieflage ist der private Wohnungsbau. In den 1990er-Jahren wurden Mehrfamilienhäuser mit insgesamt 1,4 Millionen Wohnungen entweder ganz abgerissen oder in Qualitätswohnungen umgewandelt. Doch in solchen Häusern lebten früher Arbeiterfamilien. Viele von ihnen stehen heute wahrscheinlich auf einer der Wartelisten für staatliche Wohnbeihilfen. Die Wartezeit beträgt durchschnittlich zwei Jahre, in Chicago oder New York stehen heute schon über 40 000 Familien auf der Warteliste.
Auch der Staat trägt zur Verknappung von billigem Wohnraum bei, indem er tausende von Sozialwohnungen abreißen lässt und mit öffentlichen Geldern private Bauträger unterstützt, die solche Wohnungen „sanieren“. Heute werden auf diese Weise pro Monat 2 000 Wohnungen von Baufirmen „auf den Markt gebracht“. Die Mieten für diese Wohnungen steigen im Durchschnitt um 45 Prozent.
Wohin ziehen die Leute, wenn sie durch die Aufwertung ihrer Wohngegend und die wirtschaftliche Entwicklung aus ihrem sozialen Umfeld vertrieben wurden? In manchen Fällen wandern sie in andere innerstädtische Viertel mit hoher Armutsquote und sozialer Ausgrenzung ab. Dort steigt dann die Siedlungsdichte, während der preiswerte Wohnraum immer weiter schrumpft.
Doch es gibt noch eine zweite Wanderungsbewegung: von den Innenstädten in die Vororte, die einst für gut situierte Weiße und privilegerte Minderheitengruppen reserviert waren. Der Anteil der Schwarzen in den Vororten hat seit 1990 insgesamt um fast 40 Prozent zugenommen, der Anteil der Lateinamerikaner sogar um 72 Prozent.3 Doch die Trennung nach ethnischen und Klassenkriterien existiert nach wie vor, denn Schwarze und Lateinamerikaner aus den Innenstädten ziehen nicht etwa in die reicheren Vororte, sondern in die armen Viertel des so genannten inneren Rings. Die Weißen in ihren Vororten sind also immer noch von allen anderen Gruppen abgesondert, wogegen Schwarze und Lateinamerikaner sich untereinander, aber auch mit den neuen Einwanderern aus Asien mischen. „Wir müssen uns fragen“, schreibt der Soziologe John Logan, „ob der Zuzug der Minderheiten in die Vororte nicht die Trennung zwischen Gewinner- und Verlierervierteln in den Außenbezirken der Innenstädte verschärft – ganz ähnlich, wie man es im ganzen Land auch an der Grenze zwischen dem Stadtgebiet und der Suburbia beobachten kann.“4 Die Segregation ist jedenfalls ein zählebiges Phänomen. Schwarze und Lateinamerikaner sind nach wie vor außerstande, sich in den weißen Vororten mit ihren besser ausgestatteten Schulen, Polizeireviere und anderen öffentlichen Einrichtungen zu etablieren. Sie wohnen dort, wo die öffentlichen Gelder fehlen und die Wohnsubstanz verfällt. Diese neue Stratifizierung der Städte – die Weißen und die Reichen im Zentrum, die Armen und die Minderheiten knapp außerhalb – wird zuweilen als „Europäisierung“ oder „Lateinamerikanisierung“ der US-Städte bezeichnet. Zu den wichtigsten Auslösern dieser Entwicklung gehört der staatlich verfügte Abriss der Viertel, die traditionell vom sozialen Wohnungsbau geprägt waren. Er begann in den 1990er-Jahren, als das HUD die lokalen Wohnungsbehörden aufforderte, den „erbärmlichen“ Zustand ihrer Wohnungen unter die Lupe zu nehmen. Die Regierung behauptete, Sozialwohnungen seien die Ursache für die Misere der ethnischen Minderheiten. Die Familien in den Sozialbauten hätten dadurch ihre Arbeitsmotivation verloren und seien außerdem anfälliger für kriminelles Verhalten. Schafft man die Sozialwohnungen ab, könne man auch die Kriminalität und die konzentrierte Armut in der Stadt beseitigen.
Es gab durchaus berechtigten Anlass zur Beunruhigung. Im Jahr 1990 waren sieben der ärmsten Gegenden in den USA solche Viertel mit Sozialwohnungen – drei davon allein in Chicago. In den meisten Städten waren diese kommunalen Anlagen zu Zentren des Drogenhandels und des Verbrechens geworden. Hier lebten fast ausschließlich Schwarze, die innerhalb des politischen Systems am wenigsten Einfluss haben und schließlich auch nicht für die ethnische Segregation, die Kriminalität und Armut verantwortlich gemacht werden können. Nachdem Präsident Reagan in den 1980er-Jahren die Mittel für den öffentlichen Wohnungsbau um 87 Prozent gekürzt hatte, war es den Behörden kaum mehr möglich, die Objekte in Schuss zu halten. In den meisten Siedlungen war die Polizei kaum präsent. In Chicago erklärte der oberste Polizeichef sogar, die Viertel seien für die Polizei zu gefährlich. Und in den lokalen Wohnbehörden herrschten Chaos und Korruption.
1992 mussten alle lokalen Wohnungsämter auf Grund des Gesetzes „Hope VI“ eine „Rentabilitätsstudie“ für ihren Bestand an Sozialwohnungen erstellen. Danach wurde entschieden, ob es billiger war, die Bauten abzureißen und den Familien Beihilfen für den privaten Wohnungsmarkt zu zahlen oder die Bauten zu sanieren und anständig instand zu halten. Aber das Gesetz blieb so vage und dehnbar, dass es Unternehmer und Wohnbehörden nicht davon abhalten konnte, die Sozialbauten rasch zu zerstören, ohne sich groß um Sicherheit und Wohlergehen der darin lebenden armen Familien zu kümmern. „Hope VI“ enthielt keine konkreten Maßnahmen, auf welche Weise man den Familien rasch neue Unterkünfte besorgen könnte. Es bestimmte schlicht, man solle die Häuser abreißen und dazu beitragen, dass die betroffenen Menschen „auf eigenen Beinen stehen“. Eine Bürokratie, die weder Badezimmer reparieren noch Ratten aus den Häusern fernhalten konnte, war plötzlich mit einer gewaltigen Aufgabe befrachtet: Sie sollte die Armen aus dem Ghetto schaffen und in verantwortungsvolle, unabhängige Bürger verwandeln.
Bis heute haben die Städte der USA 4,5 Millarden Dollar an Steuermitteln ausgegeben, um mehr als 50 000 Sozialwohnungen zu vernichten. Dabei gibt die Regierung selbst zu, dass ihr der Abriss wesentlich besser gelungen sei als der Wiederaufbau des sozialen Gefüges und die Umsetzung der armen Familien. Von vielen Seiten wurde kritisiert, dass nach den Abrissen insgesamt weniger Wohnungen vorhanden sind als zuvor. In Chicago ergab eine Untersuchung, dass 80 Prozent der auf die Straße gesetzten Familien in andere Minderheiten- und Armutsviertel innerhalb und außerhalb der Stadt gezogen sind.5 Nach einer anderen Studie wurden 10 bis 12 Prozent der Familien nach ihrem Auszug obdachlos.6
Offenbar trägt die Umwandlung des öffentlichen Wohnungsbauprogramms in den USA zu einer neuen Form der städtischen Armut bei. Einst waren die vertikalen Ghettos der sozialen Wohntürme ein typisches Merkmal der amerikanischen Innenstädte. An ihrer Stelle entstehen heute Ghettos, die sich in die Horizontale erstrecken. Und die Menschen, die früher im Zentrum der Städte lebten, muss man heute in den Randzonen der Innenstädte suchen.
deutsch von Herwig Engelmann
* Professor an der Columbia University New York. Autor u. a.: „American Project: The Rise and Fall of a Modern Ghetto“ (Harvard Universitiy Press, 2000).