14.11.2003

Dieser Boden gehört jetzt der Partei

zurück

Dieser Boden gehört jetzt der Partei

SEITDEM am 4. Oktober 2002 König Gyanendra den Premierminister Sher Bahadur Deuba entlassen und das Parlament aufgelöst hat, versinkt das Königreich Nepal im Chaos. Während die großen Parteien verlangen, man möge die politische Macht wieder in die Hände der gewählten Volksvertreter legen, fordern die maoistischen Rebellen die Abschaffung der Monarchie. Nepals Maoisten profitieren von der wirtschaftlichen Misere und Korruption in ihrem Land, das zu den ärmsten der Welt gehört. Nachdem das labile Waffenstillstandsabkommen am 27. August diesen Jahres gescheitert ist, wurden die Kämpfe wieder aufgenommen.

Von CÉDRIC GOUVERNEUR *

Das Kerngebiet des Distrikts Rukum im armen Westen Nepals gehört zu den Bastionen der maoistischen Guerilla. Eine von der Welt abgeschnittene und dabei übervölkerte Gebirgsregion, in der ein unbeschreibliches Elend herrscht. Man sieht viele abgemagerte Kinder mit aufgeblähten Hungerbäuchen, die in nichts als Lumpen gehüllt sind. Es gibt keinen elektrischen Strom, kein fließendes Wasser, keine Straßen und keinen Arzt im Umkreis von zwei Tagesmärschen. Kranken bleiben nur zwei Möglichkeiten: entweder von selbst gesund werden oder sterben.

Das erste maoistische Umerziehungslager wurde in einem entlegenen Tal eingerichtet, im Hof eines vertriebenen „Kapitalisten“. „Dieser Wucherer hat eine Bauernfamilie ausgebeutet, die ohne Lohn für ihn arbeiten musste, um ihre Schulden zurückzuzahlen“, erklärt mir der achtzehn Jahre junge Genosse Sagalmatha. „Wir haben ihn vertrieben.“ Er zeigt auf einen jungen Mann. „Das ist der Neffe des Kapitalisten. Er darf bleiben, er ist unschuldig. Nur wer Verbrechen gegen das Volk begangen hat, muss gehen.“

Sagalmatha weist auf die terrassenförmigen Reisfelder in der Umgebung. „Dieser Boden gehört jetzt der Partei, und die ganze Gemeinde zieht Nutzen daraus. Wir haben sogar eine Mühle gebaut.“ Die Umstehenden stimmen pflichtschuldig zu. Die Maoisten definieren den Ausdruck „Kapitalist“ recht großzügig. Die beschlagnahmten Flächen sind oft nicht größer als ein paar Hektar, die hier aber als großer Reichtum gelten.

Einige junge Guerilleros und Kinder machen sich im Hof des nun als Erziehungslager dienenden Gehöfts zu schaffen. „Den Tag über arbeiten die Gefangenen auf den Feldern, und am Abend lernen sie mit dem Marxismus-Leninismus-Maoismus, sich in der neuen Gesellschaft richtig zu benehmen“, erklärt Sagalmatha in seinem hölzernen Parteiidiom. „Sie wurden von einem Gericht verurteilt, das aus Kämpfern und mindestens einer Person besteht, die sich in Rechtsfragen auskennt.“ Die meisten Gefangenen haben gerade Hafturlaub und besuchen ihre Familien. Einer ist geblieben, lehnt es aber verängstigt ab, mit mir zu reden. „Manche nutzen den Hafturlaub zur Flucht, aber wir können die Leute nicht ständig einsperren wie in den Gefängnissen der Reaktionäre“, fährt der Guerillero fort. „Wir haben hier Mörder, Diebe, gewalttätige Ehemänner, Alkoholiker.“

Die Maoisten haben auf ihrem „Staatsgebiet“ ein Alkoholverbot erlassen, um häuslicher Gewalt Einhalt zu gebieten. „Unter den Gefangenen sind auch junge Leute, die voreheliche sexuelle Beziehungen gehabt haben, darunter auch Kämpfer und Kämpferinnen.“ Ein „Verbrechen“, das hier „mit 5 bis 8 Monaten Gefängnis“ bestraft wird. Ein Drittel der Aufständischen sind Frauen, und da das Gerücht geht, bei ihnen herrschten lose Sitten, wollen sie sich untadelig zeigen.

Und wer sein weniges Geld bei Wetten verspielt, wird der auch mit Gefängnis bestraft? „Nein“, erwidert Sagalmatha, und sein Lächeln dabei hat etwas Sadistisches. „Wir zwingen ihn nur, seine Wettscheine zu essen.“ Er nimmt sein Halstuch ab und liest mir die darauf gestickte Inschrift vor: „Es lebe der Marxismus-Leninismus-Maoismus-Prachandismus!“ Prachanda, „der Schreckliche“, ist das Pseudonym von Pushpa Dahal, dem Vorsitzenden der Maoistisch-Kommunistischen Partei Nepals (CPN-M).

Die Rebellen begannen ihren „Volkskrieg“ im Februar 1996 mit Angriffen in der Region Rolpa, etwa 300 Kilometer von Kathmandu entfernt. Das Ziel ihres Kampfes ist der Sturz der konstitutionellen Monarchie.1 Seit Beginn des Aufstands sind etwa 8.000 Menschen ums Leben gekommen. Nach Angaben der nepalesischen Menschenrechtsorganisation Insec wurde ein Drittel der Opfer von den Maoisten getötet, zwei Drittel starben durch die Hand von Sicherheitskräften.2 „Die Maoisten gehen eher selektiv vor, und ihre Gewalt richtet sich gegen präzise Ziele“, bestätigt das Internationale Rote Kreuz (IRK) in Kathmandu.

Die maoistische Guerilla überwacht und kontrolliert die Bevölkerung mit einer Kombination aus Zwang, Gewalt und konkreten Hilfsmaßnahmen, die den Schwächsten zugute kommen: den Frauen, die sich über das Alkohol- und Wettverbot, die Gleichberechtigung im Erbrecht und das Ende der Zwangsheirat freuen; den ethnischen Minderheiten, etwa 35 Prozent der Bevölkerung, denen die Revolutionäre Autonomie versprechen; und den Angehörigen der niederen Kasten. Das gilt vor allem für die unterste Kaste der Unberührbaren (Dalits), von denen einige aus freien Stücken ihre Zufriedenheit äußern, ohne dass sich ein Maoist in der Nähe aufhält: „Sie haben ihnen verboten, uns zu demütigen.“

Das Kastensystem besteht in diesem hinduistischen Königreich auch heute noch, obwohl es 1962 offiziell abgeschafft wurde. In ländlichen Gebieten dürfen die Dalits – 21 Prozent der Bevölkerung – de facto immer noch keinen Tempel besuchen, Wasser aus dem Brunnen schöpfen, ihre Erzeugnisse verkaufen oder die Nahrung anderer berühren. Manche werden vom ganzen Dorf wegen „Hexerei“ verfolgt. „Wenn ein Brahmane uns misshandelt, verprügeln ihn die Maoisten.“ Die Dalits lächeln. „Sie sagen, alle Menschen sind gleich. Wir können endlich in den Tempel gehen. Sie bieten kostenlose Alphabetisierungskurse für Kinder und Erwachsene an.“ Was lernt man dort? „Lesen, Schreiben und Rechnen, damit die Händler uns nicht betrügen können. Außerdem politische Geschichte, Sozialismus.“

Steineklopfen als Lebensunterhalt

DIE Leute wollen, dass sich politisch etwas ändert, und das nutzen die Maoisten aus; sie heften sich an das Volk und saugen es aus wie Blutegel“, lautet der bittere Kommentar von Yadev, einem alten Bauern, der mir in einem kleinen Dorf begegnet, das vor Armut wie erstarrt wirkt. „Die Maoisten und der Staat sind wie zwei Steine, die aneinander schlagen und das Volk zwischen sich zermalmen. Gut, die Maoisten haben Brücken gebaut und Straßen gepflastert. Sie helfen den Bauern auf den Feldern und bestrafen Lehrer, die nicht zum Dienst erscheinen. Sie vertreiben die Wucherer. Aber wir haben genug von ihrer Gewalt. Wir haben Angst. Wir wollen Frieden.“3 Die Dörfler um ihn herum stimmen zu, die Zungen lösen sich. Der Lehrer wirft ein: „Ich muss eine Revolutionssteuer zahlen. Sie haben den Lehrplan geändert. Sie sagen, die Religion ist das Opium des Volkes“ – völlig unverständlich für diese Dorfbewohner, deren alltägliches Leben vom Hinduismus geprägt ist. Sie verstummen, als junge Aufständische mit dem traditionellen Kukhri-Dolch im Gürtel auftauchen.

Wer sich darüber wundert, wieso es im Jahr 2003 noch eine doktrinäre kommunistische Guerilla geben kann, braucht sich nur Nepals soziale Lage anzusehen. In diesem Land, das keine Bodenschätze besitzt, leben 71 Prozent der Einwohner in absoluter Armut; 80 Prozent der Bevölkerung leben (oder überleben gerade so) von der Landwirtschaft. „Das Wachstum der landwirtschaftlichen Produktion von 2,2 Prozent jährlich reicht nicht aus“, erklärt Laurent Chazée, ein Experte von der Asiatischen Entwicklungsbank in Kathmandu. „Die Bauern besitzen häufig kaum mehr als einen Drittel Hektar; das reicht bei weitem nicht für den Eigenbedarf.“ Die soziale Ungleichheit ist gewaltig; 10 Prozent der Bevölkerung verfügen über 46,5 Prozent des Einkommens. Hunderttausende, darunter auch Kinder, klopfen Steine an den Flussufern und verkaufen den Schotter für einen halben Dollar am Tag.

Kinderarbeit ist die Regel. Die nepalesische Kinderhilfsorganisation CWIN hat 127.000 Kinder gezählt, die oft nur vier Dollar im Monat erhalten, dabei „tauchen 90 Prozent der Fälle gar nicht in der Statistik auf“.4 Nach der Grundschule ist die weitere Schulausbildung ebenso kostenpflichtig wie die Krankenversorgung – ein für die Mehrheit unerschwinglicher Luxus. Die Folge ist, dass zwei von drei Nepalesen Analphabeten sind und alle zwei Stunden eine Frau im Kindbett stirbt. Der Staatshaushalt wird zu einem Viertel von den Überweisungen ausgewanderter Nepalesen und zur Hälfte durch internationale Hilfe getragen.5

Korruption ist ein Dauerphänomen. Nach einer gut informierten Quelle erreichen nur „3 Prozent der Hilfsgelder ihren Bestimmungsort. Der Rest wird unterschlagen. Die Elite ist so sehr im geschlossenen System der Kastenhierarchie verankert, dass an die Schwächsten gar kein Gedanke verschwendet wird.“

Die Schlamperei und Arroganz des Staates widert die Leute an. Ein Beispiel: Die letzte Form von „Leibeigenschaft“ wurde erst im Juli 2000 abgeschafft; 226 000 Kamaiyas und deren Familienangehörige, Landarbeiter mit sklavenähnlichem Status, wurden damals „befreit“. Doch seither sind sie ohne soziale Unterstützung, ohne Wohnung und ohne Einkommen, vergessen. Durch den im Juli verabschiedeten Haushalt wird ihnen ein halber Dollar als jährlicher Zuschuss bewilligt.

Die nach langen, heftigen Kämpfen 1990 eingeführte parlamentarische Demokratie hat zwar endlich die Meinungsfreiheit gebracht, bietet den örtlichen Notabeln aber weiterhin die Möglichkeit, an nahezu feudalen Praktiken festzuhalten, an Korruption, an der Diskriminierung von Angehörigen bestimmter Kasten oder ethnischer Minderheiten, an Wucher und Willkür. Vierzehn Regierungen lösten einander in nur dreizehn Jahren ab. Im Oktober 2002 löste König Gyanendra das Parlament auf und gebietet seither über eine ihm ergebene Regierung. „Die konservative und selbst die linke Elite glaubt, ihr Wohlergehen hänge von der Erhaltung der traditionellen Strukturen und sozialen Beziehungen ab. Mangels staatlicher Kontrolle sind die Wahlen inzwischen nur noch Gelegenheiten zum Einsammeln von Geldern“, schreiben nepalesische Politologen.6

Auf dem Land beschränkt sich die Anwesenheit des Staates auf die Eintreibung von Steuern – ohne jede Gegenleistung –, auf eine korrupte Polizei und auf Banknoten mit dem Bild eines unbeliebten, autoritären Herrschers, des Königs Gyanendra, der seit dem Massaker vom Juni 2001 an der Macht ist.7 In Gorahi, einer immer noch von der Armee kontrollierten Stadt, veranstaltete man am 7. Juli zur Feier des Geburtstags des Monarchen eine Militärparade. Es gab keinen einzigen Zuschauer.

Und dieser schwache Staat lässt sich seit 1992 unter dem Druck internationaler Finanzinstitutionen auf einen neoliberalen Privatisierungsprozess ein, der auch noch die wenigen vorhandenen staatlichen Dienstleistungen aufgibt. Der Zugang zu Trinkwasser und die Gewährleistung öffentlicher Sicherheit bleiben heute dem Markt überlassen. Zwar entstand nach einer kurzen ökonomischen Schönwetterperiode eine neue Schicht von Konsumenten, doch die allgegenwärtige Korruption hat die ersten Investoren längst vertrieben.

Unter solchen Umständen überrascht es kaum, dass einige zum Mittel der Gewalt greifen, um ihre soziale Lage zu verändern. Schon 1992 sagten Beobachter unter Verweis auf „Sendero Luminoso“ ein peruanisches Szenario für Nepal voraus. „Die Wohlhabenden in Kathmandu sprechen von maoistischem Terror, ohne zu erkennen, dass die Guerilla eine bedeutende soziale Basis besitzt“, meint Rita Manchada, Mitglied des South Asian Human Rights Forum (Sahrf) und Journalistin der britischen Zeitschrift Frontline. „Die maoistische Bewegung ist zu 100 Prozent eine Folge der Korruption und Unfähigkeit der Machthaber“, meint auch Rimal Madav Kumar, Chefredakteur der liberalen Wochenzeitung Spotlight.

Alle befragten Guerilleros führen ständig ein Wort im Munde: Entwicklung. Die Aufständischen wollen eine bessere medizinische Versorgung, Straßen und Brücken und Elektrizität für alle. Sie wollen Staudämme haben und ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse exportieren können. Sie wollen ganz einfach heraus aus dem Elend. Die Parteikader der Guerilla gehören den oberen Kasten an: junge, gebildete Männer, die in der Stadt studiert und dort erlebt haben, wie durch Korruption, Privatisierung und Tourismus Vermögen entstanden. Da sie ohne Zukunft sind, sehen sie im bewaffneten Kampf eine radikale Möglichkeit zum sozialen Aufstieg, indem sie die Reichen ausschalten und deren Platz einnehmen.

„Erst haben sie die Polizei mit Dolchen und Mistgabeln angegriffen. Dann haben sie den getöteten Polizisten die Waffen abgenommen“, erinnert sich Yadev, der alte Bauer aus Rukum. Der „Volkskrieg“ begann vor sieben Jahren. Heute leben 10 Millionen der 23 Millionen Nepalesen in „befreiten Gebieten“. Die Presse in Kathmandu schreibt nicht ohne Ironie, Nepal sei nun wie China und Taiwan „ein Land mit zwei Systemen“.

Der Aufstand ist eine rein nationale Angelegenheit. Weder aus Indien noch aus China kommt Hilfe. Die einzige Unterstützung außerhalb Nepals leistet RIM (Revolutionary Internationalist Movement), eine in London ansässige maoistische Organisation, in der Reste des Sendero Luminoso, der Naxalitenguerilla Bengalens und einiger Parteien aus Bangladesch, Sri Lanka, der Türkei und sogar Amerika zusammengeschlossen sind.8 RIM hat der CPN-M geraten, sich nicht an den Wahlen zu beteiligen, sondern in den Untergrund zu gehen. Nach Aussage eines westlichen Militärattachés in Kathmandu wurde ein Teil der maoistischen Kader von den Naxaliten in Indien und von Sendero Luminoso in Peru ausgebildet. Außerdem gibt es in Nepal viele kriegserfahrene Veteranen. Ehemalige Gurkhas, Elitesöldner der britischen Armee, und ehemalige Blauhelme unterstützen die Guerillas mit Geld und beteiligen sich an deren Ausbildung.

Zu Beginn des Aufstands terrorisierte oder tötete man die lokalen Würdenträger und zerstörte die rudimentäre Behördenstruktur. Danach füllten die Rebellen das Machtvakuum durch Komitees (samiti) der „betroffenen Bürger“, die sich um soziale Belange kümmern und gelegentlich auch als Spitzel dienen. Aktive Gegner, Spione (oder solche, die dafür gehalten werden) und Bauern, die sich weigern, die Aufständischen zu versorgen, werden verprügelt oder getötet. Beamte, Geschäftsleute und auch manche Hilfsorganisationen werden erpresst. Mit dem Ansehen, das ihnen ihre höhere Bildung einbringt, der Macht der Waffen und den unbestreitbaren sozialen Errungenschaften überzeugen die jungen maoistischen Funktionäre die apathischen, des Lesens und Schreibens unkundigen Bauern von den Vorzügen ihrer Revolution. „Die Maoisten bieten einfache Lösungen für schwierige Probleme“, seufzt Subodh Raj Pyakurel, Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Insec. „Sie sagen den Bauern: Der Grundbesitzer braucht euch, aber ihr braucht ihn nicht. Vertreibt ihn! Und falls er zurückkommt, tötet ihn!“

Das erste Auto und ein Banküberfall

DIE Guerilla verfügt über 10 000 bis 12 000 aktive Kämpfer und 15 000 Milizen-Anwärter“, hat Oberstleutnant N. S. Pun berechnet, der früher für die Regierung Verhandlungen mit den Rebellen führte. Während die Zwangsrekrutierung zahlreicher Jugendlicher belegt ist, dementiert das IRK Gerüchte, wonach die Guerilla in erheblichem Maße auch Kindersoldaten einsetzt. Auf der anderen Seite stehen 77 000 Soldaten und 45 000 Polizisten, die kaum motiviert und schlecht ausgerüstet sind. Da die Rebellen mobil sind und sich dem Gelände anzupassen wissen, eilen sie von einem Sieg zum nächsten. „Kathmandu hat die Gefahr anfangs nicht ernst genommen“, meint der bereits zitierte westliche Militärattaché. „Von jeher besteht Nepal für die Elite nur aus Kathmandu und dem zugehörigen Tal“, fügt ein Diplomat hinzu. Getreu der auf Mao Tsetung zurückgehenden Strategie der Einkreisung der Städte durch das Land greifen die Guerilleros nicht nur Polizeistationen in ländlichen Regionen an und zwingen so den Staat, seine Präsenz auf die Hauptorte zu beschränken, sondern belagern auch Militärkasernen in den Städten. Im November 2001 griffen sie die Kaserne in Gorahi, der Hauptstadt des Distrikts Dang, an und töteten 23 Polizisten; außerdem plünderten sie die Banken. „Manche Kämpfer aus den elenden Gebirgsgegenden sahen dort zum ersten Mal in ihrem Leben ein Auto“, berichtet ein Augenzeuge.

Es war ein Angriff von großer Tragweite, denn er führte zur Ausrufung des Ausnahmezustands und im Zusammenhang mit den Ereignissen nach dem 11. September zu einer wachsenden Einmischung der Vereinigten Staaten und Großbritanniens im Rahmen des „Kriegs gegen den Terrorismus“. Der amerikanische Botschafter verglich die nepalesische Hungerrevolte sogar mit den Aktivitäten der al-Qaida und der Roten Khmer. „Die Vereinigten Staaten wünschen Stabilität in der Region und wollen verhindern, dass Nepal zu einem failed state (gescheiterten Staat) zwischen China und Indien wird“, meint ein Diplomat. Washington hat seither 35 Millionen Euro Militär- und Entwicklungshilfe gezahlt, Großbritannien stellte 17,5 Millionen Euro bereit, während Indien die Überwachung der Grenze verstärkte. Die von fünfzig US-amerikanischen Militärberatern ausgebildeten Soldaten der nepalesischen Armee sind mit 14 000 M-16-Sturmgewehren aus Washington und zwei von London bezahlten russischen Mig-17-Hubschraubern ausgerüstet.

Nahezu 5 000 Menschen wurden 2002 getötet. Dazu Folter, Verstümmelungen und Massaker – in ihrer Grausamkeit stehen die staatlichen Sicherheitskräfte und die Aufständischen einander nicht nach.9 Im Dezember 2002 setzte das US-amerikanische Außenministerium die CPN-M auf die Liste der terroristischen Organisationen, was die Rebellen so sehr beunruhigte, dass sie am 29. Januar 2003 ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichneten. Als Gegenleistung für die Hilfe aus Amerika und England kündigte Nepal im Juli die Entsendung von 900 Soldaten in den Irak an. Am 27. August wurde der Waffenstillstand von den Maoisten aufgekündigt, weil die Regierung sich weigerte, deren Hauptforderung zu akzeptieren und eine neue Verfassung für das Königreich auszuarbeiten.

Die Regierung kontrolliert nur noch die Städte und bei Tage die Hauptverkehrswege. Selbst in Kathmandu erpressen die Guerilleros Geschäftsleute und Reiseveranstalter. Sie schlagen sogar mitten in der Stadt zu. Im Januar ermordeten sie den Polizeichef und später, nach der Aufkündigung des Waffenstillstands, einen Oberst. Dutzende von Bürgern reichten ihre Beschwerden sogar in dem Büro ein, das die CPN-M in der Hauptstadt eröffnet hatte. Da es teuer und langwierig ist, wenn man sich an die staatliche Justiz wendet, ziehen manche die radikalen Methoden der Maoisten vor. In Kathmandu wie in den Bergregionen wird die bankrotte Staatsmacht durch die schnell zugreifende Macht der Aufständischen ersetzt.

Bei den Verhandlungen verlangte die Guerilla, dass die Armee ihren Aktionsradius auf fünf Kilometer im Umkreis ihrer Kasernen beschränkt. Doch die Hauptforderung galt den Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung. Eine irreale Forderung, denn die Wähler in den „befreiten“ Gebieten haben keine Möglichkeit, ihrem politischen Willen freien Ausdruck zu verleihen. Das Bekenntnis der CPN-M zu einem Mehrparteiensystem ist bislang bloße Rhetorik. Das autoritäre Auftreten der Guerilleros gegenüber der Bevölkerung weckt jedenfalls keine Hoffnung auf ein demokratisches Miteinander. Die Regierung in Kathmandu lehnt die Forderungen ab, solange die Rebellen nicht ihrer eigenen Entwaffnung zustimmen. Das politische Spektrum hat sich durch die Wandlung der ehemals kommunistischen UML (United Marxists-Leninists) zur neoliberalen Mitte so verändert, dass auf der Linken für die CPN-M durchaus Raum wäre.

In diesem Sommer häuften sich die Verstöße gegen das Waffenstillstandsabkommen: Drohungen gegenüber US-amerikanischen Hilfsorganisationen, Zwangsrekrutierungen, Exekutionen von „Spitzeln“, Feuergefechte zwischen Armee und Aufständischen und sogar ein Mordversuch an einem ehemaligen Premierminister. Während der Verhandlungen übte die von Washington gestärkte Armee Druck auf die Regierung aus, um die Zugeständnisse möglichst gering zu halten, und die Rebellen stellten ein Ultimatum, das sich unmöglich einhalten ließ. Noch vor dem Bruch des Waffenstillstands bereiteten sie sich auf heftige Kämpfe vor. Aus medizinischen Kreisen hörte man: „Sie beschaffen sich Morphium für die Verletzten.“ Auch der Königspalast machte sich auf das Schlimmste gefasst. Mitte August beantragten 27 Mitglieder der königlichen Familie Visa für Europa.

Beide Lager sind immer noch überzeugt, das jeweils andere vernichten zu können. Die königliche Armee setzt auf die Unterstützung der US-Amerikaner und die internationale Isolation der Kommunisten.10 Die Rebellen glauben, angesichts der amerikanischen Misserfolge im Irak und in Afghanistan bestünde keine Gefahr einer direkten Intervention des Pentagon im Himalaja. Sie setzen auf die „Unfehlbarkeit“ ihrer Strategie der Einkreisung der Städte. Taktisch ist das Tal von Kathmandu keineswegs uneinnehmbar. Man brauchte nur zwei Straßen, den Flughafen und ein Treibstofflager einzunehmen, dann fiele die Hauptstadt und damit das ganze Land.

Am 29. August demonstrierten in Kathmandu nahezu 10 000 Menschen, um Maoisten und Regierung zur Wiederaufnahme der Verhandlungen zu bewegen. Doch der Widerstand der Bevölkerung gegen ein Wiederaufflammen der Kämpfe kümmert die „aufgeklärte Avantgarde des Proletariats“ genauso wenig wie die königliche Armee und ihre Verbündeten in Washington.

deutsch von Michael Bischoff

* Journalist

Fußnoten: 1 Siehe Jean-Luc Racine, „Die Maoisten gewinnen an Terrain“, Le Monde diplomatique, Juli 2003. 2 www.insec.org.np. 3 Schon 2001 wünschten sich nur 4 Prozent der Nepalesen eine militärische Lösung des Konflikts: Kanak Dixit und Shastri Ramachandaran, „State of Nepal“, Nepal (Latitpur) 2003. 4 Zit.n. der Tageszeitung The Himalayan, 6. Aug. 2003. 5 Quellen: „State of Nepal“, a. a. O., und Gespräche mit Vertretern der Asiatischen Entwicklungsbank. 6 „State of Nepal“, a. a. O. 7 Am 1. Juni 2001 ermordete der Thronfolger Dipendra bei einem Diner die königliche Familie und beging Selbstmord. Die Straße glaubt an ein Komplott Gyanendras, des unbeliebten Bruders des verstorbenen Königs Birendra, der auf diese Weise an die Macht gelangen wollte. 8 Siehe A World to Win, mehrsprachige Zeitschrift des maoistischen Revolutionary Internationalist Movement: www.awtw.org/index2.htm. 9 Siehe den Bericht 2003 der Insec, Kathmandu. 10 Siehe den Artikel Steven C. Bakers vom Center for Security Policy in Frontpage, Los Angeles, Juli 2003 (www.frontpage.com/Articles/ReadArticle.asp?ID=9090). Für den Autor wäre ein kommunistisches Nepal ein zweites Nordkorea, also eine potenzielle Basis für al-Qaida.

Le Monde diplomatique vom 14.11.2003, von CÉDRIC GOUVERNEUR