Gras unter den Füßen kämpfender Elefanten
ALS die Kapverdischen Inseln im Juli 1975 unabhängig wurden, waren die Hoffnungen groß und schienen gar nicht so unrealistisch. Die sozialen Fortschritte der Anfangsjahre sind bis heute unübersehbar. Doch die enthusiastischen Revolutionäre gerieten bald in Streit um die richtige politische Richtung und um lukrative Pfründen. Heute hat der Inselstaat neben der wirtschaftlichen Misere hauptsächlich mit der Korruption der einstigen Kämpfer zu kämpfen.
Von TOBIAS ENGEL *
Er war Weggefährte von Amilcar Cabral, der die „Afrikanische Unabhängigkeitspartei Guinea-Bissaus und der Kapverden“ (PAIGC) führte und als Schlüsselfigur bei der Beendigung der portugiesischen Kolonialherrschaft in Afrika mitwirkte. Heute ist Pedro Pires Präsident der Kapverdischen Republik und ein in der Wolle gefärbter Sozialdemokrat.1 „Wir sind ein kleines, instabiles und armes Land ohne großen Einfluss auf der internationalen Bühne. Wie es das Sprichwort so schön sagt: Es ist sehr schwer, das Gras unter den Füßen kämpfender Elefanten zu sein. Dennoch beteiligen wir uns nach Kräften an den Friedensbemühungen für den Nahen Osten …“
Wie es scheint, geht Präsident Pires direkten Fragen zur wirtschaftlichen Lage seines Landes lieber aus dem Weg und sinnt stattdessen über die bescheidene Rolle Kap Verdes in der internationalen Diplomatie nach. Früher, als Guerilla-Kommandant, war er jemand, auf dessen Wort man hörte. Niemand verstand es so gut wie er, zu den Bauern zu reden. Heute ist er der Staatschef in einem Land, das sich in den 1980er- und 1990er Jahren offenbar leichten Herzens der freien Marktwirtschaft verschrieben hat. Es besteht aus zehn Inseln und acht Inselchen im Atlantik, 450 Kilometer westlich von Dakar. Der Premierminister José Maria Neves regiert es wie ein Unternehmen.
Nach der offiziellen Trennung von Guinea-Bissau wurde die PAIGC 1981 in „Afrikanische Unabhängigkeitspartei der Kapverden“ (PAICV) umbenannt. Sie blieb bis 1990 die einzige zugelassene Partei auf den Inseln. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus regten sich auch in Westafrika Demokratisierungstendenzen, die Einführung eines Mehrparteiensystems wurde unvermeidbar. Auf Drängen der Investoren fanden 1991 die ersten freien Wahlen statt. Wie nicht anders erwartet, wurde das Regime samt seiner Einheitspartei hinweggefegt und vom „Movimento para Democracia“ (MPD) abgelöst. Die neue Regierung führte die freie Marktwirtschaft ein und legte ein Programm zur Privatisierung der staatlichen Kooperativen und Unternehmen auf, was vor allem portugiesischen Investoren zugute kam (Banken, Stromversorgung, Tankstellennetz etc.). So holte sich Portugal zurück, was es bei der Entkolonisierung verloren hatte. Zehn Jahre später, bei den Wahlen 2001, kehrte die in der Zwischenzeit zum Reformismus konvertierte PAICV mit ihren Nebelwerferparolen von einst an die Macht zurück.
Inzwischen ist die Hauptstadt Praia dreimal so groß geworden, ihre Einwohnerzahl ist von 30 000 auf 100 000 gestiegen: Die Landflucht schwemmt eine meist junge Bevölkerung auf der Suche nach Arbeit und Auskommen (65 Prozent der Kapverdier sind unter 20 Jahre alt) in die Stadt. Unterhalb des Plato-Viertels mit seinen Bürgervillen, den Ministerien und den Banken, allesamt aus der Kolonialzeit, liegt Succupia, der große Markt. Hier wird mit allem gehandelt, Textilien, Schuhen, Lebensmitteln, mit Waren, die geschäftstüchtige Frauen in Brasilien und China einkaufen. Manchmal bedienen sich Drogenringe dieser Händlerinnen und setzen sie als Kuriere nach Europa ein. Im Tiefgeschoss unter dem Marktplatz wurde ein Supermarkt eingerichtet, wo zumeist aus Portugal, Brasilien oder China importierte Lebensmittel zu für die Bevölkerung unerschwinglichen Preisen angeboten werden: Tunfisch und Sardinen in Dosen, Maismehl, Reis, Olivenöl und Haushaltsartikel.
Auf den Kapverden muss fast alles importiert werden. Es gibt so gut wie keine Rohstoffe, der Archipel wird immer wieder von Dürreperioden heimgesucht, und die landwirtschaftliche Produktion deckt gerade einmal 10 Prozent des Bedarfs. Der Gesamtwert der exportierten Güter – Fisch, Bananen, Salz – entspricht knapp 11 Prozent der Importe. So ist die einheimische Wirtschaft voll und ganz auf den Dienstleistungssektor, also auf Tourismus, und auf die Geldüberweisungen einer weit verstreuten Diaspora angewiesen. Die Inselgruppe selbst zählt ca. 460 000 Einwohner, die Zahl der Kapverdier, die im Ausland leben – vorwiegend in Portugal, den USA und Frankreich – wird auf 700 000 geschätzt. Die restriktive Einwanderungspolitik Europas und der USA ist eine Bedrohung für die Zukunft einer Bevölkerung, die immer schon auf Emigration angewiesen war, um dem trostlosen Zustand des Lands, der Armut oder Verfolgung zu entkommen.
Die Abwanderung hat unmittelbare Auswirkungen auf das soziale Leben auf den Inseln: Weil die Männer fortgehen, sind in 90 Prozent der Haushalte die Frauen das Oberhaupt der Familie, 60 Prozent sind allein erziehende Mütter. Sie sind es, die die Wirtschaft in Gang halten, ohne besondere Unterstützung von Seiten des Staats. „Morgens um sechs gehe ich zum Hafen, um Fisch zu kaufen“, erzählt die Fischhändlerin Dina, „manchmal gibt es welchen, manchmal auch nicht. Es kommt vor, dass ich lang warten muss, bis der Fischer bereit ist, mir seinen Fisch zu dem Preis zu verkaufen, den ich zahlen will. Dann gehe ich damit von Haus zu Haus. Wenn die Netze leer bleiben, dann hab ich tagelang, manchmal sogar wochenlang gar nichts. Da willst du deinen Kindern etwas geben, und du kannst es nicht, weil kein Geld da ist.“
Nicht selten müssen Kinder die Rolle des Familienoberhaupts übernehmen. Zehn- bis Vierzehnjährige verkaufen Zeitungen oder putzen Autos. Eine Kinderbande ist in der Gegend um die Pracinha da Escola Grande zugange. Sie polieren die Karosserien auf Hochglanz, bis hin zum Platz vor dem Amtssitz des Präsidenten, oberhalb des Strandes von Gamboa. „Die Reichen und die Leute aus der Verwaltung mögen es, wenn alles schön glänzt“, so der junge Boxer, der keine hohe Meinung von Politikern hat. Im Morgengrauen kommen die Straßenkinder an den Stränden von Praia unter den Booten hervor, wo sie die Nacht verbracht haben.
Durch die Abhängigkeit von Transferleistungen hat sich auf dem Inselstaat ein System eingespielt, in dem die Verantwortlichen oft nur noch die internationale Hilfe verwalten. Sie haben sich darauf spezialisiert, bei internationalen Organisationen Anträge auf Subventionen zu stellen, ein durchaus widersprüchliches Verhalten. Mit der Unabhängigkeit erhielten die Bereiche Bildung und Gesundheit absoluten Vorrang: 75 Prozent der Kapverdier können heute lesen und schreiben. Die großen Epidemien sind verschwunden, es gibt keine Hungersnot mehr, wenn auch 14 Prozent der Kinder unter Mangelernährung leiden. Andererseits gibt es aber nicht das geringste Anzeichen für einen politischen Ausweg aus der wirtschaftlichen Misere. Frustration und Verbitterung machen sich breit.
Dass die Regierung es nicht versteht, die Interessen ihrer Bevölkerung wahrzunehmen, zeigt sich besonders deutlich am Beispiel der Fischerei: Obwohl immerhin 15 Prozent der Erwerbstätigen in diesem Sektor arbeiten, gibt es weder entsprechende Ausbildungsmöglichkeiten noch eine zeitgemäße Infrastruktur (Trawler, Kühlhäuser, Konservenfabriken), und in internationalen Verhandlungen werden die Hoheitsgewässer und Fischereizonen nur unzureichend verteidigt.
Die allgemeine Laxheit in der Administration führt auch beim Städtebau zu chaotischen Zuständen. Der nach der Unabhängigkeit begonnene soziale Wohnungsbau gibt ein trauriges Bild ab. In der Hauptstadt fehlt es an Wohnraum, die Mieten sind hoch, die Stadt wuchert bis hinauf in die Hügel. Überall entstanden illegale, aus den unterschiedlichsten Baumaterialien zusammengebastelte Behausungen, Blechhütten, bunte Bretterbuden, dicht an dicht, an Steilhänge gebaut. Bei jedem starken Regen drohen lebensgefährliche Erdrutsche.
In der Nähe der Nationalbibliothek, auf einem Platz, der noch Baustelle ist, erhebt sich ein Monument von besonderer Art: ein riesiger Amilcar Cabral in Bronze, zwanzig Tonnen schwer. Dem Nationalhelden wurden Schlitzaugen verpasst, er trägt einen weiten winterlichen Umhang und scheint für die Durchquerung einer asiatischen Steppe gerüstet zu sein. Es handelt sich um ein Geschenk der Volksrepublik China.
Die Regierung Kap Verdes richtet gern Symposien von fragwürdigem Nutzen über Menschenrechte und Armut aus, die eine Menge Geld kosten. Und sie erntet regelmäßig Lob von den internationalen Finanzinstitutionen. 44 Prozent der Kapverdier leben unterhalb der Armutsgrenze, 47 Prozent sind arbeitslos oder unterbeschäftigt. Doch wenn man die Regierungsmitglieder – Veteranen des Befreiungskampfes – mit diesen Fakten konfrontiert, verschanzen sie sich hinter den ermunternden Berichten der Weltbank: „Haben Sie die offiziellen Daten unserer Wirtschaftsentwicklung nicht gelesen?“
„Genug mit dem Gerede und den Runden Tischen.“ In einem ungewöhnlich harschen Ton meldete sich der Erzbischof von Praia, Monsignore Paolino Livramento Evora, zu Wort. „Die Hilfe darf nicht länger an den Armen vorbei in die Taschen derer fließen, die ohnehin schon alles besitzen. Wir brauchen ein Aktionsprogramm für Hilfsbedürftige und nicht für amiguinhos.“ Es ist schon seltsam, wenn ein Kirche, die durchaus reaktionäre Werte vertritt und gegen die Abgabe von Verhütungsmitteln und gegen Abtreibung zu Felde zieht, eine linke Partei derart ermahnen muss.
In den Buchhandlungen von Praia sind die Werke von Amilcar Cabral (er gilt als einer der bedeutenden marxistischen Theoretiker der afrikanischen Revolution) aus den Regalen verschwunden. Verdrossenheit und Verbitterung sind überall zu spüren. Kaum etwas ist übrig von der Botschaft des ermordeten Befreiungskämpfers: „Erstens, alles für das Volk, zweitens, alles für das Volk, drittens, alles für das Volk“. Der Anführer der christlichen Rabelados-Bewegung kehrt diese Losung um in ein „Alles für mich“, um das Verhalten der heutigen Führungsschicht zu charakterisieren.
In allen politischen Gruppen hat sich eine Art Kastengeist etabliert. Bei der PAICV sind aus den Genossen von einst Seilschaften geworden. „Die Vorstellung von einer Partei, die die Belange des Volks oder einer bestimmten Klasse vertritt, existiert schon lange nicht mehr. In allen Parteien sitzen Leute, die zur Oberschicht gehören und somit dieselben wirtschaftlichen Interessen teilen. Sobald sie an der Macht sind, unterscheiden sich ihre politischen Optionen kaum“, meint der Rechtsanwalt Joselino Viera.
Diesbezüglich ziemlich aufschlussreich sind die Lebensläufe einiger Mitstreiter der ersten Stunde. Antonio Lima leitete in den 1970er-Jahren die Gruppe „Kaoguiamo“. Sie besang den Befreiungskampf der Völker Guinea-Bissaus und der Kapverdischen Inseln. Nach einer glänzenden Diplomatenkarriere bekleidet er heute einen Beraterposten im Präsidialamt und macht sich die offizielle Lesart der Wirtschaftszahlen zu Eigen.
Georges, ehemaliger Drummer bei „Kaoguiamo“, stellt die damals propagierte Weltanschauung geradezu auf den Kopf. Aus dem pfiffigen, schlaksigen jungen Mann mit „Cabral“-Mütze, Afro-Look und Black-Panther-Outfit ist ein behäbiger Pascha geworden. Er trägt ein Goldkettchen um den Hals, dazu Ring und Gliederarmband, macht Geschäfte und fährt einen Toyota.
Auch Abusa, die Kämpferin, der Cabral einst den Beinamen „die schwarze Perle“ gab, hat sich stark verändert. Fragen weicht sie aus, und um ihren Mund bilden sich bittere Falten, als fürchte sie, wegen ihrer Antworten den Status als Guerillaheldin zu verlieren samt daraus entstandenem Pensionsanspruch. Während sie auf ihre Pension wartet, nimmt sie gern Einladungen zu Feierlichkeiten in der portugiesischen Botschaft an, obwohl, wie sie sagt, ihr das viele Essen zu schaffen mache. „Für die ehemaligen Kämpfer hat man keine Verwendung mehr“, bedauert eine Putzfrau. „Auch Cabral haben sie unter den Teppich gekehrt, wie Dreck.“
Nach der Unabhängigkeit hat sich die PAICV allmählich all dessen entledigt, wofür sie einmal gestanden hatte. Der frühere Kämpfer für die Sache der Revolution, Vorbild der Jugend und Gefangener der portugiesischen Geheimpolizei im Straflager von Tarrafal, der Architekt Pedro Martins ist nach längerem Aufenthalt in den USA nach Praia zurückgekehrt. Er erzählt mit ruhiger und tiefer Stimme von früher und beschwört in subtilen Formulierungen die „Begeisterung eines jungen Revolutionärs“ herauf, die „verrückten Hoffnungen, die man mit der Unabhängigkeit verbunden“ hatte. Doch das Scheitern war bereits vorprogrammiert, „als die kapverdischen Widerstandsgruppen durch die Maquisards der PAIGC verdrängt wurden“, die aus Guinea gekommen waren und von den Verhältnissen auf den Inseln keine Ahnung hatten. „Aufgrund der internen Spaltungen konnten Opportunisten und Karrieristen die Partei unterwandern. Es gab Sektierertum, junge und auch ältere Kameraden wurden verfolgt, inhaftiert, gefoltert. So ist der revolutionäre Geist verflogen, der Elan war dahin.“
Die Verbitterung der Kämpfer der ersten Stunde ist um so größer, als Kap Verde von allen ehemaligen portugiesischen Kolonien am besten dasteht – verglichen etwa mit Guinea-Bissau, das zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt gehört. Aber hinter den offiziellen Zahlen verbirgt sich eine himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit. Die gleich nach der Unabhängigkeit in die Wege geleiteten sozialen Errungenschaften wurden durch den neoliberalen Kurs der 1990er-Jahre und durch die Korruption zerstört. So erzählt der Rabelado-Anführer: „Wir gehen nicht mehr zum Arzt, wir haben kein Geld dafür. Die Fahrt nach Praia können wir uns nicht leisten. Und wenn der Arzt ein Rezept ausstellt, dann nützt es uns herzlich wenig, denn wer soll die Medizin bezahlen? Die Kranken bleiben krank, die Rezepte liegen herum. Und viele Krankenhäuser haben ohnehin keine Medikamente.“
In Kap Verde von sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung zu reden ist reine Fiktion. Das Bruttoinlandsprodukt des Landes und die internationale Hilfe gehen durch die Hände einer arroganten, selbstgerechten Elite. Das Volk wird mit unklaren Fantasieprojekten hingehalten, von denen kaum welche je verwirklicht werden. Für den Bau eines Krankenhauses oberhalb der Hauptstadt beispielsweise gibt es keinen präzisen Finanzierungsplan. Das Projekt wird immer wieder auf die lange Bank geschoben. Laut Maria Luisa, die Zahnärztin ist, wissen die zuständigen Behörden „nicht einmal Bescheid über die medizinische Situation; namentlich von Risiken im Zusammenhang mit Aids haben sie keine Ahnung und verweigern dem medizinischen Personal die Mittel“. Der Gipfel der Gleichgültigkeit: Es gibt keinerlei Vorbereitungen, um die achtzig Ärzte, die im nächsten Jahr von ihrer Ausbildung aus Kuba zurückkommen werden, anzustellen und zu bezahlen. „Aber Sozialdaten sind eben nicht die Daten, von denen sich die Weltbank beunruhigen ließe.“
Die Elite wird weiterhin stark durch Portugal und die USA geprägt, deren kapverdische Diaspora wichtig und einflussreich im Bildungsbereich und im Fernsehen ist und bei wirtschaftlichen Beteiligungen dominiert. In den kapverdischen Hoheitsgewässern werden tief unter dem Meeresgrund große Ölvorkommen vermutet, weshalb US-amerikanische Spezialisten derzeit Probebohrungen durchführen.2 „Ein neuer Persischer Golf für die USA, ein Ölkorridor“, meint Manuel Delgado, PR-Berater von Präsident Pires und Chef der Internetzeitung „Paralelo 14“. Der Mann hütet sich wohlweislich zu erwähnen, dass Washington Druck macht, die Lebensmittelhilfe reduziert und Strafgefangene kapverdischer Herkunft zurück in die überfüllten Gefängnisse von Praia geschickt hat. Er begnügt sich mit dem Kommentar: „Wir können uns der ‚Golf-Politik‘ nicht entgegenstellen. Wir müssen mit dem Strom schwimmen.“
deutsch von Marcel Hazard
* Journalist und Filmemacher.