Wasserkrieg, Erdgaskrieg, Bürgerkrieg
DER Aufstand der Quechua und Aymará in Bolivien, dem sich nach und nach die Arbeiterschaft und die Mittelschicht angeschlossen haben, endete – fürs Erste – mit dem Rücktritt und der Flucht des unpopulären Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada. In vielen lateinamerikanischen Gesellschaften sind seit einiger Zeit heftige Abwehrkämpfe gegen den Neoliberalismus im Gange. Aber in Bolivien geschah es das erste Mal, dass Organisationen der indigenen Bevölkerung die führende Rolle in einem breiten Bündnis mit einem eindeutigen, wenn auch kurzfristigen politischen Ziel übernommen haben.
Von WALTER CHÁVEZ *
Im April 2002 wurde der Bechtel-Konzern im so genannten Wasserkrieg aus Bolivien vertrieben. Der US-Multi hatte versucht, in Cochabamba die Trinkwasserpreise zu erhöhen.1 Im Januar 2003 brachten heftige Proteste in La Paz eine Sondersteuer zu Fall,2 die der Internationale Währungsfonds vorgeschlagen und durchgesetzt hatte, um so das Haushaltsdefizit zu senken, das in Bolivien nach offiziellen Angaben bei fast 8,5 Prozent liegt.
Der Widerstand, der dem neoliberalen Lager in beiden Fällen entgegenschlug, war nur ein Vorgeschmack auf den Aufstand, der Staatspräsident Gonzalo, Bergbauunternehmer und Parteichef des Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR), am 17. Oktober zum Rücktritt zwang. Ein Jahr zuvor, bei den Wahlen im Juni 2002, hatte derselbe Sánchez de Lozada, die Chance erhalten, für eine zweite Amtsperiode die Geschicke der Andenrepublik zu lenken.
Es ist nahe liegend, den Abgang von Sánchez de Lozada mit dem von Jamil Mahuad in Ecuador oder dem von Fernando de la Rúa in Argentinien zu vergleichen, die ebenfalls beide durch den Volkszorn aus ihrem Amt vertrieben wurden. Mit Gonzalo Sánchez de Lozada war die neoliberale Richtung in Bolivien so unverblümt und aggressiv aufgetreten wie nie zuvor.
Außerdem war der bolivianische Aufstand das Resultat der Ausweitung und der Politisierung sozialer Bewegungen, deren Forderungen über die Abdankung des Präsidenten weit hinausgehen. Denn sie zielen auf die Beseitigung des neoliberalen Wirtschaftsmodells und die Begründung eines neuen Sozialpakts durch eine verfassunggebende Versammlung.
Gonzalo Sánchez de Lozada, Sohn eines bolivianischen Unternehmers und einstigen Beraters von Nelson Rockefeller, erhielt seine Ausbildung in den Vereinigten Staaten, verdiente im Bergbau ein Vermögen und begann seine aktive politische Laufbahn 1979 mit dem erklärten Ziel, Bolivien in die neoliberale „Moderne“ zu führen. Er suchte sich eine Partei mit Tradition,3 scharte einen Kreis von Wirtschaftsexperten um sich und revolutionierte die in Bolivien üblichen Methoden politischen Planens und Agierens durch den Einsatz von ausnahmslos nordamerikanischen Meinungsforschern und Wahlkampfstrategen. Zunächst wurde er zum Abgeordneten für die Region Cochabamba gewählt, dann als Planungsminister in die Regierung von Víctor Paz Estenssoro (1985–1989) berufen.
Sein Auftrag lautete, die neoliberale Wende in der bolivianischen Wirtschaft und Gesellschaft zu vollziehen. Zusammen mit Jeffrey Sachs erarbeitete er das „Decreto Supremo 21060“4 , das die bolivianische Wirtschaft vollends auf neoliberalen Kurs brachte. Das Gros der Reformen wurde jedoch erst umgesetzt, nachdem „Goni“ (wie Gonzalo Sánchez de Lozada in Bolivien allgemein genannt wird) die Präsidentschaftswahlen von 1993 gewonnen hatte. Gonis Modernisierungspropaganda hatte in der bolivianischen Gesellschaft, die durch den Militarismus der Sechziger- und Siebzigerjahre weit zurückgeworfen worden war, erstmals eine gewisse Resonanz gefunden.
Sein Regierungsprogramm, der so genannte Plan de Todos, stellte ein jährliches Wirtschaftswachstum von 10 Prozent in Aussicht; er wollte 500 000 neue Arbeitsplätze schaffen, womit die Arbeitslosigkeit nahezu beseitigt worden wäre; er wollte ausländische Investitionen über die Privatisierung staatlicher Betriebe (Telekommunikation, Verkehrsbetriebe, Erdgas- und Erdölförderung) ins Land holen und die Rentensysteme sowie das Justiz- und Bildungswesen reformieren.
Sein Programm wurde durch eine von Analysten, Politologen und Intellektuellen getragene ideologische Offensive unterstützt, die der Gesellschaft das neue Modell schmackhaft machen sollte. Das erklärte der vereinte Chor von Ideologen auch dann noch für praktikabel, als 1998 die schwere Krise der bolivianischen Wirtschaft offenkundig wurde. Tatsächlich erreichte die Regierung weder die angekündigten Wachstumsraten noch das versproche Ziel, die vielen neuen Arbeitsplätze zu schaffen.5 Und die Privatisierung geriet in die Kritik, weil sie Spekulationskapital und Schwarzgeld angelockt hatte, wodurch die ohnehin niedrigen Gewinne ins Ausland abflossen, statt dem Land zugute zu kommen.6
Nach 15 Jahren Neoliberalismus dokumentiert sich die Teilhabe Boliviens an der Moderne lediglich in einer Zunahme der Luxuskarossen, in denen die wirtschaftliche und politische Elite herumkutschiert, oder in den Internetcafés, die den Bolivianern die Illusion vermitteln, auch irgendwie an der Globalisierung teilzuhaben. Im Jahr 2000 machte sich der Unmut der Bevölkerung erstmals Luft. Mit Straßenblockaden im Altiplano (dem Andenhochland um La Paz) demonstrierten die Menschen vor allem für Verbesserungen im Gesundheits- und Bildungswesen. Dann wurde im Wasserkrieg von Cochabamba dem internationalen Kapital eine Abfuhr zuteil. „Wir haben einen historischen Sieg über die Globalisierung errungen“, sagte damals Óscar Olivera vom Aktionsbündnis Coordinadora del Agua.
Die makroökonomischen Daten lassen erkennen, warum der Aufstand des Volkes mehr als gerechtfertigt ist. Im Jahr 2002 exportierte Bolivien Güter im Gesamtwert von 1 300 Millionen Dollar – nicht mehr als schon 1980. Damals lag das jährliche Pro-Kopf-Einkommen bei 940 Dollar, im Jahr 2002 bei 960 Dollar. Nur bei der Arbeitslosigkeit und der Armutsentwicklung sind kräftige Wachstumsraten zu verzeichnen. Nach Angaben des staatlichen Statistikamtes (Instituto Nacional de Estadísticas, INE) leben 58,6 Prozent der Bolivianer unterhalb der Armutsgrenze; auf dem Land liegt dieser Anteil sogar bei 90 Prozent. Nach dem Bericht des United Nations Development Programme (UNDP) 2003 leben die Menschen in den ländlichen Gebieten von einem Boliviano (10 Cent) pro Tag.7 3,8 der 8 Millionen Einwohner Boliviens sind Bauern.8 Das erklärt die hohe Kampfbereitschaft der Protestbewegung, die hauptsächlich von bäuerlichen Verbänden und Genossenschaften getragen wird, wie auch ihren langen Atem: Beim Rücktritt von „Goni“ dauerten ihre Aktionen und Blockaden schon drei Jahre an.
Seit Gründung der Republik Bolivien 1825 durch kreolische (von Spaniern abstammende) Eliten waren Bauern und Indios immer und überall ausgeschlossen. Immer wieder hat der Staat Verordnungen erlassen, die sie ihres Grund und Bodens beraubten.9 Erst mit der Revolution von 1952 wurden Indios zu Staatsbürgern und erhielten das Wahlrecht. Trotzdem nahmen sie während des zwanzigsten Jahrhunderts nicht aktiv am politischen Leben teil. Stets waren es die akademische Linke und einzelne Gruppen aus der Mittelschicht, die progressive Ideen vertraten (denen aber der Zusammenbruch des Sozialismus die theoretische Basis entzogen hatte), und dazu die mineros (Bergarbeiter), deren Zahl 1985 allerdings stark dezimiert wurde.10
Die arbeits- und heimatlos gewordenen Bergleute ließen sich in der Region Cochabamba nieder, wo sie mit dem Anbau von Coca begannen. Dort entstand in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre die Bewegung der cocaleros, die sich zu einer politischen Partei, dem Movimiento al Socialismo (Bewegung für den Sozialismus, MAS), zusammenschlossen und es bei den Wahlen im Jahr 2002 schafften, 35 Bauern und Indios ins Parlament zu bringen. Der MAS-Vorsitzende Evo Morales trat im Kongress gegen Sánchez de Lozada zur Stichwahl um die Präsidentschaft an.
Parallel dazu formierte sich im Altiplano eine Interessenvertretung der Aymará-Indianer, die im September 2000 mit einem gelungenen Generalstreik und Straßenblockaden den damaligen Präsidenten Hugo Banzer Suárez11 an den Rand des Rücktritts brachte. 2001 gründeten auch sie eine Partei, Movimiento Indígena Pachacuti (Indigene Bewegung Pachacuti, MIP), über den weitere sechs Indios Einzug ins Parlament hielten, darunter Felipe Quispe, „El Mallku“.12
Revolte an den Urnen
DASS Indios fast ein Drittel der Sitze im bolivianischen Parlament erobern konnten, beunruhigte vor allem die Mittel- und Oberschicht wie auch die Kreise, die in Bolivien das eigentliche Sagen haben: die Unternehmer, die Militärs und die Botschaft der USA. MAS und MIP errangen 28 Prozent der abgegebenen Stimmen und zwangen damit die traditionellen Mitte-rechts-Parteien MIR und MNR (später kam noch die NFR dazu), sich die Kontrolle über Regierung und Parlament durch ein Zweckbündnis zu sichern. Doch gelang es ihnen nicht, der Wirtschaft entscheidende Impulse zu geben oder die neue indianische Linken zufrieden zu stellen. Diese erhielt Verstärkung von anderen sozialen Bewegungen wie der Bauerngewerkschaft aus dem östlichen Tiefland, der Coordinadora del Agua aus Cochabamba und den ayllus (Gemeinschaften von Ureinwohnern) aus Potosí.
Als Gonzalo Sánchez de Lozada im August 2002 seine zweite Amtszeit antrat, erkannte er, dass angesichts der maroden Wirtschaft sein neoliberales Modell nur zu retten war, wenn er das Erdgas exportierte, das in den letzten Jahren entdeckt worden war und das zweitgrößte Vorkommen auf dem Subkontinent (nach Venezuela) darstellt.
1997 hatte „Goni“ zwei Tage vor Ende seiner ersten Amtszeit das Dekret 24806 unterzeichnet, mit dem das bolivianische Erdgas zum Eigentum des internationalen Konsortiums Pacific LNG (das aus der spanischen Repsol YPF, British Gas und Pan American Energy besteht) erklärt wird. Bolivien sollte also nur von den Tantiemen auf Förderung und Ausfuhr des Gases profitieren13 und lediglich darüber mitreden können, wie und auf welchem Wege das Gas exportiert wird. (Die MAS hat vor dem Verfassungsgericht Beschwerde gegen das Dekret eingelegt, eine richterliche Entscheidung steht bis heute aus.) Sánchez de Lozada verhandelte mit der Pacific LNG mit dem Ziel, das Gas über Chile in die Vereinigten Staaten zu verschiffen. Damit aber traf er den wunden Punkt des bolivianischen Nationalgefühls, da man es Chile bis heute nicht verziehen hat, dass es Bolivien im Salpeterkrieg (1879) seine Küstenregion und damit den Zugang zum Meer weggenommen hat.
Hier fanden die sozialen Bewegungen und die Parteien der neuen Linken zum ersten Mal ein gemeinsames Ziel, auf das sie ihren Kampf konzentrieren konnten: Das Erdgas sollte wieder in den Besitz des Staates übergehen und weder über noch nach Chile exportiert werden. Das war der Beginn des so genannten Gaskrieges. Ausdrücklich verbanden die neue Linke und die sozialen Bewegungen diesen Kampf mit einer älteren Forderung an die Regierung Sánchez de Lozada. Die sollte eine verfassunggebende Versammlung einberufen und einen neuen Staatsvertrag ausarbeiten: „Damit wollen wir das neoliberale Modell von Grund auf verändern und gleichzeitig den Sozialpakt den Verhältnissen anpassen, der der gesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeit unseres Landes nicht mehr in ausreichendem Maße gerecht wird.“14
Die Forderung nach Rückübertragung des Gases wurde massiver vorgetragen, als die geheim gehaltene Information bekannt wurde, dass die Konzerne den USA das Erdgas zu einem lächerlichen Preis verkaufen wollten: 0,7 US-Cent pro 1 000 Kubikfuß (= 28 Kubikmeter), während Brasilien derzeit 1,7 US-Dollar bezahlt und der Weltmarktpreis sich zwischen 2 und 4,5 Dollar bewegt. Der Chef des MIP, Felipe Quispe, kommentiert: „Es ist also offensichtlich, dass Bolivien, wenn dieses Geschäft weitergeführt wird, nur mit Almosen beteiligt wäre. Und außerdem müssten unsere Familien ihr Essen wie bisher über Feuer aus getrocknetem Esels- oder Kuhdung kochen, während Kaliforniens Leuchtreklamen Nacht für Nacht mit bolivianischem Gas betrieben würden. Darum war dieses Projekt wirtschaftlich wie politisch unannehmbar und niederträchtig. Als Erstes müssen wir die Verfügungsgewalt über das Gas wiedererlangen und es dann exportieren.“15
Vor etwa acht Monaten starteten die sozialen Bewegungen zusammen mit dem MAS und dem MIP eine breite Kampagne zur Rückerlangung der Gasvorkommen, die aber nicht recht in Gang kam. Doch dann kam wieder einmal die alte Dialektik von Zufall und Notwendigkeit zu Hilfe. Am 12. September erklärten die mallkus, jilakatas und mamat’allas (Autoritätspersonen, Männer und Frauen, der indigenen Völker in 30 Provinzen) den permanenten Ausnahmezustand und forderten die Freilassung des jilkata Felipe Huampo. Den hatte man verhaftet, weil er in seiner Gemeinde an den Ufern des Titicacasees zwei Viehdiebe nach Stammesrecht zum Tode verurteilt hatte.
Als sich die Regierungsbehörden weigerten, den „Akt stammesrechtlicher Selbstjustiz“ anzuerkennen, blockierten die Gemeinden des Altiplano zum Protest die Straßen und Zufahrtswege, und ihre obersten Anführer deklarierten einen Hungerstreik, der in El Alto stattfinden sollte, einer fast ausschließlich von Aymará bewohnten Stadt oberhalb von La Paz, in der 92,4 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze leben.16 Dieses Aufbegehren gegen die zentralstaatliche Rechtsordnung fiel mit einer landesweiten Protestaktion der sozialen Bewegungen am 19. September zusammen, bei der offiziell der Gaskrieg ausgerufen wurde. Die Aktion war erfolgreich; mehr als 100 000 Menschen im ganzen Land waren beteiligt, parallel dazu weiteten sich die Straßenblockaden auf dem Altiplano aus. Tags darauf kam es in der Ortschaft Warisata zu einer Schießerei, als Verteidigungsminister Carlos Sánchez Berzaín an der Spitze einer Armeeeinheit eingriff. Sechs Dorfbewohner starben, unter ihnen ein achtjähriges Mädchen. Damit war die Lunte ans Pulverfass gelegt. Eine Welle der Solidarität ging durchs Land, und die indigenen Gemeinschaften beschlossen, der Regierung von Sánchez de Lozada ganz offen den Krieg zu erklären: „Ahora sí, guerra civil“ (Bürgerkrieg, das Maß ist voll) lautete die Parole. Der Verband der Gemeinderäte von El Alto rief den Generalstreik aus, dem sich auch die Gewerkschaft Central Obrera Boliviana (COB) anschloss; unterstützt wurde sie dabei von den Mineros, die zum ersten Mal seit Jahren wieder aktiv wurden. Zu den bisherigen Forderungen kam jetzt auch die nach dem Rücktritt des Präsidenten hinzu.
Dem fiel nur eine Strategie ein: abwarten, „bis die Demonstranten erschöpft aufgeben“. Doch die Revolte weitete sich aus, durch die Streiks und Blockaden von El Alto gelangten keine Brennstoffe und Nahrungsmittel mehr nach La Paz. Die Regierung befahl die Einnahme der Aymará-Stadt durch das Militär. Am Wochenende des 11. und 12. Oktober wurde um fast jede Straße gekämpft, die Nachbarschaftsverbände setzten sich mit Stöcken und Steinen zur Wehr. Die über zwanzig Toten waren ausnahmslos Zivilisten, bis auf einen Soldaten, der von einem Hauptmann der Luftwaffe durch Kopfschuss getötet worden sein soll, weil er sich weigerte, auf die Bevölkerung zu schießen.17
Der Gaskrieg fand dann auch eine erste, zögerliche Resonanz in der Gegend von Potosí, wo sich die ayllus mit dem „Bürgerkrieg“ einverstanden erklärten. Der Marsch der Aufständischen aus den ländlichen Regionen auf die Haupstadt endete am 13. Oktober mit einem erneuten Gemetzel: Zwanzig Tote und hunderte Verletzte blieben im Zentrum und in den Außenbezirken von La Paz zurück. Am Nachmittag des 15. Oktober begannen auch Teile der Mittelschicht in La Paz, die Rücktrittsforderungen mit einem Aufruf zum Hungerstreik zu unterstützen. Dies war entscheidend, da die führenden Vertreter derselben Mittelschicht, die sich jetzt an die Spitze des Streiks stellten, in den 1990er-Jahren die Durchsetzung des neoliberalen Modells aktiv unterstützt oder zumindest toleriert hatten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich in dem Konflikt nur die regierungstreuen traditionellen Parteien und die Protestbewegung gegenübergestanden. Diesen Umstand hatte Sánchez de Lozada genutzt, um gegenüber dem Ausland zu behaupten, es handle sich um eine von der Drogenmafia initiierte putschistische Verschwörung.18
Innerhalb der nächsten Tage bildeten sich in den Kirchen des Landes Streikzentren. „Goni“ hatte den Regierungspalast mittlerweile verlassen und sich in seiner Residenz verschanzt, von wo aus er wirre Statements abgab, während in der Stadt bürgerliche Kreise und Indios in Sprechchören riefen: „Que se vaya el asesino“ („Der Mörder soll verschwinden“).
Bei einer Umfrage von Radio Fides sprachen sich am 16. Oktober zwei Drittel der Bolivianer für einen Rücktritt von Sánchez de Lozada aus, aber die Botschaft der USA war entschieden dagegen. Dadurch verlängerte sich die Agonie des Regimes um einige Stunden. Am Mittag des 17. Oktobers schickt Goni dem Kongress seine Rücktrittserklärung und machte sich in einem Hubschrauber davon, den ihm der peruanische Präsident Alejandro Toledo geschickt hat.
Nach Schätzungen des Soziologen Álvaro García Linera19 hat der Aufruhr, der zur Absetzung von Sánchez de Lozada führte, mehr Menschen mobilisiert als die „Nationale Revolution“ 1952 – mit dem Unterschied, dass sich die Aufständischen diesmal auf kein militärisches Kräftemessen mit der Armee eingelassen haben und auch keine Übernahme der Macht anstrebten. Sie begnügten sich mit der Abdankung des Präsidenten, der Symbolfigur des Neoliberalismus, und dem Versprechen seines Nachfolgers, grundlegende Änderungen am Wirtschaftsmodell vornehmen zu wollen, die demokratische Verfassung aber nicht anzutasten.
Die neue bolivianische Linke hat derzeit weder ein programmatisches Konzept für eine Machtübernahme, noch strebt sie eine Diktatur des Proletariats an, wie noch die Linke in den 1970er-Jahren. Im Gegenteil. Allen voran die Führer der Protestbewegungen vertraten die Ansicht, der Rücktritt von Sánchez de Lozada habe den Weg für eine verfassungskonforme Nachfolge frei gemacht, und wählten mit Hilfe des Parlaments den bisherigen Vize Carlos Mesa zum neuen Präsidenten.
Im Übrigen verlangten die eigentlichen Initiatoren des Führungswechsels – MAS, MIP, die Arbeitergewerkschaft COB und die Mineros – auch keine Beteiligung an der Regierung, sondern ziehen eine Beobachterposition vor, um abzuwarten, ob Carlos Mesa dem orthodoxen Neoliberalismus wirklich Einhalt gebieten wird.
Was haben die Aufständischen also erreicht? Sie brachten die Eliten (zu denen auch der politisch wie wirtschaftlich als liberal geltende Mesa zählt) dazu, den neoliberalen Kurs und die soziale Ausgrenzung selbst zu beenden. In seiner Rede anlässlich seiner Vereidigung vor dem Parlament versprach Mesa, man werde ein verbindliches Referendum zu der Frage durchführen, ob das Erdgas exportiert werden solle oder nicht; man werde das Gesetz über fossile Brennstoffe ändern – die Voraussetzung für eine Rückübertragung der Eigentumsrechte am Erdgas auf Bolivien – und innerhalb einer angemessenen Frist eine verfassunggebende Versammlung einberufen. Am 21. Oktober bekräftigte er dieses Versprechen vor etwa fünftausend Aymará und fügte hinzu: „Wenn ich nicht Wort halte, können Sie mich aus dem Amt jagen.“
Die Vorbehalte der sozialen Bewegungen gegen eine Beteiligung an der neuen Regierung hatten anscheinend auch mit einer Diskussion zu tun, die von der alten Garde unter aktiver Beteiligung der US-Botschaft innerhalb und außerhalb Boliviens über die Medien geführt wurde. So sagte der Senator der MAS, Filemón Escobar: „Eine Regierung von Coca-Bauern, Aymará und Resten der traditionellen politischen Parteien würde leicht als Drogenmafia abgestempelt. Damit könnte man dann einen Boykott im In- und Ausland begründen, um einen Zusammenbruch herbeizuführen, Neuwahlen anzusetzen und mit der immer wankelmütigen Mittelschicht den Neoliberalismus aus der Mitte der Gesellschaft heraus wieder aufzubauen. Wir dürfen nicht verzweifeln, wir müssen einen Schritt nach dem anderen tun, unsere Sache ist eine ständige Ankündigung einer möglichen Zukunft, eine langsame Steigerung, die zu einer rechtmäßigen, demokratisch gewählten Regierung der neuen Linken führen wird.“20
Tatsächlich führt der MAS seit Mai dieses Jahres eine Wahlkampagne, um in wenigstens rund 150 der ungefähr 300 Gemeinden des Landes die Mehrheit zu erringen. Über die örtlichen Regierungen will man dann allmählich die zentrale Macht beeinflussen, um sie dann bei den Wahlen 2007 zu übernehmen. Komplexer ist die Position der Aymará-Bewegung. Felipe Quispe und der MIP haben praktisch darauf verzichtet, ihren Einfluss über den Altiplano hinaus auszudehnen. Ihr Kampf konzentriert sich gegenwärtig darauf, die Zugehörigkeit des Aymará-Volkes zum bolivianischen Staat neu zu definieren, ohne dabei auf den Kampf gegen den Neoliberalismus zu verzichten. Dabei setzt er auf die Aymará-Identität und ihre traditionelle Kultur des Gemeinsinns, der Gerechtigkeit und ihre eigene Sozialordnung. Ziel ist ein Autonomiestatus, der über die verfassunggebende Versammlung durchgesetzt werden könnte.
So steht der liberale Mesa im Spannungsfeld zweier gegensätzlicher Kräfte: auf der einen Seite die neue Linke, die ihn an die Regierung gebracht hat, auf der anderen das alte Parteiensystem mit seiner engen Verbindung zur geschrumpften Unternehmerelite und der US-Botschaft, dem er seine Wahl ins Parlament verdankt. Er steht vor der historischen Alternative, entweder das Wirtschaftsmodell umzustellen, damit die weitreichenden Veränderungen, auf die sich das Land zubewegt, innerhalb einer gewissen Normalität erfolgen, oder auf die heimliche Restauration dieses Modells zu setzen. Die sozialen Bewegungen haben ihm eine Frist von neunzig Tagen gesetzt, den versprochenen Reformprozess in Gang zu setzen. „Wenn er nicht Wort hält, steigt auch er in den Hubschrauber“, hat Fernando Quispe wissen lassen. Die Zukunft der bolivianischen Revolution ist noch offen.
deutsch von Christian Hansen
* Leiter der Redaktion der bolivianischen Ausgabe von Le Monde diplomatique.