14.11.2003

Unbekannte Essobjekte

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Unbekannte Essobjekte

Die fleischartigen Substanzen, die man in Fastfood-Restaurants vorgesetzt bekommt, sind nur eine Travestie des Lebensmittels Fleisch, zu dem Schlachten und Tod gehört. Der Umgang damit verrät einiges über das Verhältnis des westlichen Menschen zu seinen tierischen Mitgeschöpfen.

Von PASCAL LARDELLIER *

FLEISCH ist kein gewöhnliches Nahrungsmittel. Es besitzt eine symbolische Dichte, die Marzipan, Nudeln oder Chicorée nie erreichen werden. Das ist nicht als Bonmot gemeint: Fleisch (frz. viande) ist gewissermaßen die absolute Nahrung. „Vivenda“ bedeutet etymologisch „das dem Leben Dienende“. In Wirklichkeit aber hat der westliche Mensch ein kompliziertes und gestörtes Verhältnis zum Fleisch.

Fleisch verweist zunächst einmal auf unsere Natur als Fleischfresser, als Raubtiere. Fleisch ist ein Einbruch der Natur in die Kultur. Die französischen Worte für Fleisch (viande), Vergewaltigung (viol) und Gewalt (violence) ähneln sich, liegen semantisch eng beieinander. Die „tierische Nahrung“ schließt sowohl das Leben als auch den Tod in sich ein. Wenn wir Fleisch verschlingen, „verdauen wir“ – so ein bekannter Satz von Marguerite Yourcenar –„Agonien“ anderer Lebewesen. Es ist kein Zufall, dass dieses Nahrungsmittel Leidenschaft wie Abscheu, Appetit wie Ekel erregt.

Auch rückten viele Geistliche und Philosophen Fleisch in die symbolische Nähe zu den Trieben. Im Vegetariertum schwingt ein Streben nach Reinheit mit, und zu jeder Askese – etwa während der Fastenzeit – gehört stets und zunächst der Verzicht auf Fleisch. Der Verzehr von zumal dunklem Fleisch hingegen ist zugleich Genuss durch Aneignung und distanzierte Gewalt.

Das Problem ist, da wir eben Fleisch- und nicht Aasfresser sind, dass wir dafür töten müssen. Diese heikle Operation haben wir – gefühlsduselig und heuchlerisch, wie wir sind – aus unserem städtischen und vor allem moralischen Horizont weitgehend verbannt.

Der französische Soziologe Claude Fischler ruft uns die Schwierigkeit der „Fleischindustrie“ ins Gedächtnis: „Es gibt gewisse Aspekte, die man buchstäblich nicht zeigen und auch nicht sehen kann.“1 Nur das Wort „Schlachthaus“ erinnert uns an das, was hier passiert: es wird geschlachtet wie eh und je. Doch obgleich der Vorgang des Tötens längst industrialisiert, parzelliert und mechanisiert ist, beschleicht uns mit jedem Steak auf unserem Teller das schlechte Gewissen: Bekunden nicht 89 Prozent der Verbraucher, sie würden kein Fleisch mehr essen, wenn sie das Tier eigenhändig töten müssten?

Und schließlich hat die westliche Postmoderne unsere tierischen Lebensgefährten bis zur Unkenntlichkeit vermenschlicht und verniedlicht, um die farblose Masse der Millionen Tiere zu verleugnen, die solange ein elendes Leben haben, bis sie für uns nützlich werden – das heißt: essbar. Nur eine plötzlich auftretende Krise – wie der Skandal um hormonbehandeltes Kalbfleisch in den Siebzigerjahren oder jüngst der Rinderwahnsinn – führen uns noch gelegentlich vor Augen, wie inkohärent unsere Einstellung zu Tieren ist.

Nach und nach hat sich im Westen die Tendenz durchgesetzt, dem Fleisch nach allen Regeln der Kunst seine Fleischlichkeit auszutreiben. Am Ende einer langen Reihe semantischer und szenografischer Umdeutungen haben wir es geschafft, dem Schlachtvieh seine Eigenschaft als Tier abzusprechen. Enthäutet und in Stücke geschnitten haben wir es vor uns, ohne dass wir das Tier selbst auch nur erahnen können.2 In seiner weißen Plastikschale liegt das Supermarktsteak neben all den anderen anonymen Produkten, die den Einkaufswagen füllen. Das Tier kommt darin nicht mehr vor, es wird – nicht nur insgeheim – verleugnet.

Die Fastfood-Restaurants verdrängten den letzten verbliebenen Bezug zum Tier im Fleisch und steigerten die Ambivalenz ins Schizoide: Die Realität ist nicht mehr dassselbe wie die sichtbare Wirklichkeit, unsere Wahrnehmung zerfällt in zwei voneinander völlig abgeschottete Welten. Das Fleisch, das MacDonald’s seiner wichtigsten Zielgruppe, nämlich den Kindern vorsetzt, ist, wenn man so sagen darf, bar jedes Sinngehalts, eine wirklichkeitsfremde Parodie, ein karnevaleskes Etwas, und zwar in doppelter etymologischer Hinsicht: Zum einen wird es in verspielter, verkleideter Form präsentiert, zum anderen sei daran erinnert, das sich der Karneval vom italienischen carne levare herschreibt, was wörtlich übersetzt „Fleisch wegnehmen“ bedeutet.

Was die Fastfoodketten zum Verschlingen anbieten, ist ein parodistischer Wiedergänger (vgl. Clown Ronald als Firmenzeichen von MacDonald’s), ein Gegenpol zum Tragischen, das dem Fleisch innewohnt. Der degenerierte Ersatz will sich als Ersatz nicht zu erkennen geben, er lügt über die ihm zugrunde liegende Natur hinweg, denn er hat vom Fleisch weder den Namen noch die Form noch den Geschmack, versteckt sich vielmehr unter einem verkitscht-süßen Wiedergänger des Bluts: dem Ketchup.

Im Fastfood ist das vollständig ausradierte Tier wenn nicht abwesend, so doch zumindest unsichtbar. Das geht schon aus den Namen hervor: Nuggets, Hamburger, Rings. Ausnahmslos tritt das Englische an die Stelle des Französischen, damit nur ja keiner auf falsche Ideen kommt – oder vielmehr, um den Schwindel perfekt zu machen. Der Rohstoff wird solange in kleine Teile zerlegt und neu zusammengepresst, eingefärbt und umgeformt, bis er den Geschmacksnormen entspricht, die die US-Lebensmittelkonzerne als allgemein gültige durchzusetzen suchen: Hauptsache farbenfroh und irgendwie süß.3

Von Fleisch ist dabei schon gar nicht mehr die Rede. Es wird in Szene gesetzt, eingebunden in ein Kontinuum aus Spiel, Farben, Überraschungen und medial-kulturellen Happenings (Film- und Fernsehwerbung u. Ä.), in dem die fleischartige Substanz nur noch als Begleitphänomen auftritt, als Beiprodukt, um das es eigentlich gar nicht mehr geht. Eine kleine Umfrage ergab, dass fast alle Kinder unter fünf Jahren „zuerst wegen der Geschenke, dann wegen der Pommes und dem Ketschup“ zu MacDonald’s wollen. Versteckt zwischen den Lagen des Hamburgers mimt das Fleisch den Clown. Die aufgetürmten Schichten, die diversen Saucen und Zwischenlagen bringen es nicht zur Geltung, sondern verstecken es nur noch mehr.

Ausgelöscht wurde auch die ursprüngliche Farbe des Fleischs, die gewöhnlich eine wesentliche Rolle spielt – man denke an den Unterschied zwischen „dunklem“ und „hellem“ Fleisch. So haben MacDonald’s und Konkurrenz einen von Natur aus tragischen, von Gewalt geprägten Lebensbereich schön gefärbt, keimfrei und unkenntlich gemacht, zu einer Kinderei herabgewirtschaftet. Vom schlachtenden Metzger ist nur ein Grinsen geblieben.

In seinem berühmten Text „Beefsteak und Pommes frites“ beschreibt Roland Barthes das Steak mit dramaturgischen Worten: „Das Beefsteak gehört zur selben Blutmythologie wie der Wein. Es ist das Herz des Fleisches, das Fleisch im Reinzustand, und wer es zu sich nimmt, assimiliert die Kräfte des Rindes.“4 Das Fleisch vom Metzger weist noch immer Spuren dieser Virilität auf. Jedes Stück ist einzigartig in Form, Größe, Gewicht. Es ist das Produkt eines Verhältnisses zwischen Tier, Metzger und Kunde. Mit Pfeffer und Senf zubereitet, die seine eigene Kraft noch unterstreichen, birgt und entbirgt das blutige Stück Fleisch eine tragische Dimension. Essen wir es nicht mit verkappten Waffen, mit Messer und Gabel, die in ihrer Gestalt die Waffen, als die sie dienten und noch immer dienen, in sich tragen?

Das Fastfood jedoch verkörpert den Übergang vom Tragischen zur Spielerei, vom Virilen zum regressiv Kindlichen. In der Vorstellung tritt Globales an die Stelle des Lokalen, Standardisiertes an die Stelle des Persönlichen, Gezuckertes an die Stelle von Gesalzenem. Gisèle Harrus-Révidi erklärt in ihrer scharfsinnigen psychoanalytischen Studie „Die Lust am Essen“ folgerichtig: Was man in den Fastfood-Restaurants zu sich nimmt, sei „weder familiäre noch außerfamiliäre Kost, sondern ein Zwischenprodukt, das weder aus dem eigenen Inneren noch aus der Außenwelt stammt. Die Bulette und die Pommes sind weder Fleisch noch Gemüse, sondern eben MacDonald’s.“5

Allgemeiner betrachtet, stehen die vom Fastfood vermittelten Vorstellungen im Zusammenhang eines umfassenden und tiefgreifenden Trends, der auch aus Amerika kommt und auf allen Ebenen der Gesellschaft spürbar ist: der Trend zur Political Correctness. So entsteht ein fleischartiges Nahrungsmittel, das durch sprachliche Manöver umdefiniert wurde, um niemanden mehr zu schockieren, ein entschärftes Gebilde, konsensfähig, weich, süß und lieblich, standardisiert und austauschbar, um die angeblichen Wünsche der Massen von Verbrauchern zu befriedigen.6

Die Wirklichkeit so umzulügen, die Bedeutung von Bezeichnungen auszutauschen und die grundlegende, auf Konvention beruhende Verbindung zwischen den Worten und den Dingen zu zerstören: läuft das nicht – es sei denn, es gehe um Poesie – auf eine Form der Willkür hinaus? Deckt sich dieses Vorgehen nicht mit dem ersten Reflex totalitärer Machtübernahmen, nämlich den Staatsstreich zunächst auf semantischer Ebene durchzuführen und die Wirklichkeit umzubenennen, um sie der neuen – ihrer eigenen – Weltanschauung gefügig zu machen? Eine der (schlechten) Angewohnheiten der Fastfood-Branche besteht genau darin, die Dinge anders zu nennen, ihnen allerlei schönen Umschreibungen zu verpassen, um sie in das unternehmenseigene Werte- und Vorstellungssystem einzubetten.

Bekanntlich sind die „French Fries“ jenseits des Atlantik in Verruf geraten und zu „Freedom Fries“ umbenannt worden, nachdem das Tauziehen zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten um die Militärintervention im Irak seinen Höhepunkt erreicht hatte – und das ist durchaus keine harmlose Anekdote. Vom hohlen Patriotismus einmal abgesehen, äußerte sich darin eine symbolische Gewalt, wie sie zeitgleich auch in anderen Aktionen zu Tage trat, als zum Beispiel vor laufender Kamera französische Weine in die Gosse gekippt wurden.

In einer Zeit, da der soziale Zusammenhalt in die Krise geraten ist, sei daran erinnert, dass die „Tischgesellschaft“ – das geteilte, gemeinsame Essen – aus einer Symbolisierung hervorgegangen ist, mithin aus einer gewissen Distanzierung von der unmittelbaren physiologischen Dringlichkeit um einer höheren Sache Willen: der Kultur. „Gemeinsam essen“ lernen, heißt lernen in Gesellschaft zu leben: Man achtet auf Regeln, Riten und Essenszeiten, man bändigt seinen Hunger, gibt den anderen aus, bevor man sich selbst nimmt, man respektiert die tausend Feinheiten der Tischkunst ebenso wie seine Tischgenossen, man zelebriert Werte und stellt auf diese Weise soziale Bande her.

Fastfood-Restaurants fördern insofern eine beunruhigende Verkümmerung des Konvivialitätsprinzips und seiner erzieherischen Potenziale für den Einzelnen und für die Gesellschaft. Am Ende dieser allgemeinen Regression isst jeder dasselbe, mit Fingern, im Stehen, zu jeder beliebigen Tageszeit. Das Verhältnis zur Nahrungsaufnahme wird wieder trieb- und instinktgesteuert. Die elementarsten physiologischen und sozialen Regeln, auch der schlichte gesunde Menschenverstand in Sachen Ernährung, werden mit Füßen getreten – vom guten Geschmack, den zu bemühen als rückständig und elitär gelten würde, ganz zu schweigen.

Die Reklame der Fastfood-Ketten zeigt eine Welt voller vergnügter Menschen und fröhlicher Familien, eine Welt des Miteinanders, ein gesellschaftliches Paradies ohnegleichen. Doch wer seinen Fuß auch nur einmal über die Schwelle eines solchen Etablissements gesetzt und seinen Verstand noch beieinander hat, der weiß, dass die Realität dieses Gerede Lügen straft. Man findet eine funktional durchorganisierte Welt vor, eine Welt ohne Freude, keimfrei, standardisiert, trist und ungesellig, in klinisch kaltes Licht getaucht und mit roboterhaften Wachleuten an der Tür, als ginge es darum, die latente Gewalt des Orts und des Systems zu bannen. Der Hygienewahn der Fastfood-Stationen und die formelhafte Beschwörung einer befriedet-spielerischen Arbeits- und Konsumwelt gibt sich als eine von paradiesischen Zuständen denkbar weit entfernte „Höllenkulisse“ zu erkennen. Als solche wurde sie in zahlreiche Reportagen und soziologische Studien – samt rechtlicher Untersuchungen – aufs anschaulichste beschrieben und an den Pranger gestellt.7

So also sieht die Welt des Fastfood aus, eine genormte Lebenswelt, ein Brückenkopf des ernährungsindustriellen Taylorismus, wo im Dekor der Nietzsche’schen Götzendämmerung serviert wird, was Claude Fischler als „UEOs“8 – Unbekannte Essobjekte – bezeichnete. Metaphern haben selbstverständlich ihre Grenze, doch was sich hier am kulinarischen Horizont abzeichnet, scheint wahrlich alles andere als vielversprechend.

deutsch von Bodo Schulze

* Professor der Kommunikationswissenschaften an der Universität Bourgogne (IUT Dijon). Letzte Veröffentlichungen: (Hg.) „Violences médiatiques. Contenus, dispositifs, effets“, Paris (L’Harmattan) 2003; „Les Miroirs du Paon. Rites et rhétoriques politiques dans la France de l’Ancien Régime“, Paris (Honoré Champion) 2003.

Fußnoten: 1 „Le mangeur et l’animal“, Autrement 172 (Juni 1997) Paris 1997, S. 145. 2 Die Kaldaunengeschäfte, die das Tier (seinen Kopf, seine Pfoten, Ohren und Eingeweide) zur Schau stellen, sterben in Frankreich langsam aus, teils wegen mangelnder Kundschaft, teils wegen diverser EU-Richtlinien. Unter anthropologischen Gesichtspunkten ist dies eher symptomatisch als ein Zufall. 3 Der Ketschup hielt auf französischen Tischen, vor allem aber in den Schulmensen, etwa gleichzeitig mit der Verbreitung der Fastfood-Restaurants Einzug. 4 Roland Barthes, „Mythen des Alltags“, dt. von Helmut Scheffel, Frankfurt/Main (Suhrkamp Verlag) 1964, S. 36. 5 Gisèle Harrus-Révidi, „Die Lust am Essen. Eine psychoanalytische Studie“, München (dtv) 1998. 6 Mit der fastfoodmäßig programmierten Normierung der Essgewohnheiten schließt sich zynischerweise der Kreis, der mit einem viel sagenden Scherz Henry Fords begann. Der Autobauer witzelte vor knapp einem Jahrhundert: „Sie können meinen Ford T in allen Farben bestellen, vorausgesetzt, Sie wollen Schwarz.“ 7 Dazu Paul Ariès, „Les Fils de Mac Do“, Paris (L’Harmattan) 1997; Eric Schlosser, „Les Empereurs du fast-food“, Paris (Autrement) 2003. 8 Claude Fischler, „L’Homnivore“, Paris (Odile Jacob) 2001.

Le Monde diplomatique vom 14.11.2003, von PASCAL LARDELLIER