14.11.2003

Volksabstimmungen – zum Erfolg verurteilt

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Volksabstimmungen – zum Erfolg verurteilt

IN den osteuropäischen Ländern, deren Beitritt zur Europäischen Union bevorsteht, haben sich die Regierungen ganz besondere Medienstrategien einfallen lassen, um ihre Bürger von der Notwendigkeit des Beitritts zu überzeugen – und sie überhaupt an die Wahlurnen zu bringen. Die Volksabstimmungen sollen positiv ausgehen, unter Einsatz aller Mittel: Geld, Informationskampagnen, Werbung oder gar Eingriffe ins Wahlrecht.

In Litauen etwa verfügte man kurzerhand eine Reduzierung der für die Annahme des Referendums nötigen Stimmen von 900 000 auf 600 000. Und Außenminister Antanas Valionis machte deutlich, dass es eben eine weitere Volksbefragung geben werde, falls die Wahlbeteiligung unter den erforderlichen 50 Prozent liege.1

In Polen und der Slowakei erklärte die Regierung vorsorglich, das Parlament werde am Ende entscheiden, sollten die 50 Prozent nicht erreicht werden. Die Saeima, das lettische Parlament, setzte die Quote einfach auf die Hälfte der Beteiligung an den letzten Parlamentswahlen herab – 35 Prozent. Selbst Ungarn, das als besonders europafreundlich galt, scheute die 50-Prozent-Hürde. Am Ende stimmten 84 Prozent der ungarischen Wähler für den Beitritt, allerdings bei einer Beteiligung von nur knapp 46 Prozent.

Einige Länder (Polen, Tschechien, die Slowakei und Litauen) beschlossen zur Abwicklung des Referendums zwei arbeitsfreie Tage. Und die Sejm, das polnische Parlament, beschloss sicherheitshalber eine Wahlrechtsänderung: Die Wahlbeteiligung durfte schon nach dem ersten Wahltag bekannt gegeben werden. Tatsächlich erreichte sie am 7. Juni nur 17 Prozent, stieg am zweiten Tag dann aber noch auf über 58 Prozent.

Die drei baltischen und vier mitteleuropäischen Staaten hofften auf einen Dominoeffekt, wie er sich 1994 in den westeuropäischen Beitrittsländern gezeigt hatte. Damals war das europafreundlichste Land (Österreich) zuerst an der Reihe, das europafeindlichste (Norwegen) zuletzt – die Norweger stimmten dann aber doch gegen den Beitritt. Diesmal sollte bei den vier zentraleuropäischen Ländern Tschechien (das europafeindlichste) zuletzt abstimmen. Einige Wochen vor dem Termin wurde auf einem der Prager Hügel – wo zuvor eine gewaltige Statue Stalins gestanden hatte – eine riesige Uhr aufgestellt: Sie zeigte neben Zeit und Datum ein blaues „Ja“ und ein rotes „Nein“, als gelte es, sich zwischen Brüssel und Moskau zu entscheiden.

Für viele der noch unentschiedenen polnischen Wähler gaben die Äußerungen von Frankreichs Staatspräsident Chirac zum Irakkrieg den Ausschlag, sich dem Lager der „Neinsager“ anzuschließen. Es musste schon der Papst auftreten, um diesen Trend zu stoppen: In einer Ansprache auf dem Petersplatz in Rom erklärte Johannes Paul II. am 19. Mai, Polen habe gar keine andere Wahl, als sich der Union anzuschließen.

EINE entscheidende Rolle spielten auch die offiziellen Kampagnen. Alle Außenministerien der Beitrittsländer hatten „Informationsstellen“ eingerichtet, deren Aktivitäten allerdings vielfach auf Kritik stießen, weil sie ausschließlich Argumente für den Beitritt verbreiteten. Das tschechische Außenministerium verfügte sogar über einen speziellen Stab zur Durchsetzung des Referendums mit einem Etat von mehr als 6,5 Millionen Euro, die überwiegend an eine Werbeagentur namens Carat flossen. Ungarn gab 8 Millionen Euro für Werbekampagnen aus. Und die Slowakei, wo die Agentur Creo/Young Rubicon für den Beitritt warb, erhielt weitere Zuwendungen von der örtlichen Vertretung der EU-Kommission, die mit der Öffentlichkeitsarbeit nicht zufrieden war. Für Informationskampagnen im Zeitraum 2002 bis 2006 ließ die Kommission den früheren Ostblockstaaten mehr als 50 Millionen Euro zukommen.

Im polnischen und tschechischen Fernsehen liefen ständig Werbespots, in denen das Referendum angepriesen wurde wie ein Schokoriegel. In Ungarn und der Slowakei gingen SMS-Botschaften an die Handy-Besitzer, die zur Teilnahme an der Abstimmung aufforderten. Die Slogans auf den Plakatwänden waren meist von schlichter Machart und stellten die EU als eine Art Schlaraffenland dar: „Nach dem Beitritt wird es meinem Land besser gehen.“ Beitrittsgegner wie die Liga Polnische Familie oder die Kommunistische Partei Tschechiens und Morawiens zahlten ihre Propaganda weitgehend aus eigener Tasche. Sie verwiesen auf die ungünstigen Beitrittsbedingungen und warnten vor Preissteigerungen. Und sie prophezeiten das Ende der nationalen Unabhängigkeit, wenn erst der blaue Stern der EU den roten Stern der Sowjetmacht abgelöst habe.

Bei früheren Referenden waren Dänemark, Irland und Großbritannien (1973), Griechenland (1981), Spanien und Portugal (1986) und Österreich, Finnland und Schweden (1995) mit durchschnittlich 65 Prozent der Stimmen und 77 Prozent Wahlbeteiligung der EU beigetreten. In Norwegen scheiterte das Referendum. In Osteuropa stimmten durchschnittlich knapp über 80 Prozent der Wähler für den Anschluss. Doch trotz aller Propaganda blieb die Wahlbeteiligung unter 60 Prozent. Sollte die EU die hoch gesteckten Erwartungen nicht erfüllen, dürften die Extremisten in diesen Ländern Zulauf erhalten.

PHILIPPE DONCKEL

Fußnote: 1 Dieses Verfahren kam bereits zweimal zur Anwendung: Als die Dänen den Maastricht-Vertrag ablehnten und als die Iren den Vertrag von Nizza zurückwiesen, wurde jeweils ein neues Referendum organisiert.

Le Monde diplomatique vom 14.11.2003, von PHILIPPE DONCKEL