Das alte Europa im neuen
IM Mai 2004 werden acht Länder Osteuropas der Europäischen Gemeinschaft beitreten. Doch nur 50 Prozent der Wähler sind bei den Volksabstimmungen zu den Urnen gegangen. Dass von diesen 80 Prozent zugestimmt haben, hat vielerlei Gründe. Dieses äußerliche Bild des „neuen Europa“, dessen politische Klasse sich wie das Trojanische Pferd der Amerikaner verhält, macht allerdings noch gar nicht sichtbar, dass sich im Gefolge des Irakkriegs die Menschen in Ost und West in ihrer politischen Einschätzung sehr stark angenähert haben.
Von CATHERINE SAMARY *
„Ein polnischer General, der in unserer Besatzungszone Dienst tut, soll kürzlich erklärt haben, dort [im Irak] werde man uns nicht mögen, so lange wir die Situation auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen und in der Verwaltung nicht in den Griff bekommen. Ich frage mich: Was machen wir da unten? Warum packen wir diese Probleme nicht besser erst einmal bei uns zu Hause an?“ Die Frage stellt sich nicht nur Jacek Kuron. Der ehemalige Arbeitsminister ist einer der wenigen polnischen Intellektuellen, die sich gegen den Irakkrieg gestellt haben.1 Zu der „erstaunlichen“ Tatsache, dass der Staatspräsident und die Regierung seines Landes die USA unterstützen, meint Kuron: „Vermutlich versprechen sie sich kurzfristige politische Vorteile, aber das rechtfertigt nicht die Beteiligung an einem derart schändlichen Unternehmen.“
Kurons Position dürfte der Stimmung im Lande weit eher entsprechen als die Verlautbarungen der so genannten Volksvertreter. Dasselbe gilt für die übrigen Staaten des „neuen Europa“.2 Wie weit sich die gegenwärtigen Regierungen von den Bürgern entfernt haben, zeigt sich nicht nur in der Irakfrage, sondern auch an der bescheidenen Beteiligung an den einzelnen Referenden zum EU-Beitritt.
Schon im Kosovokrieg von 1999, als Polen, Ungarn und Tschechien gerade der Nato beigetreten waren, hatte sich eine Kluft zwischen Regierenden und Bevölkerung in Osteuropa gezeigt; die einzige Ausnahme war damals Polen. Der Irakkrieg hat diese Kluft weiter vertieft. Im Februar 2003 sprachen sich innerhalb der EU-Beitrittsländer durchschnittlich 75 Prozent der Bürger gegen einen Militärschlag im Irak ohne UN-Mandat aus. Doch auch für den Fall, dass der UN-Sicherheitsrat grünes Licht gegeben hätte, wären damals mehr Menschen gegen als für die Intervention gewesen, nämlich 49 gegenüber 42 Prozent. In Westeuropa dagegen waren bei dieser Fragestellung nur 38 Prozent dagegen, aber 57 Prozent dafür. Der berühmte „Brief der Acht“ und die „Erklärung der Zehn“3 , die den Irakkrieg faktisch unterstützten, spiegelten also keineswegs die Stimmung in der Bevölkerung wider, ja nicht einmal die Mehrheit in den nationalen Parlamenten.
Zur Unterschrift Ungarns unter den „Brief der Acht“ meint der Wirtschaftswissenschaftler Laszslo Andor, Präsident des wissenschaftlichen Beirats von Attac in Ungarn: „Ministerpräsident Péter Medgyessy hatte sich während seines Besuchs in Griechenland zur Unterzeichnung entschlossen. Nach seiner Rückkehr musste er sich fragen lassen, wie er einer Erklärung zur Unterstützung des Krieges zustimmen konnte, ohne Regierung und Parlament zu konsultieren, und dies, obwohl die Haltung Frankreichs und Deutschlands ebenso bekannt war wie die Umfrageresultate in Ungarn, wo die Bevölkerung mehrheitlich eine Intervention ablehnte. Medgyessy behauptete, er habe in dem Brief eine ‚kleine Abschwächung‘ durchgesetzt, auch handle es sich ja um keine Kriegserklärung. Ungarische Soldaten müssten jedenfalls nicht im Irak kämpfen. Das Ganze schlug solche Wellen, dass der Sicherheitsberater des Präsidenten abgelöst wurde.“
„Die Regierungen der baltischen Staaten haben Truppen in den Irak geschickt, ohne diese ‚Loyalitätsgeste‘ gegenüber den USA im Parlament oder in der Öffentlichkeit zu debattieren“, schreibt der litauische Wissenschaftler Egdunas Racius.4 Und Professor Rastko Mocnik von der Universität Ljubljana berichtet, auch in Slowenien habe es „Unmut und heftige politische Diskussionen“ über die Unterschrift seiner Regierung unter die „Erklärung der Zehn“ gegeben. Mocnik hat die Regierung aufgefordert, sich von der Erklärung der zehn osteuropäischen Außenminister zu distanzieren: „Keine politische Partei Sloweniens ist befugt, unser Land in einen Angriffskrieg zu führen.“
Der Widerstand gegen die Unterstützung des Irakkrieges und der nachfolgenden Besatzung ist nicht einfach ein Versuch der Oppositionskräfte, die Schwächen der jeweiligen Regierung auszunutzen. Die tschechische, die slowenische und die kroatische Führung haben inzwischen offiziell dementiert, dass ihre Länder zur Koalition der Willigen gehörten. In anderen Ländern, wie Rumänien und Bulgarien, sind die Regierungen über diese Frage gespalten. Natürlich erfahren die neuen und künftigen Nato- und EU-Mitglieder Druck von allen Seiten: Es geht dabei um Wirtschaftsinteressen, um außenpolitische Ziele, aber auch Vertreter der alten kommunistischen Nomenklatura versuchen, sich wieder ins Geschäft zu bringen.
Die EU als Barriere gegen den Nationalismus
DABEI wird zunehmend deutlich, welche Rolle die USA spielen. Als ihr Statthalter tritt Bruce P. Jackson5 auf, Gründer eines „Komitees für die Befreiung des Irak“ (CLI), in dem zahlreiche politische Persönlichkeiten Osteuropas mitwirken. Jackson war früher im Pentagon und danach bis 2002 im Management der US-Waffenschmiede Lockheed Martin tätig. Er ist Mitbegründer und Vorsitzender des Thinktanks „Project for the New American Century“ (PNA) und hat den „Jahrhundertvertrag“ mit Polen über die Lieferung von 48 Lockheed-Martin-F-16-Kampfflugzeugen ausgehandelt. Der Deal beruht auf einem Kompensationsgeschäft: Die USA geben Polen Kredite und Einfuhrgarantien für polnische Waren in Höhe von 12 Milliarden Dollar.6
Kein Wunder, dass sich Polen als einziges Land Osteuropas in die Kriegskoalition eingereiht und das Kommando über eine multinationale Truppe im zentralen und südlichen Irak übernommen hat. Als Gegenleistung ist im Gespräch, dass Polens Staatspräsident, der Exkommunist Aleksander Kwaśniewski, der nächste Nato-Generalsekretär wird und US-Militärbasen aus Deutschland nach Polen verlegt werden. Andere osteuropäische Regierungschefs beschlossen – wie viele ihrer westeuropäischen Kollegen –, den USA logistische Basen und Überflugrechte für den Irakkrieg zur Verfügung zu stellen oder ein paar hundert Soldaten zum Schutz des diplomatischen Personals und für „humanitäre Operationen“ abzustellen. Zugleich bringen sie ihre eigenen Firmen für lukrative Aufträge beim „Wiederaufbau“ des Irak ins Gespräch.
Doch die anhaltenden Protestkundgebungen – etwa gegen tschechische Militärpolizei, die das Feldlazarett von Basra zu schützen hat – und die Anschläge gegen die Besatzungstruppen und die Vereinten Nationen haben die Begeisterung gedämpft. Und die neuen US-Stützpunkte in Osteuropa, die anfangs als lokaler Wirtschaftsfaktor begrüßt wurden, sehen viele Anwohner heute eher als mögliche Ziele von Vergeltungsanschlägen. Am 15. Februar 2003 demonstrierten in Budapest 50 000 Menschen nach einem Aufruf der Bewegung „Ungarische Bürger für den Frieden“. Dabei forderten sie, den Krieg nicht mehr zu unterstützen und den Stützpunkte Tazsa zu schließen, was kurz nach Beginn der Kampfhandlungen auch tatsächlich geschah.
Angesichts steigender Militärausgaben, bei gleichzeitigen Kürzungen im Gesundheits- und Bildungsbereich, steht auch die Einhaltung der Maastricht-Kriterien in Frage, die für die Durchsetzung strikt wirtschaftsliberaler Prinzipien auch in den EU-Beitrittsstaaten sorgen sollen. Die staatliche Wirtschaftspolitik steht unter dem Zwang einer strengen Haushaltsdisziplin, zugleich wächst die Enttäuschung über die geringen EU-Zuschüsse. Für die Strukturfonds, die vor allem die ärmsten Regionen vor den Folgen der Liberalisierung schützen sollen, wurden neue Obergrenzen und Kofinanzierungsregeln eingeführt. Da die staatlichen Mittel knapper ausfallen und private Kreditgeber nach Kriterien der Wirtschaftlichkeit entscheiden, dürften Subventionen nur noch für wirkliche Problembranchen und -regionen fließen.
Spanien und Polen sind zwar in ihrer Haltung zum Irakkrieg und und zum Stimmenproporz innerhalb der EU einig, werden aber um die künftigen Gelder aus Brüssel konkurrieren. Sollte der EU-Haushalt (der derzeit nur 1,27 Prozent des BIP der EU ausmacht) nicht aufgestockt werden, würde das ohnehin gefährdete Prinzip der Umverteilung weiter geschwächt – zu Lasten der relativ armen Beitrittsländer. Damit Spanien nicht alle Zuwendungen aus den EU-Strukturfonds einbüßt, wurden etwa die Agrarsubventionen für die polnischen Bauern zusammengestrichen (zu Beginn sollen sie nur 25 Prozent der Subventionen beziehen, die ein französischer Landwirt erhält).
In Brüssel heißt es dazu, man wolle keine „unproduktive Selbstversorgung“ befördern. Nachdem die einst von den Großunternehmen garantierten Sozialleistungen abgebaut sind, bleibt vielen als letzte Rettung nur ihr Stück Ackerland. Letztlich geht es also um die endgültige Zerschlagung des Sozialstaats, um „flexibilisierte Arbeitskräfte“ zu erhalten. Dafür sorgen auch neue arbeitsrechtliche Bestimmungen. Osteuropa wird also statt der „Angleichung an den Westen“ eine zunehmende Verarmung erleben.
Was bewegt die EU, eine Osterweiterung zu betreiben, die ihr neue Probleme beschert, nur um einen neuen großen Markt für den globalen Wettbewerb zu erhalten? Abbau der Handelsschranken, Zerschlagung des Sozialstaats, Privatisierung profitabler Unternehmen, Verlagerung von Produktionsstätten aus dem Westen – all das kennen diese Länder schon seit langem. In Brüssel hat man denn auch die Aufnahme offizieller Verhandlungen wiederholt verschoben. Dass 1998 die Gespräche mit den ersten Ländern begannen,7 hatte nichts mit der Erfolgsbilanz dieser Staaten zu tun, sondern mit einem Datum: Der Fall der Berliner Mauer war nun fast zehn Jahre her. Tatsächlich hatten 1998 nur zwei Länder wieder das wirtschaftliche Niveau von 1989 erreicht, darunter Polen, das aber seither sinkende Wachstumsraten verzeichnet.
„Die neuen politischen Führungen im Osten fürchten um ihre Macht“, meint der ungarische Ökonom und Globalisierungsgegner Laszslo Andor. „Um den bereits vollzogenen Wandel abzusichern, suchen sie verzweifelt den Anschluss an den Westen – an die Nato, die EU, an was immer die europäisch-atlantische Gemeinschaft zu bieten hat. Zur Beruhigung der Beitrittskandidaten wurden auf dem EU-Gipfel von Kopenhagen 1993 eine Reihe von „Kriterien“ beschlossen: Mehrparteiensystem, konkurrenzfähige Marktwirtschaft, die Fähigkeit zur Übernahme des „acquis communautaire“.8 Die Erfüllung dieser Kopenhagen-Kriterien schien aber auf absehbare Zeit nur für ein, zwei Länder im Bereich des Möglichen zu liegen.
Beim EU-Gipfel im Dezember 1999 kam dann die überraschende Wende. Alle Beitrittsländer wurden „endgültig“ in die Gemeinschaft aufgenommen – allerdings ohne Festlegung eines Zeitplans. Zugleich aber erwiesen sich die „Kopenhagen-Kriterien“ zunehmend als unrealistisch: Die Beitrittsländer weisen negative Handelsbilanzen mit der EU auf und sind keineswegs wirtschaftlich konkurrenzfähig. Was die gemeinsame Agrarpolitik und die Strukturfonds angeht – die entscheidenden Bereiche der Schlussverhandlungen –, wird der „acquis“ sich in den nächsten Jahren noch deutlich verändern. Auf politischer Ebene war ein Meinungsumschwung zu verzeichnen, der sich in der rückläufigen Wahlbeteiligung und zunehmender Fremdenfeindlichkeit ausdrückte und der durch die Auswirkungen des Nato-Krieges gegen Jugoslawien verstärkt wurde.9
Als Teil dieser großen Wende muss auch der im Juni 1999 beschlossene „Stabilitätspakt für Südosteuropa“ gelten. Er sollte vor allem den „westlichen Balkan“10 stützen, also jene Regierungen in der zunehmend instabilen Region, die man als Vorposten der Gemeinschaftserweiterung ansah. „Eine regionale Initiative war dringend nötig, um der weiteren Balkanisierung Einhalt zu gebieten“, meint Laszslo Andor, „sonst hätte man die ‚Stabilisierung‘ der Region ganz den US-Luftstreitkräften überlassen müssen.“ Im März organisierte Andor in Budapest die erste osteuropäische Konferenz von Ökonomen, die sich für eine neue Europapolitik engagieren.11
Ganz Osteuropa hat einen brutalen Wandel durchlaufen: Von der ineffektiven und repressiven bürokratischen Herrschaft der Einheitsparteien (die gleichzeitig eine gewisse soziale Sicherheit garantierte) zum ungezügelten neoliberalen Kapitalismus. In diesem schmerzhaften Prozess des Übergangs kann die Europäische Union sich als mäßigende Kraft betätigen und vielleicht Gemeinsamkeiten von unten befördern.
Europafeindliche Rechtsextremisten
PETR UHL, ein Bürgerrechtler der alten Schule, der einst in der Tschechoslowakei für die Charta 77 gekämpft hatte, gibt sich optimistisch. „Der Krieg im Irak hat deutlich gemacht, wie stark die Bindungen zwischen den Bevölkerungen in Ost- und Westeuropa sind.“ Er ist ein entschiedener Nato-Gegner, aber zugleich Befürworter des tschechischen EU-Beitritts. In einem Leitartikel der Tageszeitung Pravo hatte er seinerzeit Havels Unterschrift unter den „Brief der Acht“ als „kriminell“ bezeichnet. Uhl setzt auf ein gemeinsames Europa, in welchem die durch den Europarat garantierten Rechte gestärkt werden. Beim Zerfall der tschechoslowakischen Föderation hatte er offen die „Verantwortung der tschechischen Seite“ kritisiert, und auch heute lehnt er jeden Nationalismus entschieden ab. „Die Kampagne der tschechischen Kommunisten gegen die EU ist sehr bedauerlich – hier wird gegen die Deutschen und alle anderen Fremden Stimmung gemacht.“
Auch Anna Sabatova, einst Sprecherin der Bewegung Charta 77 und seit kurzem stellvertrende Vorsitzende des Vermittlungsausschusses im tschechischen Parlament, wendet sich entschieden gegen nationalistische Bestrebungen. „Es gibt einfach keine Alternative zum EU-Beitritt“, erklärt sie. Und mit Blick auf den Sozialabbau, der nach 1989 stattgefunden hat, beharrt sie darauf, dass sich die Einstellungen gewandelt haben: „Anfangs durfte man das Wort ‚Solidarität‘ kaum noch in den Mund nehmen; es galt als Ausdruck einer ‚Versorgungsmentalität‘. Inzwischen kann man den Abbau der Sozialleistungen ebenso wieder thematisieren wie das Los der Armen, die aus ihren Wohnungen vertrieben werden. Ich weiß, dass der Beitritt nicht nur Vorteile bringen wird, aber ich glaube nicht, dass wir auf eigene Faust die Welt verändern können. Innerhalb der EU gibt es viele Beispiele von erfolgreichem Widerstand – das wird uns helfen.“
„Es ist das kleinste Übel“ meint der Historiker Tamas Kraus, der im ungarischen Sozialforum aktiv ist. „Wir müssen uns hier mit einer europafeindlichen extremen Rechten auseinander setzen – durch den Beitritt kann man die Rechte der nationalen Minderheiten (vor allem der Roma) stärken. Auch die Gewerkschaften können mehr wagen.“ Mit einem ironischen Lächeln fügt er hinzu: „Beim Sozialforum in Florenz konnte die ungarische Delegation ja schon die Erfahrung machen, dass man rote Fahnen entrollen darf, ohne gleich verhaftet zu werden.“ Die Ungarn seien in den letzten 13 Jahren, also im Kandidatenstatus, „stärker kolonisiert worden, als es nach dem Beitritt geschehen wird“.
Die EU war in den Augen vieler Osteuropäer an dem ungehemmten Kapitalismus der neuen Eliten nicht unbeteiligt. So erklärt sich ein Teil der Neinstimmen bei den Referenden zum EU-Beitritt. Die meisten EU-Gegner dürften sich jedoch im Lager der fremdenfeindlichen und nationalistischen Rechten finden, die ihre Gefolgschaft nicht nur bei Vertretern des Thatcherismus und der nationalen Strömungen rekrutiert, sondern auch in den ärmsten Bevölkerungsschichten. Die „Liga Polnische Familie“ (LPR), eine katholische Organisation, die noch den Papst rechts überholt, hat sogar gefordert, Polen solle nicht der EU, sondern dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (Nafta) beitreten.12
Professor Nicolas Bardos-Feltoronyi meint, die äußerst geringe Wahlbeteiligung sei schwer zu interpretieren: „Offensichtlich sind gerade in Regionen, wo die Menschen ärmer sind, besonders wenige Stimmberechtigte zu den Urnen gegangen“. In Elk, einer Stadt der vom Strukturwandel extrem hart betroffenen polnischen Region Masuren, fand im Februar 2003 eines jener Sozialforen statt, auf denen in der Regel Vertreter von Arbeitslosengruppen und Gewerkschaften zusammenkommen. Piotr Ikonowicz, Mitorganisator dieses Treffens, auf dem eine Resolution zur Gestaltung eines sozialen Europa verabschiedet wurde, macht aus seiner Empörung keinen Hehl: „Unsere Parlamentarier fordern ein Vetorecht in allen sozialen Fragen – aber sie sprechen dabei nicht in unserem Namen.“ Alternativen zur neoliberalen Verfassung Europas und zu den Vorstellungen der klerikalen und nationalen Rechten in Osteuropa finden bislang noch kaum Gehör.
„Weltliche Prinzipien, soziale Rechte und Bürgerrechte stehen heute nirgends so hoch im Kurs wie in der Europäischen Union“, betont Michal Kozlovski, Herausgeber der stramm antiklerikalen polnischen Zeitschrift Bez Dogmatu (Ohne Dogma). Er findet aber „die Bedingungen insgesamt skandalös“ und sieht den Beitritt Polens als „gewaltige Herausforderung“. Schon weil er, wie er etwas ironisch hinzufügt, gemeinsam mit den polnischen Feministinnen, „die Lobby des Papstes in Brüssel“ fürchten müsse.
In die gleiche Kerbe schlägt der Historiker Marcin Kula, wenn er daran erinnert, dass noch immer die Meinung weit verbreitet ist, „Polen habe stets zu Europa gehört, und darum müsse sich die EU den polnischen Wertvorstellungen anpassen“. Kula hält dagegen, dass diese offizielle Verklärung der europäischen Vergangenheit des Landes die „schwache Position“ Polens gegenüber Westeuropa verkenne.
Schon in den 1970er-Jahren habe Staats- und Parteiführer Edward Gierek „durch seine Politik der Warenimporte die Hoffnungen auf einen westlichen Lebensstil geweckt“, erklärt Kula. Doch auch unter der Ägide von Solidarność seien Arbeitslosigkeit und Privatisierungen „undenkbar“ gewesen: „Die Gewerkschaftsbewegung, die den Wandel ausgelöst hat, existiert fast nicht mehr, schon gar nicht in den privatisierten Betrieben. Nach dem Ende des Kommunismus fühlte man sich von Europa enttäuscht. Alle erinnerten sich an die Hilfe, die sie in den 1980er-Jahren bezogen hatten. Deshalb glaubten sie, man werde sie nach der ‚Befreiung‘ mit offenen Armen empfangen. Paradoxerweise beurteilen deshalb viele die kommunistische Ära heute positiver als 1989.“
Marcin Kula selbst teilt einige der Bedenken der Beitrittsgegner, etwa hinsichtlich der EU-Forderung, Polen müsse seine Grenzen nach Osten abdichten (und den Schmuggel unterbinden). „Wenn ich mich zwischen dem Beitritt zur Europäischen Union und der Allianz mit Weißrussland unter Präsident Lukaschenko entscheiden soll, votiere ich natürlich für die EU. Aber es gibt Dinge, die mich beunruhigen – vor allem weil ich das Gefühl habe, als entstehe derzeit ein neues ‚Osteuropa‘, in dem die ‚unechten Europäer‘ leben. Und als errichteten wir gerade wieder eine Mauer, um uns von ihnen abzuschotten.“
deutsch von Edgar Peinelt
* Autorin (gemeinsam mit Jean-Arnault Dérens) von „Conflits yougoslaves de A à Z“, Paris (L’Atelier) 2000.