14.11.2003

Eine alternative Zukunft

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Eine alternative Zukunft

IN den letzten Wochen haben sich in Genf Vertreter der israelischen Linken und verschiedener palästinensischer Organisationen – mit Ausnahme der Islamisten – getroffen, um die offenen Fragen auf dem Weg zum Frieden zu regeln: Auf dem Territorium der besetzten Gebiete soll es einen palästinensischen Staat geben, dessen Hauptstadt Ostjerusalem wird, die Klagemauer bleibt unter israelischer Kontrolle, Flüchtlinge können nur in den künftigen Staat Palästina zurückkehren. Dies ist ein großer Schritt. Doch viele befürchten, dass es angesichts der Polarisierung der letzten Jahren für die Zweistaaten-Lösung zu spät sein könnte.

Von TONY JUDT *

Der Nahost-Friedensprozess ist tot. Aber er ist nicht gestorben – er wurde ermordet. Mahmud Abbas wurde durch seinen Präsidenten demontiert und durch Israels Ministerpräsidenten gedemütigt. Seinem Nachfolger droht ein ähnliches Los. Israel widersetzt sich beharrlich dem Patron aus Washington, missachtet die „Roadmap“ und baut weiter illegale Siedlungen. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika hat längst die erbärmliche Rolle einer Bauchrednerpuppe übernommen, die andauernd die Parole des israelischen Kabinetts wiederholt: „Arafat ist an allem schuld.“ Und die Bevölkerung Israels sieht voll Ingrimm dem nächsten Selbstmordattentat entgegen. Derweil halten sich die palästinensischen Araber, eingesperrt in ihren immer kleiner werdenden Bantustans, mit Almosen der Europäischen Union über Wasser. Ariel Scharon, Jassir Arafat und eine Hand voll Terroristen können sich in diesem von Leichen übersäten Landstrich, der eigentlich zum „fruchtbaren Halbmond“ gehört, als Sieger deklarieren. Und das tun sie auch ganz offen. Gibt es also keinen Ausweg mehr? Und wenn dem so sein sollte – was dann?

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als es mit den kontinentalen Großreichen zu Ende ging, träumten die unterdrückten Völker Europas von ihren eigenen „Nationalstaaten“, von einer territorialen Heimat für Polen, Tschechen, Serben, Armenier und all die anderen Völker, die endlich in Freiheit ihre Geschicke in die eigenen Hände nehmen wollten. Als am Ende des Ersten Weltkriegs die Habsburger Doppelmonarchie und das Zarenreich zusammenbrachen, sahen sich diese nationalen Führer am Ziel ihrer Wünsche; das Ergebnis war eine Folge von Staatsgründungen. Aber die neuen Nationalstaaten hatten nichts Eiligeres zu tun, als Privilegien für die jeweilige nationale „ethnische“ Mehrheit durchzusetzen, die anhand von Sprache, Religion oder historischer Kontinuität (oder auch aller drei Kriterien) definiert wurde – und das auf Kosten störender lokaler Minderheiten, die einen Status zweiter Klasse zugewiesen bekamen und damit im eigenen Land zu permanent ansässigen Fremden wurden.

Eine dieser nationalistischen Bewegungen konnte ihre Ambitionen jedoch nicht erfüllen. Die Zionisten träumten von einer jüdischen „nationalen Heimstätte“ im historischen Israel, mitten im damaligen Osmanischen Reich. Aber erst nach weiteren 30 Jahren und einem weiteren Weltkrieg war es so weit, dass die Briten aus der Region abzogen und der Traum wahr wurde: 1948 wurde in der ehemals osmanischen Provinz Palästina der jüdische Nationalstaat gegründet. Doch die Gründer dieses Staates Israel waren von denselben Vorstellungen und Kategorien beeinflusst wie einst ihre geistigen Zeitgenossen im fin de siècle in Warschau oder Bukarest für ihr nationales Projekt geworben hatten. Es kann deshalb nicht überraschen, dass die ethno-religiöse Selbstdefinition des Staates Israel und seine diskriminierende Behandlung einheimischer „Ausländer“ stärker an die Praktiken etwa des nachhabsburgischen Rumänien erinnert, als beide Seiten wahrhaben wollen.

Entgegen einer verbreiteten Meinung ist das Problem mit Israel mitnichten die Tatsache, dass es eine europäische „Enklave“ innerhalb der arabischen Welt darstellt. Das Problem ist vielmehr, dass dieser Staat ein verspätetes Gebilde ist. Er hat ein typisches separatistisches Projekt des späten 19. Jahrhunderts in eine Welt importiert, die sich weiterentwickelt hat – in eine Welt der Menschenrechte, der offenen Grenzen und des Völkerrechts. Die Idee eines „jüdischen Staates“ an sich – in dem Juden und die jüdische Religion exklusive Vorrechte genießen, von denen nichtjüdische Bürger für immer ausgeschlossen sind – hat ihre Wurzeln in einer anderen Epoche und in einer anderen Region. Israel ist, kurz gesagt, ein Anachronismus.

Allerdings zeichnet diesen Staat Israel etwas aus, was ihn erheblich von früheren unsicheren, defensiven Kleinstaaten unterscheidet, die aus den Ruinen multinationaler Imperien entstanden sind: Israel ist eine Demokratie. Das macht sein aktuelles Dilemma aus. Weil es die 1967 eroberten Gebiete besetzt hält, steht Israel heute vor der Wahl zwischen drei unattraktiven Optionen. Die erste lautet: Man gibt die jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten auf, zieht sich auf die Grenzen von 1967 zurück, innerhalb deren die Juden die eindeutige Mehrheit stellen, und bleibt sowohl ein jüdischer Staat als auch eine Demokratie – die allerdings mit einer verfassungsmäßigen Anomalie behaftet ist. In ihr gibt es Menschen zweiter Klasse – die arabischen Bürger Israels.

Die zweite Option lautet: Israel hält „Samaria“, „Judäa“ und den Gaza-Streifen besetzt, deren arabische Bewohner – zählt man sie mit den innerhalb Israels lebenden Arabern zusammen – binnen fünf bis acht Jahren die Bevölkerungsmehrheit ausmachen werden. In diesem Fall steht Israel vor der Wahl: Will es ein jüdischer Staat sein – mit einer ständig wachsenden Mehrheit nichtjüdischer Bewohner ohne Bürgerrechte – oder eine Demokratie? Nur beides zusammen kann es logischerweise nicht sein.

Die dritte Option: Israel behält die Kontrolle über die besetzten Gebiete und entledigt sich der übergroßen Mehrheit ihrer arabischen Mitbewohner: sei es durch gewaltsame Vertreibung, sei es dadurch, dass man ihnen ihr Land wegnimmt und ihnen die Mittel zu ihrem Lebensunterhalt entzieht, so dass ihnen nichts anderes übrig bleibt, als ins Exil zu gehen. Auf diese Weise könnte Israel ein sowohl jüdischer als auch (zumindest formal) demokratischer Staat bleiben. Dies allerdings zu einem hohen Preis, denn Israel wäre damit die erste moderne Demokratie, die offiziell und in staatlicher Regie eine umfassende ethnische Säuberung betrieben hätte. Das aber würde Israel für immer zu einem international geächteten, zu einem Pariastaat machen.

Wer nun glaubt, dass diese dritte Option generell und erst recht für einen jüdischen Staat undenkbar ist, hat nicht mitbekommen, dass in den letzten 25 Jahren überall im Westjordanland neue Siedlungen entstanden sind und immer mehr palästinensischer Boden beschlagnahmt wurde. Und er hat nicht mitbekommen, wie sich israelische Generäle und Politiker äußern, die der äußersten Rechten und in einigen Fällen der heutigen Regierung angehören. Die politische Mitte Israels wird heute vom Likud besetzt, dessen Hauptfraktion die Cherut-Partei des früheren Ministerpräsidenten Menachem Begin darstellt.

Die Lage ist nicht verzweifelt, aber fast hoffnungslos

DIE Cherut wiederum ist die Nachfolgeorganisation der revisionistischen Strömung, die sich innerhalb der zionistischen Bewegung in der Zwischenkriegszeit unter Führung von Wladimir Jabotinsky herausgebildet hatte.1 Diese Strömung wurde seinerzeit von linken Zionisten wegen ihrer rigorosen Missachtung aller rechtlichen Gepflogenheiten und territorialen Gegebenheiten als „faschistisch“ qualifiziert. Dass diese Kennzeichnung heute zutreffender ist als je zuvor, wird überaus klar, wenn man Ehud Olmert hört. Der stellvertretende Ministerpräsident der Regierung Scharon hat, von keinerlei Selbstzweifeln geplagt, ganz offen verkündet, sein Land schließe die Option einer Ermordung des gewählten Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde nicht aus. Politischer Mord ist etwas, was Faschisten tun.

Die Situation in Israel ist nicht verzweifelt, doch nahezu hoffnungslos. Die Selbstmordattentäter werden den Staat nie zerstören können, und die Palästinenser haben keine andere Waffen. In der Tat gibt es radikale arabische Kräfte, die alle Juden ins Mittelmeer jagen wollen, aber sie stellen für Israel keine strategische Bedrohung dar, und die israelischen Militärs wissen das. Weit mehr als die Hamas oder die Al-Aksa-Brigade fürchten weitsichtige Israelis den unaufhaltsamen Trend zu einer arabischen Bevölkerungsmehrheit innerhalb der Grenzen von „Großisrael“ und vor allem die Erosion der politischen Kultur und der öffentlichen Moral in ihrer eigenen Gesellschaft. Der prominente Arbeitspartei-Politiker Avraham Burg hat es vor kurzem so ausgedrückt: „Nach einem 2 000 Jahre währenden Überlebenskampf ist Israel in der Realität zu einem Kolonialstaat geworden, der von einer korrupten Clique regiert wird, die das Recht und die öffentliche Moral verhöhnt und verachtet.“2 Wenn sich nichts ändert, wird Israel in fünf Jahren weder jüdisch noch demokratisch sein.

Hier kommen die USA ins Bild. Für deren Außenpolitik ist das Verhalten Israels eine schlichte Katastrophe. Mit Rückendeckung Washingtons setzt sich Jerusalem fortwährend und auf provokante Weise über UN-Resolutionen hinweg, die den Rückzug der Israelis aus den 1967 eroberten und seither besetzten Gebieten verlangen. Israel ist überdies der einzige Staat im Nahen Osten, von dem bekannt ist, dass er einsatzfähige Massenvernichtungswaffen besitzt. Indem die US-Regierung vor dieser Tatsache die Augen verschließt, torpediert sie ihre eigenen, zunehmend verzweifelten Bemühungen, die verhindern sollen, dass solche Waffen in die Hände von anderen kleinen Staaten gelangen, die womöglich aggressive Pläne hegen. Dass Washington die Israelis trotz eines (stillen) Unbehagens bedingungslos unterstützt, ist der wichtigste Grund dafür, dass ein Großteil der übrigen Welt uns die behauptete Rolle eines ehrlichen Vermittlers im Nahen Osten nicht mehr abnimmt.

Leute, die es aufgrund ihrer Stellung wissen müssen, räumen heute stillschweigend ein, dass die wahren Gründe der USA für den Irakkrieg nicht unbedingt die sind, die man seinerzeit aller Welt verkündet hat.3 Für die maßgeblichen Kräfte in der Bush-Administration war die strategische Erwägung entscheidend, dass man den Nahen Osten zunächst destabilisieren müsse, um anschließend eine für Israel günstige Neuordnung anzustreben. […]

Am 16. September 2003 legten die USA ihr Veto gegen eine Resolution des UN-Sicherheitsrats ein; darin wurde Israel aufgefordert, die angedrohte Deportation von Jassir Arafat zu unterlassen. Hinter den Kulissen haben selbst US-Diplomaten eingeräumt, dass die UN-Resolution vernünftig und zurückhaltend formuliert war und dass die immer wilderen Verlautbarungen der israelischen Regierung den Friedensprozess erheblich behindern, schon weil sie Arafat zu neuem Ansehen in der arabischen Welt verhelfen. Gleichwohl haben die USA diese Resolution blockiert und damit unsere Glaubwürdigkeit als ehrliche Vermittler in der Region weiter untergraben. Washingtons Freunde und Verbündete in aller Welt wundern sich nicht mehr über solches Verhalten, und dennoch reagieren sie immer wieder enttäuscht und deprimiert.

Jahrelang haben Israels Politiker ihr Land in immer größere Schwierigkeiten hineingeritten. Umso befremdlicher ist, dass wir sie in ihrer falschen Politik noch bestärken und unterstützen. Früher versuchte Washington wenigstens, einen gewissen Druck auf Jerusalem auszuüben, etwa durch Zurückhalten desjenigen Teils der alljährlichen Hilfsgelder, der zur Subventionierung der Siedler im Westjordanland verwandt wurde. Letztmalig versuchte man das in der Amtszeit von Präsident Clinton, aber damals konnten die Israelis diese Sanktion dadurch abwenden, dass sie das Geld für „Sicherheitsausgaben“ reklamierten. Diesen Trick ließ ihnen die Clinton-Administration durchgehen, so dass von den 10 Milliarden Dollar an US-Hilfsgeldern, die zwischen 1993 und 1997 geflossen sind, nicht einmal 775 Millionen Dollar zurückgehalten wurden. Und währenddessen ging das Siedlungsprogramm völlig ungestört weiter. Heute versuchen wir nicht einmal mehr, es zu stoppen.

Diese Hemmung, politische Bedenken zu erheben oder gar einzuschreiten, dient nicht nur keiner Partei des Nahostkonflikts, sie hat auch die politische Debatte innerhalb der USA negativ beeinflusst. Statt nüchtern über den Nahostkonflikt nachzudenken, schimpfen die Politiker und die publizistischen Gurus nur über die abweichenden Meinungen der europäischen Verbündeten; bei der kleinsten Kritik an Israel reden sie auf unverantwortliche Weise von einem Wiederaufleben des Antisemitismus und ersticken damit jede öffentliche Stimme, die aus dem allgemeinen Konsens ausschert.

Aber die Krise im Nahen Osten wird weitergehen. Präsident Bush wird sich wohl bis zu den Wahlen im November 2004 demonstrativ aus dem Konflikt heraushalten, nachdem er sich für die Roadmap nur so stark gemacht hat, dass Tony Blair einigermaßen zu beruhigen war. Doch früher oder später wird ein US-amerikanischer Regierungschef einem israelischen Regierungschef reinen Wein einschenken und sich Gehör verschaffen müssen. Zwanzig Jahre verkündeten progressive Israelis und gemäßigte Palästinenser die unpopuläre Botschaft, dass Israels einzige Hoffnung darin bestehe, fast alle Siedlungen aufzugeben und sich auf die Grenzen von 1967 zurückzuziehen; dies würde dann im Gegenzug erstens die Anerkennung dieser Grenzen durch die arabische Welt möglich machen und zweitens die Existenz eines stabilen palästinensischen Staates ohne Terroristen, der durch die Institutionen des Westens und die internationale Gemeinschaft garantiert (also auch in Zaum gehalten) würde. Dies ist nach wie vor der allgemeine Konsens, und war auch in der Vergangenheit eine gerechte und mögliche Lösung.

Heute allerdings, so fürchte ich, dürfte es für eine solche Lösung zu spät sein. Denn es gibt zu viele Siedlungen, zu viele jüdische Siedler und zu viele Palästinenser, die alle auf demselben Territorium leben – wenn auch getrennt durch Stacheldraht und das israelische Regime von Passierscheinen und Ausweiskontrollen. Egal was die Roadmap vorsieht, es sind die Verhältnisse vor Ort, die die wahre Landkarte zeichnen und „die Fakten“ widerspiegeln, wie die Israelis es ausdrücken.

Vielleicht würden mehr als eine Viertelmillion schwer bewaffnete und großzügig subventionierte jüdische Siedler tatsächlich freiwillig wegziehen, wenn es ein arabisches Palästina gäbe, aber ich kenne niemanden, der glaubt, dass diese Lage eintreten wird. Viele der Siedler werden eher bereit sein, zu sterben (und zu töten), als wegzuziehen. Der letzte israelische Politiker, der Juden erschießen ließ, um eine beschlossene Politik umsetzen zu können, war David Ben-Gurion, als er 1948 die illegale Irgun-Miliz von Menachem Begin gewaltsam entwaffnete und in die neu gebildete israelische Armee integrierte. Doch Ariel Scharon ist nicht Ben-Gurion.4

Und so ist es an der Zeit, das Undenkbare zu denken: Die Zweistaaten-Lösung – die Grundidee des Oslo-Prozesses wie der vorliegenden Roadmap – dürfte bereits zum Scheitern verurteilt sein. Jahr für Jahr schieben wir eine härtere, aber unvermeidliche Option vor uns her, die bislang nur die äußerst rechten und die äußerst linken Kräfte – aus je eigenen Gründen – ins Auge fassten. Die wahre Alternative, vor der sich der Nahe Osten in den kommenden Jahren wiederfinden könnte, ist die zwischen einem ethnisch gesäuberten Großisrael und einem einheitlichen, integrierten, binationalen Staat, in dem Juden und Araber, Israelis und Palästinenser gemeinsam leben. Dies ist in der Tat die Alternative, wie sie die Hardliner in der Regierung Scharon sehen, und genau deshalb setzen sie darauf, die Araber hinauszudrängen, was sie als unerlässliche Voraussetzung für das Überleben eines jüdischen Staates erachten.

Wie aber, wenn es in der heutigen Welt für einen „jüdischen Staat“ keinen Platz mehr gäbe? Könnte es nicht sein, dass die binationale Lösung nicht nur immer wahrscheinlicher wird, sondern nachgerade zum wünschenswerten Resultat?

Der Gedanke ist nicht völlig abwegig. Die meisten Leser dieses Textes dürften in pluralistischen Staaten mit multiethnischen und multikulturellen Zügen leben. Das „christliche Europa“ nach dem Geschmack eines Giscard d’Estaing ist längst toter Buchstabe. Die westliche Zivilisation von heute ist ein Patchwork unterschiedlicher Hautfarben, Religionen und Sprachen, aus Christen, Juden und Muslimen, aus Arabern, Indern und vielen anderen, wie jeder Besucher von London oder Paris oder Genf bestätigen kann.5

Israel und die „Diaspora“

AUCH das heutige Israel ist – in allem außer dem Namen – eine multikulturelle Gesellschaft. Aber in einer wichtigen Hinsicht unterscheidet es sich von allen anderen demokratischen Staaten: Es benennt und beurteilt seine Bürger aufgrund ethnisch-religiöser Kriterien. Unter den modernen Staaten hat Israel nicht etwa deshalb eine Sonderstellung, weil es ein jüdischer Staat ist, den irgendwer den Juden missgönnen würde (wie die eher paranoiden Anhänger Israels behaupten), sondern weil es ein jüdischer Staat ist, in dem sich eine Volksgruppe – eben die jüdische – über die anderen erhoben hat. Obwohl heute für einen solchen Staat eigentlich kein Platz mehr ist.

Israel hatte für das jüdische Volk über lange Jahre eine besondere Bedeutung. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat das Land hunderttausende hilflose Menschen aufgenommen, die den Vernichtungsfeldzug der Nazis gegen die Juden Europas überlebt hatten und nicht wussten, wohin. Ohne Israel wären diese Menschen verzweifelt. Israel brauchte damals Juden, und Juden brauchten Israel. Auf diese Weise war die Identität des Staates Israel durch die Umstände seiner Entstehung unauflösbar mit der Schoah verknüpft. Die zwangsläufige Folge ist, dass jede Kritik am heutigen Staat Israel der Erinnerung an das Schicksal der Juden zum Opfer fällt. Das verstehen die US-amerikanischen Apologeten Israels geschickt zu nutzen. Wer am jüdischen Staat etwas aussetzt, denkt schlecht über die Juden. Wer sich eine alternative Konstellation im Nahen Osten auch nur vorstellt, zieht den Vorwurf auf sich, eine Strategie zu befürworten, die moralisch einem Genozid gleichkommt.

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich viele Millionen Juden, die nicht in dem neu gegründeten jüdischen Staat lebten, durch die bloße Existenz dieses Staates sicherer gefühlt. In ihren Augen war er teils eine Rückversicherung gegen einen wiederauflebenden Antisemitismus, teils eine Mahnung an die Welt, dass Juden sich zur Wehr setzen können und es im Ernstfall auch tun. Bevor es diesen Staat gab, hatten die jüdischen Minderheiten in christlich geprägten Gesellschaften immer ein ängstliches und defensives Verhalten; seit 1948 dagegen konnten sie erhobenen Hauptes gehen. Aber in den letzten Jahren wurde diese Entwicklung auf tragische Weise wieder umgedreht.

Heute machen nichtisraelische Juden erneut die Erfahrung, dass man sie wegen etwas kritisiert und attackiert, was sie nicht getan haben. Aber dieses Mal ist es kein christlicher, sondern ein jüdischer Staat, der sie zu Geiseln seiner Handlungen macht. Denn die Juden in der Diaspora können die Politik Israels nicht beeinflussen, aber sie werden implizit mit ihr identifiziert, zumal die israelische Regierung selbst auch immer wieder ihre Solidarität einfordert. Das Verhalten eines Staates mit explizit jüdischem Selbstverständnis beeinflusst nun einmal die Art und Weise, wie alle Welt die Juden wahrnimmt. Die Angriffe gegen Juden, die in Europa und anderswo immer häufiger werden, gehen vor allem auf – oft junge – Muslime zurück, die damit Israel treffen wollen. Wir kommen nicht um die deprimierende Wahrheit herum, dass die aktuelle israelische Politik nicht nur schlecht für Amerika ist und nicht nur schlecht für Israel selbst, wie viele Israelis heute stillschweigend zugeben. Zu dieser Wahrheit gehört, dass das heutige Israel schlecht für die Juden ist.

Wir leben in einer Welt, in der Staaten und Völker immer enger miteinander verflochten sind, in der mehr und mehr Menschen unterschiedlicher Abstammung einander heiraten, in der praktisch alle kulturellen und nationalen Hindernisse für eine freie Kommunikation beseitigt sind, in der immer mehr Menschen komplexe, frei wählbare Identitäten entwickeln und sich, wollte man sie auf nur eine Identität festlegen, unziemlich eingeschränkt fühlen würden. In einer solchen Welt ist der Staat Israel fürwahr ein Anachronismus, und ein dysfunktionaler Anachronismus dazu. Angesichts des aktuellen „Kulturkampfs“ zwischen offenen, pluralistischen Demokratien und militant unduldsamen, religiös inspirierten Ethnostaaten besteht für Israel die akute Gefahr, sich im falschen Lager wiederzufinden.

Die Umwandlung Israels von einem jüdischen in einen binationalen Staat wäre zwar nicht leicht, aber auch keinesfalls so unmöglich, wie es den Anschein hat. De facto hat der Prozess bereits begonnen. Er würde allerdings das Leben der meisten Juden und Araber weit weniger durcheinander bringen, als die religiösen und nationalistischen Gegner dieses Konzepts behaupten werden. Im Übrigen ist weit und breit keine bessere Idee in Sicht: Wer davon ausgeht, dass der umstrittene elektronisch gesicherte Zaun, der jetzt im Bau ist, das Problem lösen wird, hat die Geschichte der letzten fünfzig Jahre verschlafen. Der „Zaun“ – in Wirklichkeit eine befestigte Grenzzone mit Gräben, Stacheldraht, Sensoren, unbetonierten Straßen (um Fußspuren verfolgen zu können) und einer stellenweise bis zu neun Meter hohen Mauer – okkupiert, zerteilt und enteignet arabisches Ackerland, zerstört Dörfer, Lebensgrundlagen und alle Reste eines arabisch-jüdischen Zusammenlebens. Jede Meile dieses Zauns kostet rund eine Million Dollar und bringt doch für beide Seiten nur Mühsal und demütigende Erfahrungen. Wie die Berliner Mauer dokumentiert sie den moralischen und institutionellen Bankrott des Regimes, das sie zu schützen vorgibt.

Ein binationaler Staat im Nahen Osten ist nicht denkbar ohne eine mutige und dauerhaft engagierte Regierung in Washington. Die Sicherheit von Juden wie Arabern müsste durch eine internationale Truppe garantiert werden – obwohl ein auf legitime Weise begründeter binationaler Staat die unterschiedlichen militanten Kräfte innerhalb seiner Grenzen viel leichter in Schach halten könnte, als wenn diese Kräfte die Möglichkeit hätten, von außen einzusickern und ihre Gefolgschaft aus einer verbitterten und politisch ausgegrenzten Bevölkerungsgruppe beiderseits der Grenze zu rekrutieren.6

Ein binationaler Staat im Nahen Osten setzt voraus, dass auf jüdischer wie auf palästinensischer Seite eine neue politische Klasse entsteht. Bereits diese Vorstellung ist eine nicht besonders verheißungsvolle Mischung aus Realismus und Utopie – ein eher pessimistisch stimmender Ausgangspunkt. Aber die Alternativen sind viel, viel schlimmer.

deutsch von Niels Kadritzke

Dieser Text erscheintnur in der deutschen Ausgabe

* Tony Judt ist Direktor des Remarque Institute an der New York University.

Fußnoten: 1 Jabotinsky verfolgte seinerzeit das Konzept einer Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus einem Großisrael, das durch eine „eiserne Mauer“ geschützt sein solle. Siehe Nadine Picadou, „Israel, die Araber und die ‚eiserne Mauer‘ “, Le Monde diplomatique, November 2000. 2 Siehe den Essay des Knesset-Abgeordneten Avraham Burg (deutsch: www.antikriegsforum-heidelberg.de). Burg war früher Präsident der Jewish Agency und von 1999 bis 2003 Präsident der Knesset. Sein Text erschien in der israelischen Tageszeitung Jediot Aharonot und wurde von vielen internationalen Medien nachgedruckt. 3 Siehe das Interview mit US-Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz in Vanity Fair vom Juli 2003. 4 Nach dem Friedensabkommen mit dem ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat hatten Ministerpräsident Begin und Verteidigungsminister Scharon die israelische Armee angewiesen, die jüdischen Siedlungen in dem zu Ägypten gehörenden Gebiet aufzulösen. Der Widerstand einiger der Siedler wurde von der Regierung unter Einsatz von Gewaltmitteln gebrochen, allerdings gab es keine Toten. Doch damals gab es nur 3 000 Siedler (heute 250 000), und es ging nicht um „das biblische Samaria und Judäa“. 5 Natürlich werden Immigranten in den meisten europäischen Ländern noch immer diskriminiert. Und in Frankreich und Belgien, selbst in Dänemärk und Norwegen, wählt eine Minderheit politische Parteien, deren Programm sich auf ihre Feindseligkeit gegen Immigranten beschränkt. Aber im Vergleich mit der Zeit vor dreißig Jahren ist Europa heute ein Patchwork von gleichberechtigten Bürgern, und das wird auch künftig so sein. 6 Burg (Anm. 2) hält die aktuelle Politik Israels für das beste „Rekrutierungsinstrument“ der Terroristen: „Wir sind gleichgültig gegenüber dem Schicksal von hungernden und erniedrigten palästinensischen Kindern; kann es da überraschen, wenn sie uns in unseren Restaurants in die Luft sprengen? Und wenn wir täglich tausend Terroristen umbringen würden, würde das gar nichts ändern.“

Le Monde diplomatique vom 14.11.2003, von TONY JUDT