14.11.2003

Umstellte Gebiete

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Umstellte Gebiete

Von LEILA FARSAKH *

BEI seinem Besuch im Heiligen Land erklärte der südafrikanische Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu: „Vieles, was ich dort gesehen habe, entspricht den früheren Erfahrungen der Schwarzen in Südafrika. Ich habe beobachtet, wie die Palästinenser an Checkpoints und Straßensperren gedemütigt wurden. Sie erleiden dieselbe Behandlung wie wir damals, als junge weiße Polizeibeamte uns daran hinderten, uns frei zu bewegen.“1

Parallelen zwischen dem südafrikaschen Apartheidsystem und dem Israel-Palästina-Konflikt wurden schon häufig gezogen. Bislang wurden sie allerdings selten schlüssig belegt. (Ein Vergleich lag dennoch immer wieder nahe – auch wenn er vielleicht nicht immer ganz leicht zu begründen war.) Der naheliegendste und vielleicht ausschlaggebende Grund ist die Tatsache, dass beide Konflikte aus einer kolonialen Situation entstanden sind. Sowohl die weißen Siedler in Südafrika als auch die zionistischen Pioniere in Palästina kolonisierten ein Gebiet, das bereits von anderen bewohnt wurde. Und wie in Südafrika vertrieben auch die Siedler in Palästina einen Teil der einheimischen Bevölkerung (etwa zwei Drittel der Palästinenser, die auf dem Territorium des künftigen Israel lebten), eigneten sich deren Besitz an und machten diejenigen, die in den späteren jüdischen Siedlungsgebieten wohnen blieben, durch Segregation zu Bürgern zweiter Klasse.

Doch der Hinweis auf die koloniale Gründungsgeschichte des Staates Israel rechtfertigt nicht automatisch, dass er mit dem Apartheidsystem in Südafrika verglichen werden kann. Auch wenn beide Konflikte aus dem Streben nach territorialer Kontrolle erwachsen sind, waren die historischen und ökonomischen Ausgangsbedingungen durchaus verschieden, betont der israelische Soziologe Gershon Shafir2 . Und das habe die weitere Entwicklung beider Konflikte ebenso geprägt wie das Verhältnis zur jeweiligen einheimischen Bevölkerung.

Die weißen Südafrikaner behandelten die demografische Realität, die sie vorfanden, tatsächlich ganz anders als die Israelis in Palästina. Die Anhänger des zionistischen Projekts versuchten von Anfang an, die Existenz der autochthonen nichtjüdischen Bevölkerung in Palästina zu leugnen, indem sie von einem Land ohne Volk für ein Volk ohne Land sprachen.

Ein Teil der zionistischen Bewegung wollte eine jüdische Bevölkerungsmehrheit schaffen,3 indem sie die arabischen Einwohner vertrieben und gleichzeitig versuchten, eine strukturelle Abhängigkeit von der Ökonomie der arabischen Palästinenser und insbesondere von arabischen Arbeitskräften zu vermeiden. Vor 1948 stellten die arabischen Arbeiter ein knappes Drittel aller im jüdischen Sektor4 beschäftigten Arbeitskräfte. Zwischen 1948 und 1967 wurde dieser Anteil noch unter die 15-Prozent-Grenze gedrückt.5

Die Situation in Südafrika sah anders aus. Dort blieb die einheimische Bevölkerung immer in der klaren Überzahl und die Schwarzafrikaner stellten seit 1913 ständig über 75 Prozent aller südafrikanischen Arbeitskräfte. Die weißen Siedler versuchten zwar, sie zu unterdrücken, nicht aber zu vertreiben, deshalb degradierten sie die Schwarzen zu Bürgern zweiter Klasse innerhalb eines politischen Systems exklusiver weißer Herrschaft.

1948 führten die Siedler das System der Apartheid ein, das die Diskriminierung der Schwarzen in rechtlicher und ökonomischer Hinsicht institutionalisierte, aber auch im Hinblick auf die Wohn- und Siedlungsrechte. Kern dieser Politik war die territoriale Segregation mittels Errichtung von Reservaten, die den Schwarzen von den Weißen als Siedlungsraum zugewiesen wurden. Diese Reservate machten 13 Prozent des südafrikanischen Territoriums aus. Zwischen 1951 und 1970 traten vier entscheidende Gesetze in Kraft,6 mit denen diese Reservate in „Bantustans“ verwandelt wurden. Innerhalb der neuen staatlichen Gebilde wurden den Schwarzen gewisse Rechte und Pflichten übertragen, sie konnten ihre eigene Wirtschaftspolitik verfolgen und ihre zivilen und verwaltungsmäßigen Aufgaben selbst wahrnehmen. Jedoch mussten sie die polizeilichen und Sicherheitsmaßnahmen mit den Siedlerbehörden abstimmen und durften keine eigenständige Außenpolitik betreiben. Seit 1974 gab es eine Bantustan-Staatsbürgerschaft, und bis 1976 erlangten vier von zehn Bantustans die Unabhängigkeit. Die Bewohner dieser Gebiete waren damit keine südafrikanischen Staatsbürger mehr.

In Israel hat eine derartige territoriale Segregation nicht stattgefunden, zumindest nicht vor der Unabhängigkeit. Im Gegensatz zu den Erfindern der Apartheid in Südafrika, die das Land mitsamt den Menschen wollten – wenn auch mittels räumlicher Trennung –, versuchten die Zionisten in Palästina das Land ohne die Menschen in Besitz zu nehmen. Dieses Konzept wurde allerdings 1967 in Frage gestellt, insofern der Sechstagekrieg ganz neue demografische Gegebenheiten schuf: Fast eine Million Palästinenser blieben in den 1967 besetzten Gebieten, was einem Drittel der jüdischen Bevölkerung Israels entsprach.

Abschiebung auf freiwilliger Basis

DIE Israelis verfolgten zwar weiterhin eine Abschiebungsstrategie, allerdings mehr auf der Basis von Freiwilligkeit denn durch Zwang, doch die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung blieb. Die Frage, was mit diesen Menschen geschehen sollte, war entscheidend dafür, dass die israelische Politik trotz der unterschiedlichen historischen Ausgangsbedingungen der südafrikanischen Apartheid immer ähnlicher wurde.

Nach dem Krieg von 1967 haben die Israelis ihre territorialen Ambitionen in den besetzten Gebieten laufend verstärkt: Sie entwickelten eine subtile Politik der territorialen Integration bei gleichzeitiger demografischer Separation. Auf der einen Seite konfiszierte die Militärverwaltung palästinensischen Grund und Boden und genehmigte die Anlage von israelischen Siedlungen, wobei die Siedler weiterhin der israelischen Regierung und dem israelischem Recht unterstanden. Auf der anderen Seite erließ die Militärverwaltung in den besetzten Gebieten verschiedene Militärgesetze und -verordnungen, die das Leben der palästinensischen Bewohner auf allen Ebenen (Verwaltung, Wirtschaft, Justiz) bestimmten.

Sie würgten die Wirtschaft der Palästinenser ab, die dadurch von Israel immer abhängiger und in die israelische Wirtschaft integriert wurde. Von 1967 bis 1990 gab es zwischen Israel und den besetzten Gebieten praktisch offene Grenzen. In dieser Zeit war mehr als ein Drittel der gesamten palästinensischen Arbeiterschaft in Israel beschäftigt, sie erwirtschafteten über ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts der besetzten Gebiete. Bis 1993 errichtete Israel über 145 Siedlungen für 196 000 Israelis, von denen die Hälfte in zehn Siedlungen im Raum um Ostjerusalem lebte.7

Dieses exponentielle Wachstum der Siedlungen und die Tatsache, dass sie über das gesamte Westjordanland verstreut waren, war der Ausgangspunkt für die systematische Zergliederung der besetzten Gebiete. Die Siedlungen sollten also auch gezielt der demografischen Dominanz der Palästinenser entgegenwirken. Viele Beobachter sehen in dieser Politik der territorialen Integration bei gleichzeitiger sozialer Abgrenzung eine Variante von Apartheid – auch wenn das System nie mit einer so expliziten Bezeichnung belegt wurde.8

Und doch kann man das Apartheidmodell nicht so einfach auf die Beziehungen zwischen Israel und Palästina projizieren. Denn dabei ergeben sich drei Probleme. Das erste Problem betrifft die geografische Eingrenzung: die Frage also, ob sich eine derartige „israelische Apartheid“ auf die Politik in Gesamtisrael oder nur auf die in den besetzten Gebieten bezöge. Tatsache ist, dass Palästinenser, die diesseits der Grünen Linie leben, israelische Staatsbürger sind, Palästinenser aus Gaza und Westjordanland hingegen nicht. Erstere sind folglich nicht auf eingegrenzte Gebiete beschränkt, die sie nicht verlassen können. Und sie sind auch nicht aus dem politischen System Israels ausgegrenzt, auch wenn sie gegenüber jüdischen Bürgern Israels benachteiligt sind. Die Palästinenser jenseits der Grünen Linie sind dagegen ein Volk, das unter einer Besatzung lebt und auf eine politische Lösung wartet.

Zweitens ist ein Vergleich der beiden Systeme problematisch, weil für sie das Konzept der territorialen Teilung eine ganz unterschiedliche Rolle spielt. Der Afrikanische Nationalkongress (ANC) in Südafrika, der zur wichtigsten Stimme der schwarzen Bevölkerung wurde, lehnte die Separationspolitik der Afrikaaner ab und forderte ein Ende der Apartheid. Und er drängte auf die Gründung eines demokratischen Südafrikas für alle Bürger.

Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) hingegen akzeptierte 1974 den Vorschlag einer Teilung als Lösung, die dem Recht auf Selbstbestimmung gerecht wird. Mit den Oslo-Abkommen hat Israel 1993 die PLO als einzig legitimen Verhandlungspartner anerkannt und akzeptierte schließlich den Vorschlag, das Land mit den Palästinensern zu teilen, wobei sowohl die genauen Grenzen als auch der politische Status des palästinensischen Territoriums noch ausgehandelt werden mussten.

Der dritte Unterschied zwischen der israelisch-palästinensischen Lage und der südafrikanischen Apartheid betrifft die Haltung der internationalen Gemeinschaft. Das südafrikanische Apartheidsystem wurde von der internationalen Gemeinschaft ebenso wenig akzeptiert wie das Konzept, den Einheimischen eine gesonderte Staatsbürgerschaft aufzudrängen. Als Südafrika 1976 versuchte, die Transkei – eines der zehn Bantustans – als unabhängigen Staat in die Vereinten Nationen zu bringen, lehnte die UNO dies ab.9 Im Israel-Palästina-Konflikt hingegen setzt die Weltgemeinschaft definitiv auf Zweistaatlichkeit.

Die UN-Resolution 181 vom 29. November 1947 sprach sich bereits für eine Teilung des Landes aus und erhob die Formel „Land gegen Frieden“ zum entscheidenden Prinzip. Die UN-Resolution 242 vom 22. November 1967 bekräftigte dieses Prinzip und stellte klar, dass ein Gebiet nicht durch militärische Aktionen erobert werden dürfe. Sie forderte die Israelis zum Rückzug aus den 1967 eroberten Gebieten auf, wobei sie sich über die Grenzen dieser Gebiete nicht eindeutig äußerte und auch die nationalen Rechte der Palästinenser nur vage definierte. Doch die Resolution bekräftigte, dass der einzige Weg zum Frieden im Nahen Osten über die Rückgabe der besetzten Gebiete und die Anerkennung aller Staaten der Region führen könne. Auch das Oslo-Abkommen basierte auf dieser Resolution 242.

Trotz der auffälligen Unterschiede zwischen der israelisch-palästinensischen Lage und der südafrikanischen Apartheid sind sich beide Systeme in den letzten zehn Jahren immer ähnlicher geworden. Indem der Oslo-Prozess die widersprüchliche Politik – der sozialen Abgrenzung auf der einen und der territorialen Integration auf der anderen Seite –, die Israel zwischen 1967 und 1993 verfolgte, institutionalisiert hat, bedeutet er in Wirklichkeit eine „Bantustanisierung“ der besetzten Gebiete. Gemeint ist die Aufsplitterung der besetzten Gebiete in eine Reihe von Enklaven, die wirtschaftlich nicht lebensfähig und politisch nicht souverän sind.

Diese Entwicklung vollzog sich auf drei Ebenen. Auf der territorialen führte die Umsetzung der Oslo-Verträge zur weiteren Fragmentierung des Westjordanlands und des Gaza-Streifens. Obwohl die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) bereits ab 1996 fast das gesamte Westjordanland regieren sollte, kontrollierte sie im Juli 2000 erst 17,2 Prozent (die so genannte Zone A).10 Nun könnte man annehmen, dass die politische Opposition gegen den Oslo-Prozess, die Selbstmordattentate und die dadurch bewirkte Reaktion der Israelis, die Ermordung Rabins und die Wahl Netanjahus, dazu beigetragen habe, den israelischen Rückzug zu verlangsamen. Aber schon vor Beginn der Al-Aksa-Intifada blieben 59 Prozent des Westjordanlandes (ohne Ostjerusalem) und 30 Prozent des Gaza-Streifens (die so genannte Zone C) außerhalb der Zuständigkeit der PA.

Auch die jüdischen Siedlungen spielten eine wichtige Rolle. Sie waren in viel stärkerem Maße als im Fall Südafrika für die Bantustanisierung der palästinensischen Gebiete verantwortlich. Durch die Zone C, die ausschließlich in israelischer Hand verblieb, war das Westjordanland in drei große Stücke zerlegt. Die wiederum wurden durch die vier großen Siedlungsblöcke (Jerusalem, Ariel/Schomron, Gusch Etzion, Benjamin/Jordantal) und das dazugehörige Netz von Umgehungsstraßen in kleinere Bevölkerungsreservate unterteilt. Zwischen 1993 und 2000 hat sich die Zahl der Siedler (einschließlich Ostjerusalem) auf 410 000 verdoppelt. In dieser Zeit haben die Israelis über 400 Kilometer Umgehungsstraße gebaut und 72 neue Siedlungsvorposten errichtet.11

Auf der zweiten, der juristischen Ebene haben die Oslo-Abkommen die Lage der Palästinenser in drei entscheidenden Punkten an die der Bantustan-Bewohner angenähert. Erstens bestimmten sie, dass die autochthone Bevölkerung (ähnlich wie bei den Bantustans in Südafrika) nicht die einzige Quelle sei, von der die Autorität im palästinensischen Autonomiegebiet ausgeht. Zwar wurden der Palästinensische Nationalrat und der Präsident demokratisch gewählt, aber beide haben nur eingeschränkte Befugnisse. Und die wurden ihnen von der niemals aufgelösten israelischen Militärregierung zugeteilt, die nach wie vor darüber befindet, welche Befugnisse (territorialer, verwaltungsmäßiger und rechtlicher Art) die palästinensischen Organe wahrnehmen dürfen. Der Nationalrat ist zwar für die zivile und rechtliche Verwaltung von 93 Prozent der palästinensischen Bevölkerung zuständig, doch die territoriale Hoheit kann er über nicht mehr als 19 Prozent des Westjordanlandes ausüben.

Das Passierscheinsystem

ZWEITENS ist in den Oslo-Abkommen nicht festgeschrieben, dass die völkerrechtlichen Bestimmungen letztlich Vorrang vor dem israelischen Recht haben müssen. So haben die Abkommen weder die Besetzung beendet, noch beziehen sie sich auf die vierte Genfer Konvention oder die UN-Resolution 181. Letztere soll die internationale Anerkennung eines arabischen Staates auf dem Gebiet des historischen Palästina sichern. Die Abkommen erwähnen nur die UN-Resolutionen 242 und 336, die sich weder über das palästinensische Recht auf Eigenstaatlichkeit noch über die Grenzen der besetzten Gebiete präzise äußern.

Drittens ging es im Oslo-Abkommen in erster Linie um die Herausbildung institutioneller Strukturen einer israelisch-palästinensischen Zusammenarbeit und nicht so sehr um eine strikte Trennung. Es sah bilaterale Gremien auf allen möglichen Gebieten vor, besonders aber für die öffentliche Sicherheit, für die de facto die israelischen Behörden verantwortlich blieben. Den Bantustans in Südafrika wurde eine ähnlich strikte Sicherheitskooperation abverlangt.

Zum Prozess der Bantustanisierung hat schließlich auch die Art und Weise beigetragen, mit der die Oslo-Verträge die Rechte und Lebensbedingungen der Palästinenser einschränkten. Indem sie das Passierscheinsystem absegneten, das die Israelis seit den 1990er-Jahren eingeführt hatten, erlegten die Verträge den Palästinensern ganz ähnliche Beschränkungen auf, wie sie die Schwarzen unter den südafrikanischen Passgesetzen erfahren hatten. Allerdings gab es einen wichtigen Unterschied: In Südafrika sollte das System dafür sorgen, dass die weiße Volkswirtschaft stets genügend schwarze Arbeitskräfte verfügbar hatte, wogegen es in den von Israel besetzten Gebieten in erster Linie aus Sicherheitsgründen eingeführt wurde. Aber die Auswirkungen beider Systeme waren für die Betroffenen in etwa gleich. Das israelische Kontrollsystem lief zwangsläufig darauf hinaus, dass die besetzten Gebiete in eine Reihe von De-facto-Reservaten zerfielen, die ökonomisch nicht überlebensfähig sind.

Mit der zweiten Intifada, also seit September 2000, haben die Israelis das System der Passierscheine weiter ausgebaut und damit die Zersplitterung der besetzten Gebiete noch vorangetrieben. Im April 2002 beschlossen sie, die besetzten Gebiete in acht große Sektoren zu unterteilen, außerhalb deren Palästinenser nur mit Sondererlaubnis leben dürfen.12 Auch die Expansion der Siedlungen geht ständig weiter. Zwischen September 2000 und Januar 2003 wurden 2 500 neue Häuser gebaut und 52 neue Siedlungsvorposten errichtet.13 Mit der Errichtung einer Trennmauer zwischen Israel und dem Westjordanland bestimmt Israel eine einseitige Grenze, die sogar die Grenzen von 1967 nach Osten verschiebt und noch mehr Hindernisse zwischen den einzelnen palästinensischen Zonen errichtet.14

Die lang erwartete Roadmap, die vom so genannten Nahost-Quartett (USA, EU, Russland und UN) befürwortet wird, überwindet die Logik des Oslo-Abkommens nicht. Sie legt besonderen Wert auf praktische Fortschritte in der Sicherheitszusammenarbeit und die Bildung palästinensischer Institutionen und gesteht Israel somit zu, sich jederzeit in palästinensische Belange einmischen zu dürfen. Sie sieht zwar offenbar die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates mit vorläufigen Grenzen bis zum Jahre 2005 vor, macht aber nicht deutlich, wie ein Gebiet mit vorläufigen Grenzen ein wirklich souveräner und eigenständiger Staat sein soll. Außerdem werden drei Punkte, die für einen eigenständigen palästinensischen Staat von zentraler Bedeutung wären, ausgesprochen vage behandelt: das Problem der Siedlungen, das Schicksal Jerusalems und die Flüchtlingsfrage.

Die Roadmap schreibt allerdings der internationalen Gemeinschaft eine Rolle zu, die sie während des Oslo-Prozesses noch nicht spielen durfte. So wird das Quartett, zumindest auf dem Papier, zum Hüter des Abkommens ernannt, wobei den USA die besondere Aufgabe zufällt, die Entwicklung der israelisch-palästinensischen Zusammenarbeit zu beaufsichtigen. Dem Quartett wird allerdings nicht die Macht zugestanden, beiden Seiten eine Kompromisslösung aufzuzwingen oder sie substanziell zu kontrollieren. Im besten Fall liegt das eigentlich Neue der Roadmap darin, dass mit ihr die internationale Gemeinschaft eine Bantustanisierung der besetzten Gebiete absegnet. Und das heißt: Sie akzeptiert die Gründung eines palästinensischen Staates mit vorläufigen Grenzen, obwohl weder die jüdischen Siedlungen aufgelöst werden, noch Jerusalem als Hauptstadt vorgesehen ist, und obwohl es Israel überlassen bleibt, die Grenzen von 1967 neu zu ziehen.

Trotz der verschiedenen historischen Hintergründe bilden sich in der Entwicklung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern seit 1993 immer stärkere Parallelen zum Apartheidsystem heraus. Das israelische Passierscheinregime und die territoriale Zersplitterung der besetzten Gebiete haben ebenso wie die weitere Ausdehnung der Siedlungstätigkeit zur Herausbildung von palästinensischen „Reservaten“ beigetragen, deren Merkmale sie zu einer Art von Bantustans machen. Ob dies eine vorübergehende oder aber eine dauerhafte Entwicklung ist, hängt auch davon ab, ob Israel von den palästinensischen Arbeitskräften künftig weniger abhängig sein wird, die ja bereits seit über zehn Jahren durch 250 000 Arbeitskräfte aus Asien, Afrika und Osteuropa ersetzt wurden.

Sollte dieser Prozess weitergehen, wäre damit die Zweistaatenlösung akut gefährdet. Ohne die Option einer Koexistenz zwischen dem israelischen und einem palästinensischen Staat wäre Israel freilich dazu verdammt, sowohl ein binationaler als auch ein Apartheidstaat zu werden – es sei denn, man unternimmt einen massiven „Transfer“ der palästinensischen Bevölkerung.

deutsch von Elisabeth Wellershaus

* Forscherin am Centre for International Studies, Massachusetts Institute of Technology (MIT), Boston.

Fußnoten: 1 The Guardian, 29. April 2002. 2 Gershon Shafir, „Land, Labour and the Origins of the Israeli-Palestinian Conflict 1882–1914“, Cambridge University Press 1989. 3 Siehe Nur Masalha (1997), „Expulsion of the Palestinians: the Concept of ,Transfer‘ in Zionist Political Thought, 1882–1984, Institute of Palestine Studies, Washington DC, 1991. 4 Baruch Kimmerling, „Zionism and Economy“, Cambridge MA (Schenkmen) 1983, S. 51. 5 Statistical Abstract of Israel, herausgegeben vom Israeli Central Bureau of Statistics, Jerusalem 2002, Tabelle 16.15. 6 Das sind im Einzelnen: der „Bantu Authority Act“ von 1951, der „Promotion of Bantu Self-Government Act“ von 1959 und der „Bantu Homeland Citizenship Act“ von 1970, der 1974 erweitert wurde. 7 Report on Israeli Settlements in the Occupied Territories, Foundation for Middle East Peace (FMEP), Washington DC, 2001, Bd. 11/6, Tabelle 1. 8 Uri Davis, „Israel: An Apartheid State“, London (Zed Books) 1987; Roane Carey (Ed.), „The New Intifada: Resisiting Israel’s Apartheid“, London (Verso) 2001; MarwanBishara, „Israel/Palestine: Peace or Apartheid“, London (Zed Books) 2001. Siehe auch: Law (The Palestinian Society for the Protection of Human Rights and Environment), „Apartheid, Bantustans and Cantons: The ABC of the Oslo Accords“, 1998 (www.lawsociety.org/apartheid/palngo.html). 9 Alexander Kerby, „South Africa’s Bantustans: What Independence for the Transkei“, World Council of Churches, Genf 1987. 10 Nach dem Oslo-II-Abkommen von Ende September 1995 untersteht die Zone A (3 Prozent des Westjordanlands) der Palästinensischen Autonomiebehörde, die Zone B (27 Prozent des Territoriums) der Verwaltung von Israelis und Palästinensern, und die Zone C (70 Prozent) allein den Israelis. Im Juli 2000 erstreckte sich die Zone A auf 17,2 Prozent, die Zone B auf 23,8 Prozent und die Zone C auf 59 Prozent des Westjordanlands. Siehe dazu auch die im „Atlas der Globalisierung“ veröffentlichte Karte, hrg. von Le Monde diplomatique, Berlin (taz) 2003, S. 176–177. 11 Report on Israeli Settlements in the Occupied Territories, FMEP 2003, Bd.13/2. 12 Applied Research Institute Jerusalem (ARIJ), „The Israeli Security Zones make up 45,25 % of the West Bank, including 158 Israeli Colonies“, 2002 (www.poica.org/casestudies/security-zones/). 13 Report on Israeli Settlements in the Occupied Territories, FMEP 2002, Bd.12/2. 14 Bislang wurden 140 Kilometer der Mauer gebaut, wodurch bereits 14 000 palästinensische Familien von ihrem Landbesitz und den anderen palästinensischen Gebieten abgetrennt wurden (Betselem 2003). Nach dem neuen Grenzverlauf, den die israelische Regierung am 1. Oktober beschlossen hat, wird die Mauer bis zum Süden des Westjordanlandes 450 Kilometer lang werden. S. Gadi Algazi, „Scharons Palästina“, Le Monde diplomatique, Juli 2002.

Le Monde diplomatique vom 14.11.2003, von LEILA FARSAKH