Weder Woodstock noch Internationale
ÜBER die Geschicke der Welt bestimmen die wenigen Menschen, die an Schlüsselpositionen in den entscheidenden Institutionen sitzen. Seit den Protesten in Seattle wächst die Bewegung für eine andere Globalisierung. Sie versammelt unterschiedlich radikale Bewegungen und Gruppierungen aus ganz verschiedenen Bereichen, die sich gegen die durchgreifenden neoliberalen Umwälzungen zur Wehr setzen. Sie tun dies mittels lokaler Initiativen, die sich auf konkrete Themen wie etwa die Gesundheitspolitik beziehen, aber auch durch große überregionale oder globale Sozialforen.
Von FRANÇOIS HOUTART *
Das Wertgesetz bekommen sie alle zu spüren: die kleinen Baumwollproduzenten in Westafrika wie die autochthonen Völker in Chiapas und Ecuador; die landlosen Bauern in Brasilien wie die „städtische Armutsbevölkerung“ in Bangkok; die Langzeitarbeitslosen in der entwickelten Welt wie die neuen Nomaden, die in fremden Ländern Arbeit suchen. Das Wertgesetz, das all diesen Menschen das Leben schwer macht, ist überall das gleiche. Doch für die konkreten Menschen bringt es sich auf ganz unterschiedliche Weise zur Geltung: für die einen direkt über das kapitalistische Lohnarbeitsverhältnis, für die anderen indirekt über Mechanismen, die auf rechtlicher oder finanzieller Ebene ansetzen.
Im Zuge der beschleunigten Globalisierung wandern ganze Produktionsbereiche in die Peripherie ab, während in den Zentren Deregulierungsmaßnahmen, Sozialabbau und sinkende Löhne zur Regel werden. Dreißig Jahre Kapitaloffensive gegen Arbeit und Staat, dreißig Jahre beschleunigte Akkumulation nach dem Rezept des Washington Consensus (von Weltbank und IWF) haben die Bedingungen für soziale Kämpfe nachhaltig verändert, zumal mit dem Siegeszug des Neoliberalismus seit 1989.1
Obwohl die wirtschaftlichen Grundentscheidungen bei einigen wenigen Schlüsselinstitutionen liegen, spielten sich die sozialen Kämpfe anfangs noch an vielen Fronten ab. Zudem wurde die Glaubwürdigkeit der traditionellen Akteure durch mehrere Faktoren beeinträchtigt: durch das Scheitern des „real existierenden Sozialismus“, die Schwäche der Linken, die starren innerparteilichen Hierarchien, das Verschwinden der kommunistischen Parteien und die Kompromisspolitik der Sozialdemokratie.
Dennoch entstand in vielen Bereichen das Bedürfnis, die künftigen Entwicklungen mitzugestalten. Und so verschmolzen kurz vor der Jahrhundertwende der Widerstand der „alten“ Bewegungen (etwa Gewerkschaften) und die Protestaktionen von „neuen“ Kräften zu der Bewegung für eine andere Globalisierung.2
Bereits in den 1990er-Jahren waren zahlreiche neue Initiativen entstanden: etwa die asiatische Dachorganisation People’s Power 21, die von den Zapatisten organisierte Konferenz gegen den Neoliberalismus und die Veranstaltung „L’Autre Davos“3 . Im Zuge der Demonstrationen von Seattle (1999), Genua (2001) und Cancún (2003) entwickelte sich die Idee, eine Gegenmacht gegen das Davoser Weltwirtschaftsforum und vor allem einen Treffpunkt für die verschiedenen Widerstandsformen zu schaffen. Mit dem Weltsozialforum in Porto Alegre hat dieses Projekt Gestalt angenommen.
Die vielen heterogenen Bewegungen unter einen Hut zu bringen war keine leichte Sache. Die Charta des Weltsozialforums formulierte einen Minimalkonsens. Dass die Bewegungen, die gegen den Neoliberalismus kämpfen, so vielgestaltig sind, macht zugleich ihre Schwäche und ihre Stärke aus. Auch sind organisierte Widerstandsformen nicht mehr besonders populär; junge Menschen begeistern sich eher für spontane Initiativen.
Bei den seit 1999 entwickelten Demonstrationsformen gilt es zu unterscheiden zwischen den Protestaktionen bei den Gipfeltreffen von Weltbank, Internationalem Währungsfonds, Welthandelsorganisation und Europäischer Union und den anderen, von solchen Großereignissen unabhängigen Formen. Protestbekundungen gegen Globalisierungsgipfel wird es zweifellos auch in Zukunft geben. Zu problematisieren sind hingegen die Ziele, Organisationsstrukturen und Entscheidungsprozesse der großen Sozialforen. Für sie hat man auch die Bezeichnung „Bewegung der Bewegungen“ gefunden. Vielleicht sollte man sie aber besser als „Raum gebendes Forum“ bezeichnen, da sie eher als Thementreff oder Ideenwerkstatt gedacht sind.4 Denn hier gibt es keine Schlusserklärungen, keine allgemeinen Handlungsrichtlinien oder Abstimmungen. Statt eines Präsidenten oder Leitungsgremiums haben die Foren nur ein Sekretariat für die organisatorische Abwicklung. Eine Ausnahme ist das Weltsozialforum mit seinem „internationalen Rat“. Diese Beschränkung auf eine Katalysatorfunktion hat aber auch ihre Nachteile. In Porto Alegre wurde dieses Frühjahr vorgeschlagen, gegen den bevorstehenden Irakkrieg zu demonstrieren.5 Doch unter solchen Bedingungen ist es schwer, konkrete politische Ziele zu definieren – und erst recht, sie wirksam umzusetzen.
Zwar ergeben sich die zentralen Themen der einzelnen Treffen aus den allgemeinen Zielsetzungen der Forums-Charta. Doch was die Kritik am herrschenden System und die Formulierung von Alternativen betrifft, so gibt es ziemlich unterschiedliche Meinungen. Im Namen der Opfer zu sprechen ist eine Sache, eine ganz andere ist es, Aktionen durchzuführen, die sich gegen das ganze System richten. Die Lösungsvorschläge reichen denn auch von einer „Humanisierung“ des kapitalistischen Marktes bis zu seiner „Ablösung“ durch eine andere ökonomische Logik. Immerhin gelang es der Bewegung, ein kollektives Selbstverständnis zu entwickeln, das sich in einem prägnanten Satz ausdrückt: „Eine andere Welt ist möglich.“
Allein diese Parole wird die Welt jedoch nicht verändern. Die Frage ist ja, wie man seine Ziele durchsetzen kann. Deshalb haben sich auf den Foren eine Reihe von sozialen Bewegungen (Gewerkschaften, Bauernorganisationen und Attac) zu einem Bündnis zusammengefunden, das eigenständige Positionen formuliert. Darüber hinaus wurden Kontakte zu Politikern geknüpft. Und es wurde das Forum der Parlamentarier gegründet, das jeweils parallel zum Weltsozialforum stattfinden soll. Die Frage, wie sich die Beziehungen zwischen den Sozialforen und den politischen Parteien in Zukunft gestalten sollen, ist jedoch längst nicht entschieden. Denn natürlich besteht die Gefahr, dass man sich von der Politik instrumentalisieren lässt. Das nächste Weltsozialforum, das im Januar 2004 im indischen Bombay stattfinden soll, wird hier weitere Klärung bringen.
Die Stärke der Sozialforen liegt – im Kontrast zum elitären Weltwirtschaftsforum von Davos – in der großen Teilnehmerzahl und in der Vielfalt der Themen, ihre Schwäche in der Gefahr, in süßer Anarchie zu versinken. Bisher ließ sich das Gleichgewicht halten, weil alle wissen, wie aggressiv der Gegner ist, weil man eine große gegenseitige Toleranz aufbringt, und auch, weil das brasilianische Sekretariat die bisherigen Weltsozialforen sehr klug vorbereitet hat.
Im Moment sehen sich Sozialforen mit einer Reihe von organisationsinternen und -externen Fragen konfrontiert. Unter den Mitgliedern finden sich sowohl Gewerkschaften unterschiedlicher politischer Orientierung wie auch zahlreiche soziale Bewegungen mit jeweils spezifischer Protestkultur. Hinzu kommen Nichtregierungsorganisationen, die zum Teil über viel Geld und Personal verfügen, womit stets die Gefahr einseitiger Einflussnahme auf den Diskussionsprozess gegeben ist. Auch bei der Entscheidung über Themen und Referenten spielen in der Regel die Strategien von Einzelpersonen und Institutionen eine Rolle. Und schließlich bringt die schiere Größe (das Weltsozialforum in Porto Alegre hatte 100 000 Teilnehmer, die Sozialforen in Hyderabad und Florenz jeweils 40 000) erhebliche Organisations- und Finanzierungsprobleme mit sich.
Ein Forum für bislang undenkbare Bündnisse
SOLCHE Veranstaltungen kosten viel Geld, das zum Großteil von den Teilnehmern selbst, den sozialen Bewegungen und NGOs aufgebracht wird. An der Finanzierung der erforderlichen Infrastruktur waren in Brasilien, Italien und Frankreich auch lokale oder staatliche Stellen beteiligt; einen Teil der Vorbereitungs- und Organisationskosten übernehmen internationale Stiftungen.6 Ob sich dieser Finanzierungsmodus weiter durchhalten lässt, ist allerdings zweifelhaft.
Vielfach wird den Foren vorgeworfen, sie hätten eine reformistische Perspektive, was auf die Mehrheit der beteiligten Organisationen sicherlich zutrifft. Da aber auch radikalere Positionen vertreten sind, könnte durch den Austausch von Wissen, Analysen und Handlungsvorschlägen ein neues, gemeinsames Bewusstsein entstehen. Vor allem aber hat das Bemühen, einen Gegenpol zur herrschenden Globalisierung herauszubilden, zu Bündnissen geführt, die bis dato als undenkbar galten.
Auch im Verhältnis zum politischen Umfeld steht die Bewegung für eine andere Globalisierung vor ernsten Problemen. Zum einen beginnt das System sich zu verteidigen. Es greift die zentralen Konzepte der Bewegung auf – Zivilgesellschaft, Mitbestimmung, Armutsbekämpfung –, gibt ihnen jedoch eine andere Wendung. Es kooptiert Teile der Bewegung und einzelne NGOs und bietet ihnen die Mitwirkung bei Entwicklungsprogrammen (etwa der Weltbank) und bei internationalen Foren (etwa in Davos) an. Es macht der Bewegung durch administrative Maßnahmen das Leben schwer und versucht, sie in die Nähe des Terrorismus zu rücken oder bestimmte Gruppen zu kriminalisieren.
Zum Zweiten lässt sich beobachten, dass die Medien versuchen, die Bewegung teils zu „folklorisieren“, teils als Chaotenhaufen darzustellen. Die Gewaltfrage ist denn auch ein Streitpunkt zwischen „Gemäßigten“ und „Radikalen“. Während Erstere möglichst viele Menschen einbinden wollen, um rasch zu einer „kritischen Masse“ anzuwachsen, setzen die Radikalen angesichts der ungeheuren Fähigkeit des Systems, jeden Protest zu absorbieren, eher auf gewaltsame Konfrontation.
Trotz all dieser Widersprüche ist es ein großer Schritt nach vorn, dass die Bewegung für eine andere Globalisierung den Horizont für eine gesellschaftliche Utopie wieder aufreißt und Veränderungen zur Diskussion stellt, die morgen schon Realität werden könnten: Wie soll die Gesellschaft aussehen, die wir wollen, das Bildungs- und Gesundheitssystem, der Transport- und der Kommunikationssektor oder die Landwirtschaft?
Klar ist, dass der totale Markt mit all seinen verhängnisvollen gesellschaftlichen Auswirkungen nicht mehr die einzige Perspektive darstellt. Die neuen Hoffnungen müssen sich allerdings erst noch in kurz- und mittelfristigen Alternativvorschlägen konkretisieren, und zwar auf allen Ebenen: auf der wirtschaftlichen und der politischen, der sozialen und der kulturellen, auf der Makro- und der Mikroebene. Dass ein enges Zusammenwirken von sozialen Bewegungen und engagierten Intellektuellen dabei von ausschlaggebender Bedeutung ist, dürfte sich von selbst verstehen.
Das nächste Weltsozialforum in Bombay vom 16. bis 21. Januar 2004 bildet eine entscheidende Etappe in der Internationalisierung der Bewegung, die bislang von lateinamerikanischen und europäischen Gruppen dominiert wird. Bleibt die Frage, wie sich die Bewegung auf globaler, kontinentaler und lokaler Ebene politisch organisieren soll. Eine Einheitspartei, die die Wahrheit für sich gepachtet hat, kommt jedenfalls nicht in Frage.
Jenseits der falschen Alternative „Sozial-Woodstock oder Fünfte Internationale“ sind die Sozialforen der lebendige Ausdruck einer Gesellschaft, die wieder in Bewegung geraten ist.
deutsch von Bodo Schulze
* Leiter des Centre Tricontinental und der Zeitschrift Alternatives sud, Louvain-la-Neuve (Belgien).