Wer ist Populist
DER Populismus hat Konjunktur. „Wer verführen will, muss vereinfachen“, lautet eine seiner Maximen. Doch was wird vereinfacht? Und in welchen Zeiten werden Vereinfachungen benötigt? Dass Krisen den Populismus befördern, ist bekannt, genauso wie bekannt ist, dass er die Krisen nur selten löst. Er wird gern mit reaktionären, demagogischen oder faschistischen Bewegungen gleichgesetzt, weil er die „Sprache des Volkes“ spricht, doch eine Untersuchung der verschiedenen Analysen und Theorien liefert weitaus vielfältigere Erkenntnisse.
Von ALEXANDRE DORNA *
Es ist schon seltsam, wie stereotyp der Populismus in der Regel als reiner Unfug oder putzige Kuriosität abgetan wird. Der Begriff muss für beliebige Zwecke herhalten: mal zur Analyse des Wahlsiegs eines Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien und der Politik eines Hugo Chávez in Venezuela, dann wieder zur Erklärung des Erfolgs der Schweizerischen Volkspartei eines Christophe Blocher und des Aufstiegs von Bernard Tapie in Frankreich, schließlich zur Interpretation historischer Phänomene wie des Boulangismus oder der Poujadisten. Neuerdings spricht man gar von „TV-Populismus“. Der Begriff ist also nicht leicht zu fassen, das damit bezeichnete Geschehen häufig nicht einzuordnen. Das erklärt vielleicht, dass die einen es erst gar nicht versuchen und die anderen sich mit einer bloßen Synopse der Bedeutungsvarianten begnügen.1 Eine genaue Definition des Populismus wird höchst selten versucht.
Die Etymologie des Wortes verweist auf das lateinische populus, das Volk. Der populistische Diskurs wendet sich unmittelbar an die „Massen“, ist aber nicht etwa a priori, nur weil er die „Sprache des Volkes“ spricht, mit reaktionären, demagogischen oder faschistischen Bewegungen gleichzusetzen. Diese begriffliche Verschmelzung steht seit langem einer präziseren Definition im Wege und lässt den Populismus als ahistorisches Phänomen erscheinen, ohne Bezug auf mögliche Vorläufer und auf irgendwelche realen Ursachen. Für die Neuzeit dürften die populistischen Bewegungen in Russland, Amerika und Südamerika noch am meisten hergeben.
Der oft zitierte, äußerst vielgestaltige lateinamerikanische Populismus entstand in den 1930er-Jahren. Einige der charismatischen Figuren, die im Namen der Nation oder der sozialen Gerechtigkeit als Hoffnungsträger auftraten, profilierten sich vor dem Hintergrund schwacher und korrupter Regierungen. Das bekannteste Beispiel sind bis heute der charismatische Juan Domingo Perón und seine Frau „Evita“, die mit ihren feurigen Reden und Radioansprachen die Arbeiterschaft mobilisieren konnten. Der Peronismus steht für drei Forderungen: Nationalismus, Antiimperialismus und eine „klassenübergreifende“ Politik. Insbesondere in seiner ersten Amtszeit (1946–1951) gelang es Perón, die Unterprivilegierten – die descaminados (Hemdlosen) – in Lohn und Arbeit zu bringen. Anders lässt sich der bis heute lebendige Perón-Mythos kaum erklären. Doch Argentinien erlebte unter Perón nicht nur eine fortschrittliche Sozialpolitik, sondern auch den (vorzeitigen) Niedergang der Linken.
Bis heute haben die populistischen Bewegungen in Lateinamerika äußerst widersprüchliche Ziele. In Ecuador propagierte Präsident Abdala Bucaram in seiner kurzen Amtszeit (Mai 1996 bis Februar 1997), umgeben von den reichsten Männern des Landes, eine „Regierung der Armen“. In Peru etablierte sich die neoliberale Regierung des Alberto Fujimori; in Venezuela die „soziale“ Präsidentschaft des Hugo Chávez, ein Politikwissenschaftler, der der Korruption des politischen Apparates den Kampf ansagte und sich in der Hoffnung auf Veränderung aufrieb.
Vor seinem Amtsantritt wurde der brasilianische Exgewerkschafter und charismatische Führer der Arbeiterpartei (PT), Luiz Inácio Lula da Silva, oft als Populist dargestellt. Seit seinem Einzug ins Planalto2 ist davon nicht mehr so oft die Rede, denn obwohl er seine linke Rhetorik beibehalten hat, entwickelt er eine pragmatische Bereitschaft, mit den internationalen Institutionen – insbesondere dem Internationalen Währungsfonds (IWF) – zusammenzuarbeiten und seine Positionen der Mitte anzunähern.
Während populistische Ideologien früher stärker nationalistisch und/oder sozialistisch ausgerichtet waren, dominiert in den letzten Jahren eher die neoliberale Richtung, die etwa Carlos Menem in Argentinien und Fujimori in Peru repräsentierten. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass populistische Bewegungen heute stark auf Marketing und Medien setzen, was ihnen nicht immer gelingt. Dreimal versuchte Lula, sich zum brasilianischen Staatspräsidenten wählen zu lassen, und sah sich dabei von den Medien heftig attackiert. Erst beim vierten Anlauf unterstützten sie ihn, nachdem er seine linke Rhetorik abgemildert hatte.
In Venezuela, wo Präsident Chávez über seine berühmte wöchentliche Radiosendung „Aló Presidente“ jederzeit das Volk erreicht, setzt die Opposition die privaten Medien gegen Chávez ein. Subcomandante Marcos in Mexiko ist längst ein Meister der politischen Kommunikation. Allerdings behauptet er, unter keinen Umständen die Macht ergreifen zu wollen. Ist das noch Populismus? Lateinamerika hat dieses politische Phänomen nicht für sich gepachtet. Populistische Bestrebungen gibt es in vielen Ländern der Erde. Gleichwohl lassen sich einige Merkmale herausarbeiten.
Zum Ersten ist der Populismus vor allem eine eruptive, eher kurzzeitige Begleiterscheinung einer allgemeinen Krise, einer für die Massen unerträglichen politischen und sozialen Situation. Es handelt sich also eher um ein lautes, überschwängliches Alarmsignal als um eine alles zum Einsturz bringende Explosion. Nicht jeder Populismus führt automatisch zu einem Regimewechsel. Wenn allerdings die herrschende Klasse die Botschaft nicht versteht, kann der Appell an das Volk womöglich eine blockierte Situation lösen. Der Zement, der eine populistische Bewegung zusammenhält, ist nicht soziologischer, sondern psychologischer Natur. Es handelt sich um eine zornige, von Misstrauen geprägte Reaktion darauf, dass die Institutionen und zentrifugalen Kräfte die Gründungsmythen der Nation bedrohen.
Zweitens verkörpert sich der Populismus stets in einer charismatischen Figur. Diese Dimension des Phänomens erschließt sich nur durch eine psychologische Analyse.3 Das charismatische Moment des Populismus wirkt wie ein Antidepressivum. Denn durch den emotionalen oder gar erotisch aufgeladenen Kontakt können die verbitterten Menschen mobilisiert und organisiert werden. Der Appell wendet sich an das ganze Volk, an alle, die Ungerechtigkeit und Elend schweigend ertragen; so kann man eingefahrene Spaltungen überwinden und durch Rückbesinnung auf große kollektive Taten und gemeinsame Werte emotionale und rationale Momente zusammenführen.
Die psychologische Dimension des Populismus ist unbestritten, denn die Krise ist zumeist nur ein Auslöser. In ihm treffen sich zwei psychologische Mechanismen der sozialen Kontrolle – Faszination und Verführung. Für beide gilt Baltasar Gracians Spruch: „Wer verführen will, muss vereinfachen.“ Dass es zumeist weder ein klar umrissenes Programm noch eine konsistente Ideologie gibt, ist nicht verwunderlich. Der Populismus verfügt also nicht über eine originäre Idee oder eine globale Theorie und schon gar nicht über ein bestimmtes Menschen- und Gesellschaftsbild, sondern er artikuliert den Willen, das Gemeinwohl neu zu definieren, weshalb er, so der Politologe Ernesto Laclau4 , in den verschiedensten Organisationen und Regimen, Klassen und politischen Gruppierungen auftreten kann. Folglich muss man bei seiner Analyse von der Frage des gesellschaftlichen Standpunkts absehen.
Gelegentlich wird der Populismus mit Nationalismus oder Faschismus gleichgesetzt. Doch solche zuweilen parteipolitisch gefärbte Rhetorik ist ziemlich unseriös, zumal solche Doktrinen zumeist einen expansionistischen, hegemonialen Staatsbegriff voraussetzen, in dem der Krieg als kategoriale Konsequenz schon angelegt ist. Darum ist es ausgesprochen zweifelhaft, wenn Politologen auch Jean-Marie Le Pen als „Nationalpopulisten“ bezeichnen. Dieser Begriff war auf die besondere politische Situation im peronistischen Argentinien der 1940er und 1950er-Jahre zugeschnitten und taugt zu keinen aktuellen Analogien. Außerdem wird mit dieser Gleichsetzung die wahre Bedeutung des Front National tendenziell verharmlost, während zugleich alle volkstümlichen Aufrufe unter Generalverdacht stehen. Steckt denn hinter jedem Appell ans Volk gleich der Wille, eine Ideologie an die Macht zu bringen, die ihrem Wesen nach antidemokratisch sein muss?
Der Populismus entsteht nicht aus dem Nichts, sondern stets im Gefolge einer gesellschaftlichen Krise und einer allgemeinen Ernüchterung. Dabei wirkt die Unbeweglichkeit der herrschenden Eliten stets zugunsten des politischen Status quo. Zugleich beginnt der Glaube an die Nation zu schwinden, die Zukunft macht Angst. Der Zweifel verpuppt sich zu einem komplizenhaften Schweigen, das staatsbürgerliche Engagement selbstbewusster Individuen wird durch einen engstirnigen, abstrakten Individualismus abgelöst.
Je auswegloser die Krise, desto rascher macht sich Zynismus breit, verwandelt sich Resignation in stummes Zuwarten. Die Elite steht vor dem Dilemma, ob sie mit der Vergangenheit brechen oder abdanken soll. Häufig fehlt es den Politikern in solchen Krisenmomenten weniger an Einsicht als an Mut. Die Kritiker des Populismus begründen ihre Einwände mit der Gefahr der Diktatur. Dabei spielen sie eine Gefahr hoch, die eher imaginär als real ist; vor allem aber blenden sie die Ursachen aus. Die zeitgenössische Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass Populismus nicht zwingend in die Diktatur führt, es sei denn, er geht eine Verbindung mit dem Faschismus ein. Er bleibt entweder eine bloße Forderung – nach mehr Demokratie – oder ein Appell an das Volk, der aber kein kollektives Projekt zum Inhalt hat.
Alain Pessin, Soziologe an der Universität Grenoble, schlägt vor, soziale Prozesse wie den Populismus zu analysieren, als handele es sich um Mythen.5 Der Mythos macht ein Ideal publik und gibt es für wahr aus, ohne es zu erklären. Er beruft sich auf eine kollektive Erfahrung und auf eine unmittelbare Beziehung zum Anderen. Dadurch stiftet er Zusammenhalt und Hoffnung jenseits der vorhandenen erstarrten institutionellen Zwänge.
Populismus ist zumeist kurzlebig und mündet in einer Rückkehr zur bestehenden Ordnung – man denke etwa an das poujadistische oder das boulangistische Zwischenspiel in Frankreich. Doch einige Forscher behaupten beinahe, der Populismus sei eine Spielart demokratischer Umwälzungen.
Anders der in Buenos Aires lehrende italienische Soziologe Gino Germani6 , der das Versagen der gesellschaftlichen Institutionen (Familie, Schule, Unternehmen, Gewerkschaften und politische Parteien) anführt. Da diese ihre integrative Funktion verloren hätten, könne die Bevölkerung sich den ökonomischen und technischen Anforderungen einer beschleunigten industriellen Modernisierung nicht stellen. Erst der Rückgriff auf populistische Ideen ermögliche es, einen Antikonformismus zu entwickeln, der die Bewältigung der Krise und die Suche nach einem neuen sozialen und politischen Gleichgewicht beschleunigt. Für andere argentinische Autoren ist der Populismus dagegen eine verkappte Diktatur. Offensichtlich spaltet das Thema Perón die argentinische Linke bis in unsere Tage.
Das seit zwei Jahrzehnten zu beobachtende Wiederaufleben des Populismus signalisiert eine Krise der repräsentativen Demokratie. Überall auf der Welt gibt es populistische Tendenzen, deren suggestives Potenzial die Medien verstärken. Die heftige – wenn auch nicht gewaltsame – Umwälzung der sozialen und politischen Strukturen durch die neoliberale Globalisierung geht einher mit einer Umwälzung der psychischen Strukturen, der Gewohnheiten und Vorstellungen.7 Die aufgestauten Frustrationen münden zwangsläufig in eine neue große Enttäuschung. Viel ist von den alten demokratischen Idealen nicht übrig geblieben in unseren modernen Demokratien mit ihrer Tristesse und ihrer Resignation, in unseren „sozialliberalen“ Gesellschaften, die immer autoritärer werden und sich immer stärker abschotten. Das ist der Grund für die wachsende Besorgnis. Aber die Alternative ist kaum erfreulich: explosive Revolte oder konformistische Implosion. Der Populismus lässt sich in gewisser Weise mit einem Fieberanfall vergleichen. Das Fieber ist zwar Symptom, aber nicht die eigentlich Krankheit.
deutsch von Michael Bischoff
* Professor an der Universität Caen, Vorsitzender der Association française de psychologie politique und Autor von „Le Populisme“, Paris 1999.