Varianten des Populismus
ALLER Wahrscheinlichkeit nach ist der russische Populismus (narodnitschestwo) – der viele Anarchisten des 19. Jahrhunderts inspirierte – die am schwersten zu fassende Variante des Populismus. Die Berufung auf das Volk gegen den zaristischen Absolutismus 1850 bis 1880 wurzelte in den Protesten der armen Landbevölkerung und der fortschrittlichen Intelligentsija. Das explosive Gemisch aus Nationalismus und ideologisch-utopischem Denken wirkte wie ein Rückgriff auf die Einheit und die Werte der russischen Seele. Die auf eine Sozialrevolte ausgerichtete Bewegung zerfiel unter dem Druck der zaristischen Autokratie und später der stalinistischen Repression, die den Populismus verteufelte, um sich den Kampf für die Veränderung der Gesellschaft auf ihre eigenen Fahnen schreiben zu können.
Die Ursprünge des amerikanischen Populismus lagen in den Nachwirkungen des Bürgerkriegs, den sozialen Folgen der Industrialisierung, der wirtschaftlichen Expansion und dem Verlust des Ansehens der politisch Verantwortlichen. So gelang es General James B. Weaver, Kandidat der Populist Party bei den Präsidentschaftswahlen 1892, die Empörung über die Ungleichheit und die Ablehnung der Demokratischen wie der Republikanischen Partei für sich zu nutzen. Fast wäre er – zur allgemeinen Überraschung – als Sieger aus der Wahl hervorgegangen. Danach ging es mit seiner populistischen Partei zwar bergab, am Ende war der Populismus damit noch lange nicht. Tatsächlich ist die gesamte amerikanische Politik stark populistisch geprägt. So entsprach Franklin D. Roosevelt mit seinem New Deal in den 1930er-Jahren populären Forderungen nach einer Eindämmung der Exzesse der „Raubbarone“.
Einige Jahrzehnte später schuf Ronald Reagan eine neue, widersprüchliche Synthese zwischen Ultraliberalismus und Populismus. Er kritisierte den Versorgungsstaat unter Berufung auf die Rechte der Schwächsten, deren Einkommen von „parasitären“ Zwischenstrukturen „usurpiert“ würden. 1992 feierte der neue Populismus Erfolge mit Ross Perot und Patrick Buchanan, die mit den Missständen des „Raubtierkapitalismus“ ins Gericht gingen. Bill Clinton gewann die Wahl auf einer populistischen Welle. Er kritisierte die Bürokratie und all jene, die sich bereicherten, während andere, „die hart arbeiten und sich an die Gesetze halten, bestraft werden“.2 Er verstand es, eine beunruhigte öffentliche Meinung aufzugreifen und ein beruhigendes Zukunftsbild zu entwerfen.
War Clinton ein Populist? Darüber lässt sich streiten. Jedenfalls gibt es einige Anzeichen dafür: die pragmatische Flexibilität der Persönlichkeit, die scheinbare Nähe, das physische Charisma, der emotionale Charakter seiner Sprache und seiner Bilder. Und George W. Bush nimmt heute mit seiner Verunglimpfung der Intellektuellen eine ähnliche Haltung ein wie seine Vorgänger. In Wirklichkeit bringt dieser diffuse Populismus auf konfuse Weise die Ängste einer amerikanischen Gesellschaft zum Ausdruck, die zwischen liberalem und autoritärem Denken schwankt.
In Frankreich stehen mehrere Männer für den Populismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Napoleon III. übernahm die Macht im Gefolge der bourgeoisen Erstarrung der republikanische Regierung von 1848, die an einer harten Unterdrückung der Arbeiterbewegung festhielt. Dem neuen Machthaber fiel es leicht, sich als Mann der Vorsehung auszugeben, der das Volk repräsentieren und das Reich zu seiner alten Größe zurückführen wolle. Er beschwor das Gespenst der Revolte, schürte die antiparlamentarische Stimmung der einfachen Leute und umwarb die Arbeiter. Kurz vor dem Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 wandte er sich in einem Aufruf an das Volk. Es kann nicht verwundern, dass zu seinen ersten Maßnahmen die Wiederherstellung des allgemeinen Wahlrechts gehörte. Damit bestätigte er die unmittelbaren Verbindungen zwischen dem Volk und seiner Regierung. Nahezu 20 Jahre lang, bis September 1870, sollte das Volk ihm treu bleiben.
EINE weitere Figur des französischen Populismus war General Georges Boulanger. Der Boulangismus war Ausdruck einer Krise der Gesellschaft und der republikanischen Werte. Der Börsenkrach von 1882 bestätigte die Befürchtungen der Menschen, die in den technologischen Neuerungen eine Bedrohung erblickten. Die wachsenden Proteste gegen die führende Klasse lebten von nostalgischen Gefühlen und einer Absage an die Allmacht des Geldes. Die Unruhe nahm zu. Am 8. Mai 1882 gründete Paul Déroulède die Ligue des patriotes im Namen der „Angewiderten“, das heißt von Menschen aus praktisch allen sozialen Schichten, denen die Politik der Rechten und der gemäßigten Republikaner unerträglich erschien. In den sozialen Konflikten, die zum Eingreifen der Armee führten, bewies General Boulanger seine Treue gegenüber den Arbeitern. Sein „Ausschluss“ aus dem öffentlichen Leben löste eine Massenbewegung aus, an der sich radikale Dissidenten, Nationalisten, Sozialisten sowie Monarchisten beteiligten. Ihre programmatische Devise war einfach, aber nicht platt: „Auflösung, Überarbeitung, verfassunggebende Versammlung“. Sie brachte die antiparlamentarische Einstellung zum Ausdruck und kritisierte die Ineffizienz der Regierenden wie auch deren Korruption. Getreu seinem republikanischen Versprechen lehnte Boulanger jeden Versuch eines Staatsstreichs ab.
Der in der Stunde seiner Macht gefürchtete, später aber in Vergessenheit geratene und verachtete Pierre Poujade verkörperte den französischen Populismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er wurde bekannt durch seine Angriffe auf das parlamentarische System und den Kommunismus. Er vertrat die Interessen der kleinen Gewerbetreibenden. Der geschickte Taktiker und politische Autodidakt gründete keine politische Partei, sondern erklärte, das Regime durch eine Bürgerbewegung bekämpfen zu wollen. Überall in Frankreich fanden Versammlungen statt. Geschickt beutete man das Thema der nationalen Einheit aus. Es folgten direkte Aktionen, unter anderem gegen den Fiskus. Bei den Wahlen zur gesetzgebenden Versammlung 1956 errangen Poujades Anhänger 11,6 Prozent oder 2 483 000 Stimmen und 52 Mandate. Die poujadistische Welle überschwemmte ganz Frankreich.
Als General de Gaulle in einem politischen Handstreich 1958 an die Macht zurückkehrte, setzte er der in Misskredit geratenen Vierten Republik ein Ende. Seine Politik orientierte sich an drei Hauptgedanken: Mission, Unabhängigkeit und Stärke Frankreichs. Damit stand der Gaullismus für einen „klassenübergreifenden“ Willen, die Einheit des französischen Volkes und die Verteidigung der Staatsautorität. Der Gaullismus entzieht sich einer Einordnung nicht nur wegen der außergewöhnlichen Persönlichkeit seines Gründers, sondern auch wegen des populistischen Tenors der Bewegung: Kritik an den politischen Parteien, ein paternalistischer, auf Partizipation ausgerichteten ökonomischen Diskurs und Begeisterung für die Nation.
Fußnote: 1 Bill Clinton und Al Gore, „Weil es um die Menschen geht“, Düsseldorf 1993.