14.11.2003

Wissen, wie man Kathedralen baut

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Wissen, wie man Kathedralen baut

Der mexikanische Autor und Diplomat stellt grundsätzliche Überlegungen zu einem wünschenswerten europäisch-lateinamerikanischen Verhältnis an und entwickelt eine neue Sichtweise auf die spanische Conquista.

Von CARLOS FUENTES *

IN seinem großartigen Buch „Europa al alba del milenio“ verglich Enrique Barón1 , Abgeordneter der spanischen Sozialisten im Europäischen Parlament, den Bau Europas mit dem einer Kathedrale, dem Emblem der europäischen Zivilisation. Dass der Bau einer Kathedrale Jahrhunderte dauern kann, wissen wir Mexikaner aus eigener Erfahrung. Die Kathedrale auf dem Zócalo, dem zentralen Platz von Mexiko-Stadt, wurde 1573 begonnen und 1813 fertig gestellt. Auch politische Gebäude brauchen ihre Zeit, und Europa ist seit dem Untergang des Imperium Romanum im Werden.

Der Verlust der Einheit Roms sprengte Europa, und die politische Einheit, die das Karolingerreich für einige Zeit verkörperte, konnte sich nicht gegen die einzige wirkliche Einheit des Mittelalters durchsetzen: das Christentum. Doch gerade aus den Konflikten zwischen weltlicher und geistlicher Macht – wie dem zwischen Kaiser Heinrich IV. und Papst Gregor VII. – entwickelte sich die europäische Demokratie.

Der Westen konnte so das Verhängnis der aufeinander folgenden russischen Staaten vermeiden: die cäsaro-papistische Autokratie, die Verquickung von weltlicher und geistlicher Macht, die ihre Fortsetzung bei Lenin fand in der Vermischung von Partei und Staat.

Der Konflikt zwischen weltlicher und geistlicher Macht, der in Europa als Investiturstreit ausgetragen wurde, ermöglichte dagegen die Entstehung nationaler Rechtssysteme, in denen alle politischen Akteure den staatlichen Gesetzen unterworfen waren. Über diese legale Verfassung von Staat und Nation konnte Europa das Völkerrecht entwickeln.

Vor fünf Jahrhunderten erfuhr die Welt eine gewaltige Expansion – aus der Scheibe wurde eine Kugel, die Sonne verdrängte die Erde aus einem illusorischen Zentrum. Das Verständnis dieser Veränderung führte zu einem stärkeren Zusammenwachsen der Welt. So wurde das Europa des 16. Jahrhunderts zum Pionier einer ersten Globalisierung, deren Probleme sich nicht allzu sehr von denen der Globalisierung unserer Epoche unterscheiden.

Was Europa im Zuge der ersten Globalisierung versucht hat, war das Gleiche, was die in den Straßen von Seattle, Prag und Genf so vehement bekämpfte Globalisierung von heute benötigt: eine neue Rechtsordnung für eine neue Realität. Das Europa der Renaissance „erfand“ das Völkerrecht. Die von dem Holländer Hugo Grotius (1583–1645) formulierten Grundsätze für das Zusammenleben der Staaten2 fußten unter anderem auf dem Denken der Spanier Francisco de Vitoria (1485–1546) und Francisco Suárez (1548–1617), die nicht nur die Umgangsformen der zivilisierten Nationen untereinander, sondern auch das Recht der autochthonen Völker normativ verankerten.

Zu jener Zeit wurde das Schicksal Europas und Amerikas – und zumal Spaniens und Lateinamerikas – auf der Ebene von Politik und Rechtswesen zusammengeführt. Vitoria erkennt den Indios den gleichen Status als Rechtspersonen zu wie den Bewohnern von Sevilla und begründet das internationale Recht aus der Universalität der Menschenrechte. Auf denselben Grundsatz beruft sich heute der spanische Untersuchungsrichter Baltasar Garzón, wenn er verhindern will, dass Augusto Pinochet und seine Spießgesellen straffrei bleiben.

Die zahllosen Übel des Kolonialismus werden niemals die juristischen Segnungen des Jus Gentium verdunkeln können, das, obgleich tausendfach verhöhnt, einen Rahmen der Menschlichkeit und der Gesetzmäßigkeit geschaffen hat, auf den viele indigene Völker Amerikas sich noch heute berufen.

Mit ihrer Unabhängigkeit und dem Verlust ihrer Bindungen an Europa gelangten die Länder Lateinamerikas oft nur unter den Einfluss der neuen Hegemonialmacht des eigenen Kontinents: der Vereinigten Staaten von Amerika. Nachdem nun aktuell im Umfeld von George W. Bush die finstersten Gestalten des Imperialismus der 1970er- und 1980er-Jahre wieder aus der Versenkung aufgetaucht sind, ist es für uns ein dringendes Gebot, nach neuen Beziehungen, neuen Bündnispartnern und neuen politischen Spielräumen zu suchen. Wo anders könnten wir sie finden als in Europa und mit Europa? Zumal außerhalb Europas keine Region Europa ähnlicher ist als Lateinamerika!

Wir Lateinamerikaner sind mit der Schicksalhaftigkeit der Geografie wahrlich vertraut. Es wäre aber kleinmütig und feige, davor zu kapitulieren. Mit den Nordamerikanern müssen wir leben, doch das erfordert, dass wir mit Geschick und Würde mit ihnen verhandeln.

Mit den Europäern gibt es keine solchen fatalen Konflikte und Spannungen, hier besteht die Chance, auf vernünftige Weise zusammenzuarbeiten und auch etwas zu lernen. Wir müssen auf Europa schauen, denn die dort vorherrschenden Wirtschaftsmodelle sind dem vermeintlich universalen Modell überlegen, das Lateinamerika nur eingeengt hat. Von Europa lernen wir, dass die Vorstellung, der Reichtum breite sich automatisch von oben nach unten aus – von Bush senior in seiner Amtszeit noch als ökonomischer Voodoo-Glauben angeprangert – keinesfalls der kapitalistischen Weisheit letzter Schluss ist.

Den wilden Kapitalismus haben wir in Lateinamerika bereits im 19. Jahrhundert praktiziert. Wir wissen, dass er die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer macht und dass er zu keiner grundlegenden Steigerung der Produktivität führt. Darum brauchen wir eine stärker am Vorbild der EU orientierte Wirtschaft, die eine soziale Komponente aufweist – wie Mitbestimmung der Arbeiterschaft und kollektive Tarifverhandlungen – und auf der Überzeugung beruht, dass Gesellschaften ohne eine enge Relation zwischen Beschäftigung, Lohn und Produktivität ungerecht sind und auf lange Sicht die Menschen arm machen.

Lateinamerika braucht einen Ausgleich zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor. Dies kann nur die Zivilgesellschaft mit ihren Organisationen leisten. Auch hier bietet uns Europa die Alternative zu den engstirnigen und egoistischen Modellen des Ultraliberalismus. Europa soll uns eine Anregung zur Vielfalt sein und uns daran erinnern, dass Marktwirtschaft kein Selbstzweck ist, sondern ein Mittel zur Erlangung sozialen und individuellen Wohlstands. Denn wenn der Markt zum Feind der Völker wird, wie der frühere französische Ministerpräsident Lionel Jospin einmal meinte, werden die Völker zu Feinden des Marktes.

Wir sind die Erben der besten Seiten Europas. Wir sind das Beste von Europa außerhalb Europas. Die europäische Zivilisation hat, um meinen Freund Massimo d’Alema, den früheren Premierminister Italiens, zu zitieren, „eine auf der Basis von Nationalstaaten, Institutionen, Parteien und Normen gegründete politische Welt geschaffen. Und eine aus Kultur und Kunst, Intelligenz und Talent genährte moralische Welt.

Diese Mischung hat Europa einzigartig gemacht und es trotz tiefer Verletzungen – der zwei Bruderkriege und der Tragödie des Holocaust –, die sich ihm in die Seele gebrannt haben, zu einer Wiedergeburt befähigt.“ Unser Europa ist das Europa, von dem d’Alema spricht.

Darum tut es uns in der Seele weh, wenn in Europa die Kräfte der Fremdenfeindlichkeit, des Chauvinismus, des Rassismus, des Antisemitismus, des Antiarabismus, des religiösen Fanatismus, des faschistoiden Nationalismus und der Stigmatisierung von Arbeitsmigranten – nicht zuletzt auch von denen aus Lateinamerika – immer stärker werden.

Was tut ein lateinamerikanischer Arbeiter in Europa anderes, als viel zu geben, ohne etwas zu nehmen? Was tut er anderes, als dem alten, imperialen Europa eine Eroberung „heimzuzahlen“, um die Amerika nicht gebeten hat, unter der es gelitten und von der es – letztlich – auch profitiert hat? Dieses eroberte Lateinamerika bringt Europa und seiner überalterten Gesellschaft heute seine Arbeit, seine Kultur und seine Menschen. Es bringt genau das, was Europa einst Lateinamerika gebracht hat: Mestizisierung. Die Begegnung von Rassen und Kulturen.

Als Bündnispartner in einer globalisierten Welt müssen Europa und Lateinamerika ein Beispiel setzen: Die freie Zirkulation von Kapital und Waren ist nicht alles. Die Globalisierung ist ihren Namen nicht wert, wenn sie nicht auch den ungehinderten Verkehr der Menschen einschließt und die Arbeitsteilung über Grenzen hinweg, die denen, die sie anbieten, gleichermaßen zugute kommt wie denen, die sie annehmen.

Erinnern wir uns, dass Europa nach den Worten von Jacques Derrida das ist, was im Namen Europas versprochen wurde. Dazu aber muss Europa die Dämonen des Kalten Krieges bannen und sich mehr nach außen öffnen, sich einer Welt zuwenden, die Europa nicht als Verwalter der Relikte kolonialer oder faschistischer Politik sehen möchte, sondern als Träger gemeinsamer Verantwortung für wirtschaftliche Zusammenarbeit, kulturellen Austausch und die Schaffung einer Rechtsordnung für das neue Jahrtausend.

deutsch von Christian Hansen

* Auf Deutsch erschienen zuletzt „Das gläserne Siegel“ (2002) und „Die Jahre mit Laura Diaz“ (2000), beide München (DVA).

Fußnoten: l Enrique Barón, „Investition in die Zukunft“, (Europa Union/VVA). Siehe auch die Publikationen: Enrique Barón-Crespo/Joost P. van Jersel, „1948–1988. 40 Jahre Europäische Bewegung“, Rede auf dem Europa-Kongress in Den Haag, 5.–8. Mai 1988 (Europa Union/VVA); Enrique Crespo-Barón/D. Coombes/V. Constantinesco, „Das Europäische Parlament im dynamischen Integrationprozess: Auf der Suche nach einem zeitgemäßen Leitbild“ (Europa Union/VVA). 2 Grotius gilt als „Vater des Völkerrechts“; sein Hauptwerk war „De iure belli ac pacis“.

Le Monde diplomatique vom 14.11.2003, von CARLOS FUENTES