Europas Politik-Ersatz
In Rom wurde am 29. Oktober in einem feierlichen Akt der 349 Seiten starke EU-Verfassungsvertrag unterzeichnet. Der vom Europäischen Konvent ausgearbeitete Text enthält zwar einen Grundrechteteil und einen Kodex neoliberaler Wirtschaftsprinzipien. Doch eine wirkliche „Verfassung“ ist er nicht, weil es noch keinen „europäischen Souverän“ gibt.
Von ANNE-CÉCILE ROBERT
DER so genannte EU-Verfassungsvertrag ist ein Regelwerk von außerordentlicher Bedeutung. Doch es handelt sich um einen begrifflichen Bastard. Denn eine Verfassung ist eigentlich eine „innere“ Sache des Staatsrechts. Sie bezieht sich also nicht auf internationales Recht, dessen bewährtes Instrument der Vertrag ist. Eine Verfassung ist der feierliche Gründungsakt, durch den eine politische Gemeinschaft – ein Volk respektive eine Nation – ihre Werte definiert und das Verfahren seiner Rechtssetzung regelt, insbesondere hinsichtlich der Gesetze, denen sie sich unterwirft.1
Die Verfassung ist also eine konkrete Äußerungsform der Demokratie. Von einer europäischen Verfassung zu sprechen würde folglich bedeuten, dass sich alle 25 Mitgliedsstaaten und deren Völker als eine Schicksalsgemeinschaft definieren, die auf dem allgemeinen Wahlrecht beruht. Das aber ist in keiner Weise der Fall.
In den fünfzig Jahren seiner Existenz ist das institutionelle System der Europäischen Union mit seinen immer neuen und umgearbeiteten Verträgen unerhört kompliziert geworden. Aber deshalb braucht Europa noch lange keine Verfassung: Zur Abklärung der Texte würde ein klassischer Vertrag durchaus genügen.2 Doch während ein Vertrag nützliche juristische Präzisierungen leisten kann, suggeriert das Wort Verfassung eine ganz andere Bedeutung.
Schon seit dem Haager Kongress von 1948 strebt die Mehrzahl der Föderalisten eine europäische Verfassung an.3 Doch diese Idee stand in einem zu krassen Widerspruch zum Prinzip der Souveränität der Mitgliedsstaaten und kam deshalb nie zum Zuge. Sowohl die Europäische Gemeinschaft als auch die Europäische Union sind trotz ihres hohen Integrationsgrades internationale Organisationen geblieben.4 Den weiter gehenden Wünschen der Föderalisten kann dieser „Verfassungsvertrag“ – jenseits seiner aufgeladenen Symbolik – in keiner Weise gerecht werden.
Obwohl sich mehrere der 460 Artikel unumwunden auf „die Verfassung“ beziehen, ohne dass das Wort „Vertrag“ noch vorkäme, und obwohl der Text, wie alle Verfassungen, eine „Charta der Grundrechte“ enthält und die Rolle der EU-Institutionen präzisiert, ist er doch keine Verfassung. Denn obwohl er im Namen „der Bürger und der Staaten Europas“ abgefasst wurde, bleibt er vor allem ein Abkommen zwischen den Staaten, die der Union bestimmte Kompetenzen „übertragen“. Im Vergleich dazu stellt sich die Bundesverfassung der Vereinigten Staaten von Amerika als ein souveräner Akt des „Volkes der Vereinigten Staaten“ dar („We the people of the United States … “), dem die Bevölkerung aller Einzelstaaten zugestimmt hat.
Gesucht: die europäische Nation
NOCH wichtiger ist ein anderer Unterschied: Der EU-„Verfassungsvertrag“ gesteht den Mitgliedsstaaten ein Austrittsrecht zu. Da ein solches Recht im Rahmen einer Verfassung undenkbar ist, wird damit das Prinzip untermauert, dass „die Mitgliedsstaaten die Träger der konstitutiven Verträge“ sind.5 Anders in den USA, wo bekanntlich die Sezession einiger Einzelstaaten 1861 zum Bürgerkrieg führte, der mit dem Sieg der „Union“, also der föderativen Kräfte, endete.6
Im Übrigen verfügt die Europäische Union nicht über die traditionellen Kompetenzen eines Bundesstaates: Die Außenpolitik und die Möglichkeit der Kriegführung verbleiben in den Händen der Mitgliedsstaaten, die durch ihr Veto einen Beschluss der Union verhindern können. Diese behalten auch das Recht, internationale Verträge abzuschließen, wovon nur die Materie der Handelsbeziehungen ausgenommen ist. Eine weitere Ausnahme stellt die Währungsunion dar, die aber nicht alle EU-Mitglieder umfasst und deshalb auch über keine entsprechenden politischen Kompetenzen verfügt.7
Nach Form und Inhalt ist der Vertrag also nur scheinbar eine Verfassung. Doch handelt es sich nicht nur um ein „internes Reglement“.8 Auch die Bestimmungen eines Vertrags sind für die europäischen und die nationalen Institutionen verbindlich, wie zum Beispiel das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg beweist, das Deutschland und Frankreich wegen der Nichteinhaltung der Maastrichter Stabilitätskriterien verurteilt hat.
Auf der anderen Seite enthält der Text, der sich Verfassungsvertrag nennt, in der Tat Bestimmungen, die eigentlich nicht in eine Verfassung hineingehören. Über die übliche Definition der Grundrechte hinaus schreibt er politische Grundsatzhaltungen vor, die auf die Errichtung einer „sozialen Marktwirtschaft“ auf der Basis eines „freien und unverfälschten Wettbewerbs“ zielen. Die Hauptaufgabe einer Verfassung aber besteht darin, Regeln für die Organisation der Staatsgewalt vorzugeben, während die Richtung der konkreten Politik durch das Votum der Wähler bestimmt werden soll. Der Rückgriff auf einen „verfassungstiftenden Vertrag“ läuft auf den Versuch hinaus, die Volkssouveränität kurzzuschließen und in einem feierlichen Akt den wirtschaftlichen Neoliberalismus als politische Grundnorm zu etablieren.
Die Folgen könnten fatal sein. Im allgemeinen Sprachgebrauch dürfte das Zusatzwort „-vertrag“ verschwinden und der Begriff „Verfassung“ übrig bleiben, ohne dass in einem Europa mit 25 oder mehr Mitgliedsstaaten praktisch noch die Möglichkeit bestünde, ein solches Dokument zu ändern. Yves Salesse, Präsident der liberalismuskritischen Fondation Copernic, warnt: „Wir dürfen […] den Missbrauch des Verfassungsbegriffs nicht auf die leichte Schulter nehmen. […] Wir sind aufgefordert, klar zu sagen, ob wir wollen, dass dieser Text für die kommende Epoche die Grundfeste Europas bildet.“9
Hier wird deutlich, welche Gewalt der Demokratie angetan wird, indem man der EU eine Verfassung über den Hebel eines Vertrags aufnötigt. Internationale Abkommen werden auf dem üblichen diplomatischen Wege auf Regierungsebene ausgehandelt und durch das Parlament ratifiziert. Die Annahme einer Verfassung dagegen beruht immer auf der Souveränität des Volkes, entweder direkt, per Referendum, wie es insbesondere der französischen Tradition entspricht, oder mittels eines außergewöhnlich verbindlichen parlamentarischen Verfahrens, etwa mittels einer gewählten „verfassunggebenden Versammlung“ oder einer feierlichen Sondersitzung des Parlaments.
Der Konvent zur Zukunft Europas wurde nicht selten mit einer verfassunggebenden Versammlung verglichen. Sein Vorbild war natürlich der Konvent von Philadelphia, der 1787 die Verfassung der Vereinigten Staaten ins Leben rief. Doch obwohl der Europäische Konvent unter Vorsitz von Valéry Giscard d’Estaing ein Verfahren konstituiert hat, nach dem man einen Vertrag jenseits diplomatischer Verhandlungen ausarbeiten kann, hinkt der Vergleich aus mehreren Gründen. Eine konstituierende Versammlung geht nämlich normalerweise direkt aus dem Volk hervor.
Das konstitutionelle System ist ein Kind der Aufklärung und sollte ursprünglich die Willkür der Königsmacht bekämpfen. Mit einer Verfassung schafft sich ein Volk das Instrument, seine Obrigkeiten zu kontrollieren und seine Freiheit zu schützen. Dieser seiner „originären“ Macht darf man das Volk nicht berauben. Die Ausschaltung des allgemeinen freien Wahlrechts, das im 18. Jahrhundert noch kaum verbreitet war, ist heute durch nichts mehr zu rechtfertigen. Der Europäische Konvent indes hatte nur eine ganz lose Rückbindung an die Bevölkerung. Er bestand aus ernannten Mitgliedern, also Repräsentanten der Regierungen, Mitgliedern der Europäischen Kommission und gewählten Vertretern des Europaparlaments sowie der nationalen Parlamente.
Auch die zehn am 1. Mai 2004 in die Union aufgenommenen neuen Mitgliedsländer – aber auch die Türkei, Rumänien und Bulgarien als Länder mit offiziellem Kandidatenstatus – waren zur Beteiligung an den Diskussionen eingeladen. Insgesamt handelte es sich also eher um ein Konglomerat ganz unterschiedlicher Repräsentanten als um eine repräsentative Versammlung. Und schließlich hatte dieser Konvent nur das Vorschlagsrecht für einen Text, der von einer klassischen Regierungskonferenz noch modifiziert werden konnte, wovon diese allerdings nur eingeschränkt Gebrauch machte. Bislang haben nur elf Länder ein Referendum zur Ratifizierung des auf unbegrenzte Zeit geschlossenen Verfassungsvertrags angekündigt.
Um einen wirklich konstituierenden Prozess in Gang zu bringen, müsste es ein europäisches Volk geben, das sich als Schicksalsgemeinschaft begreift. Doch ein solcher Wille zum Zusammenleben scheint, zumal im erweiterten Europa, noch in weiter Ferne zu liegen. Der Begriff eines gesamteuropäischen Interesses, das in offiziellen Reden und Regierungsverträgen immer gern beschworen wird, beschränkt sich hauptsächlich auf Handels- und Finanzangelegenheiten. Kein Wunder also, dass die im Verfassungsvertrag enthaltene Grundrechtecharta weniger hohe Standards aufstellt als die Sozialcharta des Europarats von 1961. Und mit blauäugigen Reden über die „große Familie Europa“ oder unverbindlichen Bekenntnissen zu einer europäischen Friedenspolitik lassen sich die Grundwerte einer neuen demokratischen Gemeinschaft noch nicht etablieren.
Einige bedeutende Juristen halten die Europäische Union für ein politisch und juristisch neuartiges Gebilde, das einen Verzicht auf herkömmliche Rechtskategorien erforderlich mache. Doch eine solche intellektuelle Offenheit darf nicht darauf hinauslaufen, das Prinzip der Demokratie auszusperren. Die Europäische Union, deren technokratisches und undurchsichtiges Funktionieren die demokratischen Prinzipien bereits reichlich strapaziert, darf nicht im Namen einer „aufgeklärten“ Expertenherrschaft an der heimlichen Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts mitwirken.
Der Mangel an Fantasie wäre also den Entscheidungsträgern der Europäischen Union selbst vorzuwerfen. Der belgische Jurist Renaud Dehousse, ein überzeugter Streiter für Europa, formuliert die entscheidende Frage umgekehrt: „Wenn die Europakonstruktion tatsächlich eine politische Innovation bedeutet, warum muss sie dann partout in die traditionelle Form einer Verfassung gegossen werden?“10 Die Demokratisierung der europäischen Institutionen kann auch im Rahmen eines Vertrags vorangetrieben werden; transnationale Solidarität muss nicht unbedingt in Form einer Föderation organisiert werden. Der Internationalismus ist ja keineswegs am Ende.
deutsch von Grete Osterwald