12.12.2003

Ein Hund namens Fidel

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Ein Hund namens Fidel

MUSIK ist in der Geschichte Brasiliens eng verknüpft mit den politischen Verhältnissen – mit dem Bossa nova begann Ende der 1950er-Jahre eine ästhetische Revolution, die weltweit begeisterte Anhänger fand. Es folgte in den Sechzigerjahren der Tropicalismo von Caetano Veloso und Gilberto Gil. Ebendiesen Gil hat Brasiliens frisch gebackener Präsident „Lula“ 2002 zum Kulturminister berufen. Heute spiegelt sich in den Liedern einer neuen Generation von Musikern wider, was sich viele für Brasiliens Zukunft erhoffen.

Von JACQUES DENIS *

„Brasilien hat seine Pubertät übersprungen. Von unserer kolonialen Elite haben wir nichts als Individualismus und Rentabilität eingetrichtert bekommen. Und jetzt windet sich meine Generation in Einzelkrämpfen, statt dass wir endlich gemeinsam kämpfen.“ Lenin heißt der Musiker, der sich diese Liedzeilen ausgedacht hat. Den Vornamen des Mittvierzigers aus Recife hat sein Vater ausgesucht, ein Kommunist aus dem Nordosten Brasiliens. Bei Lenin zu Hause hieß die Katze Rosa Luxemburg, der Hund Fidel, und Lenins Bruder heißt mit Vornamen Ernest Renan. Die Mutter war Anhängerin des spiritistischen Makumba-Kultes. Wie man sieht, hatte der Sozialismus in dieser Familie schon immer etwas Surreales und Tropisches. Lenin – der vor langer Zeit Biologie studiert hat – besinnt sich heute mehr denn je auf seine sozialistischen Wurzeln.

Wie sein berühmter Namensvetter hofft Lenin, dass sich endlich etwas bewegt in dieser Welt. Auf der CD „Falange Cannibal“1 feiert er Idole aus aller Welt, angefangen bei Jesus Christus bis hin zu Fidel Castro: „Fidel hat zwar viel falsch gemacht, aber er streut noch immer Sand in die gigantische, perfekt geölte Maschinerie. Einer muss das Untier doch herausfordern, und sei es mit einem kleinen Stock.“ Lenins Haare sind so lang wie seine Gedanken weitreichend. Er wünscht sich „eine neue Zivilisation, so schön wie ihr Traum von der Nation“, wie es in einem seiner Texte heißt. Doch möchte Lenin nicht als Sprachrohr eines kollektiven „guten“ Gewissens missverstanden werden. Wenn es nach ihm geht, dann sind die Mitglieder seiner Generation, auch wenn sie vereint kämpfen, weiterhin Individuen, die nicht in der Gruppe aufgehen. Musikalisch hat er einen Cocktail aus ländlichen Tänzen und rockigen Gitarrenriffs, aus Schellentrommeln und Samplern geschaffen – der neueste Sound in Lulas Brasilien.

Lenin ist nicht der erste und wird auch nicht der letzte Musiker Brasiliens sein, dessen Lieder den harten Alltag in diesem riesigen Land widerspiegeln. Ende der Sechzigerjahre entstand der Tropicalismo, eine Protestbewegung von Künstlern und Musikern gegen die Militärdiktatur. Der Tropicalismo setzte die samtene (ästhetische) Revolution des Bossa nova fort – und die war ihrerseits Tonspur eines „neuen“ Brasilien unter dem Präsidenten Kubitschek und seinem Architekten Oscar Niemeyer gewesen.

Gilberto Gil und Caetano Veloso waren die Galionsfiguren des Tropicalismo. Fast alle in dieser Clique stammten aus dem Bürgertum und hatten studiert. Gil ist heute Kulturminister in der Regierung von Luiz Ignacio „Lula“ da Silva, Veloso feiert in den Konzertsälen der Welt strahlende Triumphe. Doch rückblickend war wohl der weitgehend verkannte Tom Zé die wichtigste Figur der gesamten Bewegung, ihr eigentlicher Kern.

Seit vierzig Jahren arbeitet Tom Zé an seinem zwischen Tradition und postmoderner Abstraktion changierenden Stil. Er kam 1936 in Irara zur Welt, einem Dorf im Nordosten des Landes, „wo man damals noch lebte wie im 16. Jahrhundert“. Heute ist der freiheitsliebende Unruhestifter des Tropicalismo so etwas wie die heimliche Führungsfigur einer neuen Generation von Musikern, die ihre Kreativität abseits der ausgetretenen Pfade der Musikindustrie ausleben. Der offizielle Musikmarkt wird in Brasilien zu über 95 Prozent von den Konzernen beherrscht, die sich von mächtigen Medienunternehmen vertreten lassen.

Auf dem alternativen Musikmarkt findet man dagegen unzählige Eigenproduktionen, vom reinsten und härtesten Rap bis zur kompromisslosen Volksmusik. Das Prinzip der Selbstverwaltung wird hier genauso vertreten wie in einigen von der Arbeiterpartei PT regierten Kommunen. Die meisten dieser Musiker haben bei einem der wenigen unabhängigen Labels ihre Nischen gefunden: Nikita, Natasha, Rob Digital oder auch Trama – das wichtigste unter ihnen – sind Beispiele dafür. Die informellen Produktionsabläufe passen zu einer Szene, die eher auf den Konzertbühnen zu Hause ist als im Studio.

Silverio Pessoa, der sich auf den Unterarm „Forro“2 und auf die Schulter das Motiv einer Plattenhülle von Frank Zappa eintätowieren ließ, sieht Lenin, dem Musiker, zum Verwechseln ähnlich. Auch er mischt Genres und Epochen, um seinem Blick auf die Welt Ausdruck zu verleihen, der irgendwo zwischen technischer Innovation und Bearbeitungen volkstümlicher Klänge angesiedelt ist. Bevor Pessoa seine Laufbahn als Musiker begann, arbeitete er zehn Jahre lang als Lehrer und Sozialarbeiter bei den Landlosen Brasiliens. Kein Zweifel: Er hat sie nicht vergessen, und seine Maultrommel versteht sich als Echo der Leute, die weder ein Dach über dem Kopf noch eine politische Stimme haben, die sie repräsentiert.

Pessoa zögert auch nicht, Lula wegen erster Abstriche an seinen politischen Vorhaben anzugreifen – wie unlängst geschehen, als der charismatische Präsident der Linken bei Verhandlungen mit dem IWF einknickte und wichtigen Bildungsprogrammen den Hahn zudrehte. Pessoa wird gewiss nicht resignieren, doch ist für ihn klar, dass sich die Regierung für das eine oder andere Gesellschaftsmodell entscheiden muss: „Entweder schlägt sie die Richtung der europäischen Demokratien ein, selbst auf die Gefahr hin, daran zu scheitern wie Argentinien; oder sie besinnt sich auf ihre Wurzeln und verbündet sich mit allen gesellschaftlichen Akteuren – wie den Nichtregierungsorganisationen in den Favelas oder der Landlosenbewegung. Dieser zweite Weg führt nur über eine Einigung zwischen den Völkern Lateinamerikas, und wenn wir aufhören, uns von den USA bevormunden zu lassen.“

Auch musikalisch kämpft Pessoa, der ebenfalls aus dem Nordosten Brasiliens stammt, für einen dritten, radikalen Weg. Beschreibt er in seinen ersten beiden Platten3 noch den „Weg eines Mannes vom Land in die Stadt“, so beschreitet er mit seinem dritten Album den umgekehrten Weg: „Ein Städter, dem die neue brasilianische Regierung die Chance gibt, zu seinen Wurzeln zurückzukehren.“ Aber wird der Enkel von Bauern aus dem Sertão, der ärmsten Region Brasiliens, die seit über zwanzig Jahren an der großen Zuckerrohrkrise leidet, dort auch noch den Heiland und Karl Marx verehren?

Ein Pasolini der Tropen

VON Totonho kann man Letzteres mit Sicherheit behaupten. Ganz im Stil eines Pasolini der Tropen hat er seine erste Platte4 Fidel Castro, der heiligen Muttergottes und Jesus gewidmet. „Die brasilianische Musik hat sich verändert. Es geht heute nicht mehr nur um Unterhaltung. Wer früher politisch dachte und sang, stand im Abseits. Jetzt werden diese Leute über Brasiliens Grenzen hinaus bekannt.“ Der heute fast vierzigjährige Totonho stammt aus João Pessoa. In seinen Liedern erzählt er sein Leben: Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen, hat er schon als Kind als Wasserträger gearbeitet und verdiente sich später – neben seinem Studium am Konservatorium – seinen Lebensunterhalt als Metallarbeiter in São Paulo. Wenn es ihm schlecht ging, war das Musikmachen immer ein Trost.

Seit 1990 arbeitet Totonho in Rio für eine Nichtregierungsorganisation namens Ex-Cola. „Der Name spielt mit den Wörtern excludo für ausgeschlossen und escola für Schule. Anfangs haben wir uns um die verlorenen Kinder gekümmert, die Klebstoff schnüffeln. Inzwischen arbeiten wir mit Gewaltopfern und Gewalttätern. Den einen versuche ich zu vermitteln, wozu es Regeln auf der Welt gibt, den anderen zeige ich, wie sie über die Musik wieder einen Halt finden können.“

Auch Carlinhos Brown engagiert sich seit langem für soziale Projekte. Im November vergangenen Jahres hat ihn die Unesco für die Gründung der Vereinigung Pracatum Ação Social ausgezeichnet, eine Initiative, die sich für den Abbau sozialer Ungleichheit einsetzt. Sein Motto: „Wir Brasilianer müssen in unserem Land und auf unseren Straßen Ordnung schaffen.“

Brown ist unter den Stars des brasilianischen Pop ein gefragter Musiker. Er ist in einem Slum im Staat Bahia aufgewachsen und wurde vor allem dadurch bekannt, dass er das junge Trommlerensemble Timbalada als Produzent groß herausbrachte. In Candeal Pequeno, dem Viertel, in dem alles anfing, bevor Browns Projekte den Rahmen der Musik sprengten, gibt es seither kaum ein Kind, für das er nicht das große persönliche Vorbild wäre. „Ich sehe mich als Teil einer Kultur – nicht als einen Künstler, der durch Plattenverkäufe gewählt wird wie ein Politiker durch Stimmzettel. Ich versuche nicht, meiner Zeit einen Stempel aufzudrücken. Ich will nur etwas beitragen, zeigen, wie ich die Dinge sehe, und etwas tun, damit anderen das erspart bleibt, was meine Familie erdulden musste. Mir geht es darum, die Citoyenneté einzuüben und zu praktizieren. Und das geht gar nicht ohne den Respekt vor dem Mitmenschen. In unserer Gesellschaft gilt der einzelne Mensch zu wenig. Unsere Einstellung muss sich ändern. Wir sollten weniger arbeiten, anstatt immer mehr Geld verdienen zu wollen. Heutzutage lehnt man sich gegen die herrschenden Verhältnisse auf, indem man Gutes tut. Wir müssen uns um die Kranken und Alten kümmern, die einen Teil unserer Erinnerungen mit ins Grab nehmen, wenn sie uns verlassen. Die Gesellschaft kümmert das überhaupt nicht! Aber mir ist das wichtig.“

Für seine neueste Platte hat Carlinhos Brown die portugiesische Variante seines Namens gewählt: Carlito Marron.5 „Es geht darum, unser gemeinsames romanisches Erbe wieder zu entdecken“ und Verbindungen unter den Ländern des Südens zu knüpfen. Zusammen mit dem Dichter Arnaldo Antunès und der Sängerin Marisa Monte hat Brown das Album „Tribalistas“ herausgebracht – eine „Antibewegungs“-Platte, die seit einem Jahr die Sensation in Brasilien ist. Auch sie ist getragen von einer Woge der Hoffnung und der großen Erwartungen an die regierende Arbeiterpartei. „Manche Leute hätten gern, dass alles schneller geht und weiter. Aber man muss auch einmal sagen, dass Lula an sich schon einen Wandel in der Politik darstellt. Er ist ein Politiker, der viel Verantwortung trägt und sein Gewissen nicht aufgibt.“

Marisa Monte aus Rio ist nicht die Einzige, die von diesen Idealen geprägt wurde. Naçao Zumbi, Pedro Luis, DJ Dolores, O’Rappa, Cabruêra … Sie alle toben sich in den Funk-Schuppen der proletarischen Viertel von Rio aus, sind in der Electro-Avantgarde von São Paulo aktiv und erklären sich zu den legitimen Erben des quilombo6 . Die meisten stammen aus dem Nordosten und sind den uralten Pfaden der repentistes oder emboladores7 gefolgt. Recife, an der Nordostküste Brasiliens gelegen, war auch Ausgangspunkt der Mangue-Beat-Bewegung8 und ihres Idols Chico Science. Chico starb 1997 bei einem Unfall und ist seither eine Legende. Im Ghetto aufgewachsen, gehörte er zu den Ersten, die den Sound der Slums mit dem Erbe der großen Musiker und markigen Sprüchen überzeugend vermischten, um sich einem großen Thema zu widmen: der Beschreibung des Elends. „Chico Science folgte keinem bestimmten musikalischen Vorbild oder Stil. Wir erleben jeden Tag, wie wichtig und aktuell unsere Traditionen sind. Das Projekt in Recife lebt auch ohne Chico weiter.“ Auch der Geiger Siba, ein Mitglied des Ensembles Mestre Ambrosio, bringt seine Tradition dort zum Schwingen, „wo sie lebt“ – wo die Wurzeln jeder weisen und lebendigen Musik liegen, die den Menschen und ihren Sorgen verbunden bleibt.

deutsch von Herwig Engelmann

* Journalist

Fußnoten: 1 „Falange Cannibal“ (RCA/BMG, 2002) bezieht sich auf ein Künstlerkollektiv der Achtzigerjahre in Rio. 2 Der forro ist eine besonders im Nordosten beliebte Tanzmusik, die mit Geigen, Schlagzeug und Akkordeon gespielt wird. 3 „Bate o Manca“ (Natasha records/Import); „Batidas urbanas / Projeto Microbio do Frevo“ (Companhia Editora de Pernambuco /Import). 4 „E Os Cabras“ (Trama/Night&Day). 5 „E Carlito Marron“ (Ariola/BMG). 6 Aufständische schwarze Sklaven schufen seit dem 17. Jahrhundert im Norden Brasiliens panafrikanische, quilombo genannte Staatsgebilde und erklärten ihre Eienständigkeit. 7 Diese umherziehenden Sänger veranstalteten auf ihren Wanderungen dichterische Wettkämpfe, in denen Alltagssprache, allegorische Fabeln und heimische Legenden miteinander verschmolzen. Die Tradition wird im Nordosten bis heute sehr gepflegt – genau wie die cordel-Literatur, kleine bedruckte Zettel, die an Wäscheleinen gehängt werden. 8 Mangue beat, („Zonenklang“) war in den frühen Neunzigerjahren eine Alternativbewegung im Nordosten Brasiliens.

Le Monde diplomatique vom 12.12.2003, von JACQUES DENIS