12.12.2003

Reifenwechsel ohne anzuhalten

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Reifenwechsel ohne anzuhalten

VOR gut einem Jahr wurde der ehemalige Arbeiterführer Lula da Silva zum brasilianischen Präsidenten gewählt. Vor allem die Ärmsten der Armen sehen in ihm nach wie vor die große Hoffnung. Schließlich ist ihr Land, die immerhin elftgrößte Industrienation der Erde, in einer Hinsicht Weltspitze: Nirgendwo sonst sind die Güter derart ungleich verteilt, gibt es eine so tiefe Kluft zwischen den extrem Reichen und den Allerärmsten. Lula hat versprochen, gegen die Korruption vorzugehen, die Macht der oligarchischen Gruppen einzudämmen und für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Doch bei alledem will er sich zugleich an die Auflagen des Internationalen Währungsfonds halten.

Von GILLES DE STAAL *

Unmittelbar nach dem Wahlsieg von Luiz Inácio „Lula“ da Silva am 27. Oktober 2002 stand für die Anführer der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) fest, dass das Programm der neuen Regierung in zwei Etappen verwirklicht werden sollte. Dieses Programm beinhaltet eine Reihe ehrgeiziger Ziele, die als „neues Paradigma“ präsentiert werden: Bruch mit dem Neoliberalismus, Agrarreform, Selbstversorgung des Landes mit Nahrungsmitteln, staatliche Investitionslenkung, soziale Integration und partizipative Demokratie.

Während der „Übergangsphase“, die so lange dauern soll wie das laufende Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF)1 , wollte man es noch bei der bisherigen Wirtschaftspolitik belassen. Ein radikaler Sparkurs im Verein mit einer Reform des Steuer- und Pensionssystems sollten dem Land so viel wirtschaftliche Bewegungsfreiheit verschaffen, dass es bald selbstständig über die weitere Entwicklung entscheiden könne. „Unsere Amtszeit dauert vier Jahre“, erklärte damals der PT-Vorsitzende José Genoino. „Die Herausforderung besteht darin, das Haus aufzuräumen, während wir gleichzeitig darin leben, die Reifen zu wechseln, ohne das Auto anzuhalten.“

Ein Jahr später hat sich der Risikoindex des Landes wieder normalisiert, die Handelsbilanz weist Überschüsse wie vor fünfzehn Jahren aus, der Dollarkurs hat sich bei unter drei Real eingependelt, die Konsumnachfrage steigt, die internationalen Partner haben wieder Vertrauen gefasst, der Leitzins ist seit August um zehn Punkte gesunken, IWF und Weltbank zeigen sich zufrieden. Am 18. März veröffentlichte die Regierung eine Absichtserklärung an den IWF, in der sie unter anderem bekräftigte, sie werde die Staatsbanken wie geplant privatisieren und die Unabhängigkeit der Zentralbank garantieren.2 Das alles klingt ganz wie die gewohnte neoliberale Wirtschaftspolitik. Und so beginnt sich angesichts der Tatsache, dass in Brasilien noch immer schätzungsweise 50 Millionen Menschen in extremer Armut leben, allmählich der Protest innerhalb der sozialen Bewegungen des Landes zu regen. Schon sind auch einige PT-Mitglieder aus der Partei ausgetreten. Und dennoch sind die Hoffnungen, die die Bevölkerung in die Regierung Lula setzt, offenbar ziemlich ungebrochen.

Im Rahmen der „Übergangsphase“ geht es aber um weit mehr als nur um makroökonomische Anpassung. Am deutlichsten ist die Veränderung im Verhältnis zwischen Gesellschaft und staatlicher Macht. Zugleich aber haben sich die gesellschaftlichen Kräfte in vier wichtigen institutionellen Fragen polarisiert: Welche Kompetenzen sollen die Kommunen haben? Wie sollen die Befugnisse der Justiz, wie die Machtbefugnisse und die Organisation der Polizei gefasst werden? Und wie soll ein neues Bodenrecht aussehen?

Dass nirgends in der Welt die Konzentration von Reichtum und Einkommen so hoch ist wie in Brasilien und nirgends die Schere zwischen Arm und Reich so weit auseinander klafft, liegt allerdings nicht nur an der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Der Ökonom Cesar Benjamin argumentiert, dies sei das Resultat einer langen Entwicklung, die vor allem mit der Konzentration des Grundeigentums in ganz wenigen Händen zu tun hat.

Aufgrund der Monopolisierung des Reichtums durch eine kleine Oberschicht entwickelt sich der Binnenmarkt nur in ganz begrenzten Segmenten, während drei Fünftel der Bevölkerung praktisch herausfallen. Die reichsten 5 Prozent der Brasilianer mehren ihren Reichtum exponentiell, sodass das Wirtschaftswachstum insgesamt von der Prosperität weniger kleiner Gruppen abhängt. Die brasilianische Gesellschaft insgesamt ist durch diese monopolistische und elitäre Struktur geprägt, deren innere Logik der Neoliberalismus lediglich auf die Spitze treibt.

Auch der brasilianische Staat ist, als Nachfolger der „Republik der Grundbesitzer“, zugleich Spiegel und Instrument dieser Elitenkultur. Durch den Föderalismus parzelliert, zerfällt der Staat in (wörtlich so genannte) Autarkien, die weitgehend autonom sind, und zwar auf der Ebene von Legislative, Exekutive und Judikative wie auch des Bankwesens. Dank ihres korporativen Aufbaus werden diese Gebietseinheiten vollständig von der regionalen Oligarchie vereinnahmt, die Land und Reichtum unter sich aufteilen, ihre jeweilige Klientel protegieren und damit die politische Geografie des Landes bestimmen.

Die hohe Reichtumskonzentration spiegelt sich nicht zuletzt darin wider, dass der Staat selbst 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verbraucht. Dass wiederum 40 Prozent des staatlichen Budgets direkt in die Taschen der politischen Eliten fließt, ist nach brasilianischen Maßstäben eher die „normale“ Funktionsweise des Systems als seine Korrumpierung. Wie auch immer ein Umbau des Staats hin zu einem neuen Wirtschaftsmodell also aussehen mag, er erfordert tiefgreifende Veränderungen in den Institutionen und Usancen der Staatsgewalt. Anders ist eine Demokratisierung Brasiliens nicht zu haben.

Zum Teil deckt sich der Staatsapparat mit quasifeudal organisierten Klientelgruppen – vielfach einzelne Familien –, die ganze Bundesstaaten, Städte oder Monopolbranchen beherrschen, die Gemeingüter zu ihrem privaten Profit ausschlachten und sich ihre Unterstützung der Bundesregierung – oder auch ihre Opposition – bar bezahlen lassen. Nach mir die Sintflut, lautet ihre Devise. Und so veruntreuen sie öffentliche Mittel, transferieren Schwarzgeld, mischen im internationalen Drogenhandel mit und tragen damit zum gesellschaftlichen Zerfall und zur Brutalisierung der sozialen Beziehungen bei. Damit werden die politischen Eliten, die Grund und Boden, Finanzen und Justiz kontrollieren, immer mehr zu natürlichen Partnern des organisierten Verbrechens.

In New York fand die brasilianische Bundespolizei heraus, dass zwischen 1996 und 1999 nicht weniger als 41 Milliarden Dollar (eine höhere Summe als der jüngste IWF-Kredit an Brasilien) über die Hausbank des brasilianischen Bundesstaats Parana (Banco Banestado) außer Landes geschafft wurden. In Rio de Janeiro ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Steuerhinterziehung in Höhe von 30 Millionen Dollar gegen die Familie des Exgouverneurs Antonio Garontinho, die ihre Geschäftsbeziehungen gern durch eheliche Bindungen absichert. Das Geld liegt auf einem Zürcher Konto, die Schweizer Regierung hat es inzwischen eingefroren. Im Bundesstaat Espirito Santo griff nach der Ermordung eines Richters die Bundesjustiz ein und ließ den Parlamentspräsidenten verhaften, wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung in der Abgeordnetenkammer. Und auch dem Gouverneur von Bahia, Antonio Carlos Magalhaes – Patriarch, Senator, ehemaliger Minister, Präsident von TV Globo-Bahia und Graue Eminenz der Rechtspartei PFL – droht die Amtsenthebung.

Gesetze reichen beileibe nicht aus, um die Macht der lokalen Oligarchie zu brechen, die Institutionen und öffentlichen Gelder demokratischer Kontrolle zu unterstellen und die Res Publica wieder mit Sinn zu füllen. Und es reicht auch nicht aus, wenn die sozialen Bewegungen eine kritische Öffentlichkeit mobilisieren und gegen Willkür, Amtsmissbrauch und die Verbrechen der Feudalherren protestieren. Die Mobilisierung muss sich in öffentliche Macht übersetzen, die der demokratischen Autorität der Regierung ebenso Geltung verschafft wie den Menschenrechten.

Nun zählt Brasilien zwar 700 000 Zivil- und Militärpolizisten, doch die Regierung hat nur die 7 000 Mitglieder der Bundespolizei unter ihrem Kommando. Die übrigen Uniformierten unterstehen den Bundesstaaten, mit anderen Worten: der örtlichen Politoligarchie, von deren Wohlwollen die Karriere jedes einzelnen Polizisten abhängt. Auch das Justizwesen fällt in die Zuständigkeit der Bundesstaaten, die fast alle Staatsanwälte und Richter ernennen und die Gefängnisse kontrollieren.

Mit dem Programm „Einheitliches System der öffentlichen Sicherheit“ (Susp) hat das Justizministerium erste Schritte zu einer Reform der staatlichen Sicherheitskräfte unternommen. Die strebt eine personelle Verstärkung der Bundespolizei wie auch die Ausweitung ihrer Befugnisse an, vor allem aber will sie mit der Zeit alle Polizeikräfte dadurch zusammenfassen, dass die Zentralregierung für deren Ausbildung, Organisation und Einsatz zuständig wird. Überdies sollen künftig unabhängige Institutionen die Aktivitäten der Sicherheitskräfte überwachen.

Als Folge des verkommenen Berufsethos und der klientelistischen Zersplitterung der Polizeikräfte machen sich in allen Großstädten des Landes die organisierte Gewalt und das Bandenwesen breit. Jahr für Jahr verzeichnet die Statistik zehntausende von Mord- und Totschlagsdelikten; die Opfer sind dabei vor allem Menschen aus den ärmeren und mittleren Schichten.

Seit März 2003 wird Rio de Janeiro von einer spektakulären Welle der Gewalt heimgesucht. Die Drahtzieher sind höchstwahrscheinlich in Kreisen der örtlichen Oligarchie zu suchen. Denen passt es nicht, dass die Regierung „Lula“ beschlossen hat, schärfer gegen die Korruption vorzugehen und die Staatsausgaben strenger zu überwachen. Sollte es der Regierung nicht gelingen, die Polizeikräfte unter ihre Kontrolle zu bekommen und den Sicherheitsbedürfnissen der Bevölkerung gerecht zu werden, droht eine weitere Eskalation der Gewalt.

Auch im Bereich der Justiz wird vieles umorganisiert, und auch hier setzen sich die etablierten Mächte zur Wehr. Auf Ersuchen von Menschenrechtsorganisationen haben die Vereinten Nationen daher eine offizielle Beobachterkommission entsandt, die ihren Bericht im September vorgelegt hat. Darin wird Brasilien in Sachen Willkür, Folter, Zustände in den Gefängnissen und standrechtliche Erschießungen auf eine Stufe mit Ländern wie Birma gestellt.

Für tausende von Auftragsmorden, die jedes Jahr ungeahndet bleiben, nennt der Bericht als Hauptverantwortliche Justiz und Polizei. Die UNO fordert daher eine Unersuchungskommission, die den brasilianischen Justizapparat unter die Lupe nehmen soll. „Lula“ und der Justizminister haben bereits ihr Einverständnis erklärt. Der Vorsitzende des Obersten Bundesgerichts jedoch forderte die Staatsanwaltschaften und Gerichte des Landes auf, den UN-Beauftragten jeden Zutritt zu verweigern. Und Anfang Oktober wurden – wie zur Demonstration – zwei Verbindungsleute der UN-Kommissarin am hellichten Tag ermordet.

Der Widerstand des Justizapparats zeigt sich erwartungsgemäß vor allem bei Fragen des Landbesitzes. So erklärte die Justiz die Enteignungsdekrete der Regierung für ungültig und warf die Führer der Landlosenbewegung MST (für Movimento dos Trabahadores Rurais Sem Terra) ins Gefängnis. Bei Verbrechen der Großgrundbesitzermilizen drückt die Justiz weiter beide Augen zu, bleibt also das Bollwerk der Großgrundbesitzer gegen die Regierung und den MST.

Der Kampf gegen die Macht der Oligarchie ist von der Frage des Grundeigentums nicht zu trennen. Wo sich privater Grundbesitz über die Fläche mehrerer französischer Kantone erstreckt, sind die Einwohner allererst dem Grundherrn verpflichtet. Eine Obergrenze für die maximal zulässige Latifundiengröße, die Ansiedlung von Landlosen auf frei werdenden Flächen und die genossenschaftliche Vernetzung landwirtschaftlicher Familienbetriebe, sprich eine wirkliche Landreform, ist auch das entscheidende Mittel im Kampf für die Demokratisierung der Gesellschaft und der lokalen Institutionen.

In den ländlichen Gebieten ist die Situation äußerst gespannt. 4 Millionen „landlose“ Familien warten auf die Zuteilung einer Parzelle.3 Zugleich verkünden die 27 000 Großgrundbesitzer, die über 15 000 Hektar und mehr verfügen, ihre Entschlossenheit, die Latifundienwirtschaft mit eigenen Milizen zu verteidigen. Im März gab der MST die Parole aus: „Nieder mit den Latifundien!“

Im August erklärte Präsident Da Silva die Agrarreform zum vorrangigen Ziel der Übergangsphase. Landbesetzungen sind an der Tagesordnung. Doch die institutionelle Anerkennung des MST, die Legalisierung der Landbesetzungen und die Kreditvergabe an Bauerngenossenschaften werden ergebnislos bleiben, wenn es der Regierung nicht gelingt, den staatlichen Gesetzen auch gegenüber der Lobby der Großgrundbesitzer Geltung zu verschaffen.

Die Arbeiterpartei (PT) hat jedenfalls nicht die Absicht, die Bevölkerung in ihrem Elan zu bremsen. „Wir spielen für niemanden Feuerwehr, weder für den MST noch für die Gewerkschaften noch für die Bürgerbewegungen“, präzisierte der PT-Vorsitzende José Genoino. „Ich rede mit den Leuten vom MST, mit Vertretern der Einheitsgewerkschaft CUT, mit den NGOs. Aber es kann nie unsere Aufgabe sein, einen Brand zu löschen.“ Er will keinen Konfrontationskurs, sondern versucht, den Widerstand gegen die Politik der Regierung einzudämmen, Gegner an den Verhandlungstisch zu bringen und den sozialen Bewegungen Anerkennung zu verschaffen.

Wie das Fazit am Ende der Übergangsphase ausfallen wird, hängt zum einen davon ab, ob die brasilianische Regierung in der Lage ist, die skizzierten Probleme zu lösen, und zum anderen von der wirtschaftlichen Entwicklung. Wenn die positiv verläuft, wird sich zeigen, ob ein neues, demokratisches Entwicklungsmodell jenseits des Neoliberalismus möglich ist – oder ob der Versuch, bei voller Fahrt einen Reifen zu wechseln, doch im Desaster endet.

deutsch von Bodo Schulze

* Journalist

Fußnoten: 1 Im Wahlkampf verpflichtete sich der spätere Wahlsieger Lula, die von seinem Vorgänger Fernando Henrique Cardoso unterzeichneten IWF-Abkommen zu respektieren, die Außenschulden in Höhe von 300 Milliarden Dollar zurückzuzahlen und das Strukturanpassungsprogramm fortzuführen. 2 Dazu http://www.imf.org/external/np/loi/2003/bra/01/index.htm. 3 Dazu Carla Ferreira, „Agrarreform gegen Arbeitslosigkeit“, Le Monde diplomatique, Oktober 2002.

Le Monde diplomatique vom 12.12.2003, von GILLES DE STAAL