12.12.2003

Präsident der Plünderer

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Präsident der Plünderer

DIE Präsidentschaftswahlen, die Mitte Dezember in Guinea-Conakry anstehen, lassen jetzt schon den Betrug vorausahnen. Das Land, das sich einst unter Sékou Touré als Gegenentwurf zum Neokolonialismus seiner Nachbarn und Vorbild für ganz Afrika darstellte, scheint gebannt in den Teufelskreis von wirtschaftlichen Krisen und autoritären Herrschaftsformen. Die Zukunft des Landes hängt von einem schwer kranken Präsidenten ab, der seine Macht nicht aufgeben will.

Von MICHEL GALY *

„Eure Geschichte ist 1958 stehen geblieben“, urteilt lapidar Mustapha Niasse, der frühere Staatspräsident des Senegal. Sein Befund scheint jede Analyse überflüssig zu machen und lässt klar erkennen, was die Intellektuellen Guineas zur Verzweiflung treibt. Als müsste dieses kleine westafrikanische Land bis heute dafür büßen, dass es 1958 aus der franko-afrikanischen Gemeinschaft ausgetreten ist und danach einige finstere Jahrzehnte lang dem Regime des 1984 verstorbenen Ahmed Sékou Touré ausgeliefert war.

Wer kann sich gegenwärtig noch vorstellen, dass Guinea in den 1960er- und 1970er-Jahren von den Dritte-Welt-Theoretikern als Musterland gepriesen wurde? Damals entwarfen engagierte Ökonomen für den „Genossen Sékou Touré“ Fünfjahrespläne, die an Stelle des neokolonialistischen „falschen Wachstums“ der Elfenbeinküste „echten Fortschritt“ setzen sollten. Damals auch hatte Félix Houphouët-Boigny, der Präsident der Elfenbeinküste, zu seinem Amtskollegen in Guinea gesagt: „In dreißig Jahren sehen wir uns wieder!“ Dreißig Jahre später klingen die alten Slogans schal: „Wir ziehen Freiheit in Armut einem Wohlstand in Knechtschaft vor“, hatte Sékou Touré in der flammenden Rede getönt, mit der er den Bruch mit Frankreich besiegelte. Es war die unfreiwillige Beschreibung der traurigen Zukunft, die seinem Land bevorstand. Begleitet vom revolutionären Getöse eines charismatischen Führers, der sich selbst gern als „Mann des Volkes“ sah, führte die Staats- und Parteiführung Guinea in eine blutige Diktatur und – trotz der Hilfe der Sowjetunion – in den Ruin.

Zwischen 1958 bis 1984 wurden die sieben Millionen Guineer durch fünfzehn vermeintliche Verschwörungen – der Stammeshäuptlinge, der Hexer, der Marabut1 , der katholischen Kirche, der Intellektuellen, der Franzosen, der Geschäftsleute, der Armee, der Emigranten, der Peul2 usw. – in Atem gehalten. 1970 scheiterte die einzige echte Verschwörung zum Sturz des Regimes. Auf die misslungene Invasion von Exilguineern, die sich dabei auf portugiesische Söldner stützten, folgte eine große Säuberungswelle in der Armee wie auch in Sékou Tourés Einheitspartei, der Parti démocratique de Guinée – Rassemblement démocratique africain (PDG-RDA). 5 000 Menschen wurden verhaftet, gefoltert und ermordet. Die Regierung ordnete dutzende öffentlicher Hinrichtungen an, um die Bevölkerung einzuschüchtern.

Streng am sowjetischen Vorbild orientiert, verkündete die staatliche Propaganda unverdrossen die Triumphe der Planwirtschaft. Der Ökonom Samir Amin meinte dazu schon Ende der 1960er-Jahre hellsichtig, damit werde eine „Wirtschaft der Bergbau-Enklaven“ glorifiziert. Er bemängelte den völlig unrealistischen Versuch, eine autarke Nahrungsmittelversorgung zu erreichen, und kritisierte den Mangel an Investitionen in Industrie und Infrastruktur.3

Als Sékou Touré 1984 unerwartet starb, „war die Mango reif“. Unter Führung des Generals Lansana Conté übernahm die Armee die Macht, während die Institutionen der Staatspartei wie ein Kartenhaus in sich zusammenfielen. Die Zweite Republik wurde begeistert begrüßt, doch die Mentalität der Menschen ließ sich nicht so leicht verändern wie die Organisationsstruktur des Staates. Die Öffnung blieb aus, und ausländische Unternehmen, die seit dem Regimewechsel verlustreich investiert hatten, wandten sich enttäuscht ab. Nach 1988 wurden ein paar Oppositionsparteien zugelassen, drei Jahre später alle Parteien durch die Verfassung der Dritten Republik legalisiert. Doch in Guinea entstand – wie in vielen anderen Ländern Afrikas – wieder nur ein System, das mit der hässlichen Wortschöpfung „Demokratur“ zutreffend beschrieben ist: regelmäßige Wahlen, die gleichwohl eine Farce sind; vielfältige, aber staatlich kontrollierte Medien; eine legale Opposition, die schikaniert wird; der Einsatz militärischer Gewalt gegen friedliche Demonstranten.4

Manchmal hat es den Anschein, als leide Guineas politische Führung unter Wiederholungszwang: Nach wie vor ist das Land außenpolitisch isoliert und innenpolitisch von einer Demokratisierung weit entfernt. Daran hat sich auch während der viel zu langen Herrschaft von Staatspräsident General Lansana Conté nichts geändert, der im Übrigen keinerlei charismatische Ausstrahlung hat. Alles deutet darauf hin, dass die für den 21. Dezember anberaumten Präsidentschaftswahlen genauso wenig demokratisch wie die vorhergehenden sein werden. Seit 1984 hat es keine Wahl gegeben, die anschließend nicht angefochten worden wäre. 1993 konnte sich Conté seinen Wahlsieg nur durch einen „konstitutionellen Staatsstreich“ sichern, indem er die Stimmauszählung in den Hochburgen der Opposition annullieren ließ. Die Investoren hielten damals ebenso still wie acht Jahre später: 2001 hätte Conté eigentlich abtreten müssen, weil die Verfassung für den Präsidenten nur zwei Amtszeiten vorsah. Doch nach dem Vorbild von General Gnassingbé Eyadema5 ließ er im November 2001 die Verfassung durch einen inszenierten Volksentscheid ändern, um sich noch einmal zur Wahl stellen zu können.

In Guinea beruhte die Ausübung staatlicher Macht schon immer maßgeblich auf symbolischer und physischer Gewalt.6 Vor dem Hintergrund eines drohenden Bürgerkriegs verunglimpfte der General kurz vor der Präsidentschaftswahl die Opposition mit Behauptungen wie: „Die Oppositionellen sind Ausländer“ und „von den Feinden Guineas entsandt“. Es ist daher in keiner Weise verwunderlich, dass der General auch Sätze wie diese von sich gibt: „Demokratie nach westlichem Vorbild? Was soll das sein?“ Womit er alle seine Gegner in Misskredit bringen will: die oppositionellen ethnischen Gruppen im eigenen Land, die Weißen, die Geschäftsleute und die Nachbarstaaten und Exilguineer.

Bestechungsgeld statt Zoll

DAS von Frankreich unterstützte Regime Lansana Contés – die diplomatischen Beziehungen zwischen Paris und Conakry wurden 1976 wieder aufgenommen – ist mitverantwortlich für die „Kriminalisierung der Eliten“.7 Dieses Phänomen verbreitet sich auch in anderen mit Frankreich befreundeten Ländern wie in Burkina Faso, Gabun oder Togo. Wobei das schlechte Beispiel der Eliten bei den Untertanen Schule machen soll. Nur so kann man jedenfalls den berühmten Zuruf „Wo Fatarah!“ („Gut gemacht“) verstehen, mit dem der guineische Staatspräsident und General den Mob anfeuerte, der während der Unruhen im Jahre 1985 die Häuser der Malinke plünderte.

Die Wirtschaft Guineas ist geprägt von Schieberei und Korruption. Die Schürfrechte für Bodenschätze gehen grundsätzlich an ausländische Konzerne – mit der paradoxen Folge, dass Guinea chronisch bankrott ist, obwohl das Land über zwei Drittel der weltweiten Bauxitvorkommen verfügt. Die ausländischen Großunternehmen zahlen keinen Zoll, sondern Bestechungsgelder. Aber selbst Soldaten und Polizisten erpressen ihre eigenen Landsleute. Seit drei Jahren belegt Guinea die letzte Stelle im Human Development Index der Vereinten Nationen; mehr als 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entfallen auf den informellen Sektor; in den Städten erreicht die Jugendarbeitslosigkeit nahezu 80 Prozent; die Inflation liegt bei über 30 Prozent. Obgleich die Staatskasse leer ist, hat die Regierung bereits die Vorschüsse für die Bergbautantieme der nächsten drei Jahre gemopst, indem der Präsidentenclan die Gelder – am Fiskurs vorbei – nach Gambia geschafft hat.8

Hinter dem Anschein eines alle Ethnien repräsentierenden Regimes verbirgt sich die konfliktreiche Geschichte der vier großen ethnisch-religiösen Gruppen: der Malinke (deren Vertreter Sékou Touré war), der Soussous (zu denen Lansana Conté gehört), der Peul (oder Fulbe, die in Siradiou Diallos „Union pour le progrès et le renouveau“ die Mehrheit stellen) und der Waldguineer (der „Union pour le progrès de la Guinée“ des hitzigen Jean-Marie Doré). Ohne dass es öffentlich thematisiert wird, sind sich die Parteiführer und ihre Gefolgschaft darüber im Klaren, dass man die Probleme Guineas nicht auf einen ethnischen Klientelismus reduzieren kann.

Um sich als Sammlungsbewegung aller Guineer zu profilieren, sind die Parteien bemüht, sich mit Vertretern der ethnischen Minderheiten zu schmücken, doch dadurch lässt sich niemand täuschen. Andererseits versuchen führende Figuren auch, ihre ethnischen Fesseln abzulegen. So wurde kürzlich in Kaloum, dem Soussou-Viertel von Conakry, dem Politiker Alpha Condé bei seinen Wahlkampfauftritten zugejubelt, weil er sich als Führer der gesamten Opposition präsentierte – und damit, wie viele Beobachter meinten, auch als der zukünftige Führer des Landes.

Ob und wie die Präsidentschaftswahlen auch stattfinden, die politische Lage in Guinea wird unsicher bleiben. Sollte Präsident Conté eines natürlichen Todes sterben, würde das vieles ändern; ein „medizinischer Staatsstreich“ à la Bourguiba scheint nicht ganz ausgeschlossen.9 Auch ein Militärputsch ist nicht unwahrscheinlich. Mancher hält ihn für die richtige Antwort auf die Probleme. Für andere, wie Alpha Conté, wäre das nur eine provisorische Lösung. Ebenso gespalten wie die Opposition und die Präsidentenpartei ist offenbar auch die Armee. Jenseits persönlicher Rivalitäten – etwa zwischen General Kerfalla Camara und seinem Namensvetter General Arafan Camara – gibt es in der Armee diverse, jeweils mit zivilen Politikern verbündete Klüngel, die miteinander rivalisieren und sich belauern, um nach dem Ausscheiden von Präsident Conté die Macht an sich zu reißen.

Doch kann man Leuten, die einer durch Pfründen und Privilegien korrumpierten Armee entstammen, tatsächlich glauben, dass sie mehr Demokratie wagen wollen? Hatte nicht schon 1984 ein friedlicher General namens Lansana Conté verkündet, mit ihm werde es neue Wahlen geben?

Angesichts der politischen Lage in der Region zwischen Liberia und Elfenbeinküste ist es erstaunlich, dass die fortschreitende „Segmentierung“ bislang nicht zu offenen ethnischen Konflikten geführt hat. Amadou Bano Barry, Soziologe an der Universität Conakry, hat dafür eine Erklärung: Die Regierung bemühe sich, Offiziere aus Ethnien, die als Unruhestifter gelten, „zu kooptieren oder am Rande zu integrieren“.10 Beim Gerangel um die Ressourcen des Landes kommt es auch deshalb nicht zu ethnischen Konflikten, weil die Ökonomie nach Phasen der gezielten Repression immer wieder als Ventil funktioniert.

Militärische Konflikte drohen vor allem an den Grenzen. So hängt die Zukunft des Regimes davon ab, wie sich die Bündnisse mit den Nachbarländern entwickeln. Im September 2000 wurde das Land von dem „vagabundierenden Krieg“11 erschüttert, der in Westafrika seit 1989 im Gange ist. Aus dem Grenzgebiet zwischen Liberia und Sierra Leone drangen bewaffnete Gruppen nach Guinea ein, die sich aus Mitgliedern der „Revolutionary United Front“ (RUF) sowie Oppositionellen und Söldnern aus Guinea zusammensetzten, aber auch von Stämmen jenseits der Grenze unterstützt wurden. Präsident Conté rief zum Kampf gegen die Eindringlinge auf. Indirekt gab er der Armee und den Milizen damit aber auch grünes Licht, gegen die Flüchtlinge vorzugehen, die – trotz der Proteste seitens des UN-Flüchtlingskommissariats – verfolgt und abgeschoben wurden.

Umgekehrt beschloss das Regime, die Rebellion der „Liberians United for Reconciliation and Democracy“ (Lurd) zu unterstützen, die im August 2003 Staatspräsident Charles Taylor aus Monrovia vertrieben. Mit Hilfe der USA und mit finanzieller Unterstützung durch die CIA zog die Lurd ihre Truppen in Guinea zusammen und rekrutierte ihre Kämpfer – mit Billigung des Regimes – aus den Flüchtlingslagern.

Offenbar gingen die Amerikaner dann aber, angesichts der blutigen Aktionen der unkontrollierbaren Lurd während der Belagerung von Monrovia, auf Distanz zu ihren Schützlingen. Frankreich, das eine entscheidende Rolle in dieser Übergangsphase spielen könnte, hielt dagegen mit allen Konfliktparteien Kontakt, verhielt sich aber zwiespältig: Mit Rücksicht auf die Krise in Elfenbeinküste (also angesichts der Gefahr, dass bewaffnete Gruppen von dort nach Guinea eindringen könnten) und ängstlich bedacht, es nicht noch einmal zu einem vollständigen Bruch wie unter Sékou Touré kommen zu lassen, hat Frankreich immer wieder alle Verbrechen, Betrügereien und Gesinnungswechsel des Regimes gebilligt. Am Ende der gegenwärtigen Krise wird sich zeigen, ob man mit diskreter Diplomatie und Geheimverhandlungen mehr erreicht als mit dem öffentlichen Eintreten für demokratische Prinzipien.

deutsch von Michael Bischoff

* Politologe und Forscher am Centre d’Etudes sur les Conflits, Paris.

Fußnoten: 1 Eremitisch lebende Muslime, die oft wie Heilige verehrt werden. 2 Die im bergigen Fouta-Djallon lebenden Peul (Fulbe) stellen etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung und sind damit die größte ethnische Gruppe Guineas. 3 Siehe Samir Amin, „L’Afrique de l’Ouest bloquée“, Paris (Editions de Minuit) 1971. 4 Amnesty international, öffentliches Dokument, 2002. 5 Siehe Comi Toulabor, „Der Dinosaurier von Lomé“, Le Monde diplomatique, April 2003. 6 Siehe Bernard Charles, „Le rôle de la violence dans la mise en place des pouvoirs en Guinée“, in: Charles-Robert Ageron u. a., „L’Afrique Noire française: l’heure des Indépendances“, Paris (Editions du CNRS) 1992. 7 Siehe Jean-François Bayart u. a., „La criminalisation de l’Etat en Afrique“, Brüssel (Complexe) 1997. 8 Nach Rachid N’diaye, „Lansana Conté, candidat jusqu’à la mort“, Africa international, November 2003. 9 Der ehemalige tunesische Staatspräsident Habib Bourguiba hatte sich 1975 zum „Präsidenten auf Lebenszeit“ wählen lassen. Er wurde 1987 für geistig und körperlich untauglich erklärt. Der über 70-jährige Lansana Conté hat Leukämie und kann seine Amtsgeschäfte nicht mehr richtig wahrnehmen. 10 Das gilt etwa für die in der Armee überrepräsentierten Malinke unter der Herrschaft der Soussou. Siehe auch Amadou Bano Barry, „Les violences collectives en Afrique“, Paris (L’Harmattan) 2000. 11 „Les espaces de la guerre“, Hérodote, Nr. 111, November 2003.

Le Monde diplomatique vom 12.12.2003, von MICHEL GALY