Patrioten und Oligarchen
Die Wahlen in Russland sind ein weiterer Schritt auf dem Weg in die „gelenkte Demokratie“. Wobei der Lenker im Kreml sitzt, denn die Parteien haben sich im neuen politischen System um das Vertrauen Putins zu bewerben und nicht um das der Bürger. Das Wahlergebnis sichert dem Präsidenten nicht nur seine zweite Amtszeit. Es gibt Putin auch freie Hand in seiner Auseinandersetzung mit den so genannten Oligarchen. Mit der Verhaftung von Michail Chodorkowski wurde den neuen Reichen signalisiert, dass sie sich aus der Politik herauszuhalten haben.
Von NINA BASCHKATOW *
DER Ausgang des seit Juli dieses Jahres schwelenden Konflikts zwischen dem Kreml und dem Ölmagnaten Michail Chodorkowski wird darüber entscheiden, wer Russland in den kommenden zehn Jahren regieren wird. Wenige Wochen vor den Parlamentswahlen am 7. Dezember war die offene Konfrontation unvermeidlich geworden, da gewisse Oligarchen, allen voran der ehemalige Yukos-Chef, die nächste Duma „privatisieren“ wollten, indem sie sich eine Sperrminorität verschaffen. Doch der russische Staatspräsident hat auch aus anderen Gründen die Initiative ergriffen, denn zugleich steht die Privatisierung staatlicher Monopolunternehmen bevor (unter anderem der Gazprom), zum anderen laufen ausländische Großinvestitionen in strategische Sektoren an. Putin kann nicht hinnehmen, dass die Oligarchen ihre ökonomischen Machtpositionen weiter ausbauen und allein entscheiden, zu welchen Bedingungen die multinationalen Konzerne in Russland Fuß fassen.
Die internationale Gemeinschaft macht einstweilen gute Miene zum bösen Spiel und versucht ihre Interessen zu wahren. Nachdem sie den ehemals kommunistischen Ländern „die Demokratie“ und „den Markt“ im Doppelpack frei Haus geliefert hat, hofft sie nun, sich nicht zwischen dem Mann im Kreml und den Oligarchen entscheiden zu müssen. Deshalb träumt sie von einer Persönlichkeit, die in der Lage ist, die demokratischen Werte ebenso glaubwürdig zu vertreten wie das freie Unternehmertum.
Die gestern noch als gewöhnliche Betrüger galten, sind über Nacht zu Freiheitskämpfern geworden, nur weil sie bereit sind, die Früchte ihrer Finanzoperationen mit dem Westen zu teilen und sich den „Etatisten“ um Putin entgegenzustellen, der als ehemaliger KGB-Offizier jetzt zum „Exspion“ geworden ist. Um diese Oligarchen macht sich der Westen weit mehr Sorgen als um die Millionen und Abermillionen Opfer des postkommunistischen Zusammenbruchs, die sich jedes Mal freuen, wenn einer dieser Magnaten wieder dort landet, wo sein Aufstieg begann: in der Gosse.
Die Yukos-Affäre begann am 19. Juni 2003 mit der Verhaftung des Yukos-Sicherheitschefs Alexei Pitschugin, dem zwei Morde und ein Mordversuch im Jahr 1998 zur Last gelegt werden. Am 3. Juli war Platon Lebedew an der Reihe. Der Aktionär und Präsident der Bankenabteilung der Yukos-Tochter Menatep – der berüchtigten Firma, mit der Chodorkowski sein Vermögen aufgebaut hat – wurde zum einen wegen diverser Finanzdelikte bei der Privatisierung der Düngemittel-Gruppe Apatit (1994) verhaftet, zum anderen wegen seiner mutmaßlichen Verwicklung in die Ermordung eines Bürgermeisters (1998), der von Yukos die der Gemeinde zustehenden Steuern eintreiben wollte.
Eine Vorladung der Staatsanwaltschaft erhielten auch der Unternehmenschef Michail Chodorkowski und dessen Stellvertreter Leonid Newzlin, der sich inzwischen nach Israel abgesetzt hat. Der große Coup folgte dann am 25. Oktober, als sich Chodorkowski wie Lebedew im Gefängnis wiederfand, und zwar unter der Anklage auf organisierten Raub, Betrug, Steuerhinterziehung und Urkundenfälschung. Auf diese Delikte, die beide Männer bestreiten, stehen mindestens zehn Jahre Freiheitsstrafe.
Am 30. Oktober fror die Staatsanwaltschaft 44 Prozent der Unternehmensaktien im Wert von etwa 15 Milliarden Dollar ein. Das hatte der Oligarch offenbar kommen gesehen. Jedenfalls besitzt er heute angeblich nur noch 9,5 Prozent des Aktienvolumens, während der Rest auf die Unternehmen Yukos Universal und Halley Enterprises überschrieben wurde, die wiederum Töchter des Gibraltar-Ablegers von Menetep sind. Wie um die Regierung herauszufordern, schüttete die Menetep Group eine Rekorddividende in Höhe von 2 Milliarden Dollar aus, die großenteils ins private Portmonnaie von Chodorkowski fließen (und in die des Oligarchen Roman Abramowitsch, der anlässlich des Verkaufs des Unternehmens Sibneft 26 Prozent von Yukos erworben hatte).
Inzwischen hat Chodorkowski „zum Wohle des Unternehmens und seiner Belegschaft“ auf seinen Posten als Aufsichtsratsvorsitzender verzichtet und verkündet, er werde sich fortan seiner zwei Jahren zuvor gegründeten Stiftung „Offenes Russland“ widmen, die er 2001 zum Zwecke der Förderung der „Zivilgesellschaft“ gegründet hat. Seine Nachfolge trat Simon Kukes an, der in die USA gegangen und US-Staatsbürger geworden war. Kukes kehrte 1996 als Vizepräsident von Yukos zurück, wechselte dann aber zur Tiumen Petrol Company, für die er 1998 ein Investitionsabkommen mit British Petroleum (BP) aushandelte. Seit Sommer dieses Jahres ist er wieder für Yukos tätig. Die Firma hat neben vier russischen inzwischen auch drei US-amerikanische Direktoren.
Nach Angaben der Staatsanwaltschaft sei das Einfrieren der Aktien nicht als Beschlagnahme zu verstehen, sondern als Sicherungsmaßnahme: Chodorkowski und Freunde schulden dem Staat eine Milliarde Dollar. Ein keineswegs außergewöhnlicher Fall, denn seit Anfang des Jahres wurden wegen Steuerhinterziehung an die 3 000 Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Die Yukos-Affäre hat wegen der wirtschaftlichen Bedeutung des Unternehmens und der Persönlichkeit seines Direktors jedoch eine internationale Dimension. Der ehemalige Komsomol-Apparatschik1 hat eine nachgerade klassische Karriere hinter sich. Seine ersten Dollars macht er mit „kleinen Geschäften“. Den Gewinn steckte er in die Menatep, die blühende Geschäfte mit Wechselkursspekulationen machte. Er unterstützte die Wiederwahl Boris Jelzins, der ihm dafür eine Vorzugsbehandlung bei der Privatisierung staatseigener Unternehmen zusagte.
Rote Direktoren unter Druck
ES folgte die Phase der „Konsolidierung“, in der weniger protegierte Leute mit Tricks und Drohungen gezwungen wurden, ihre Unternehmen zu verkaufen. Das traf auch eine Reihe „roter Direktoren“, die die Aktien ihrer Belegschaften nach der Privatisierung aufgekauft hatten. Damals wurden zahllose Unternehmen heruntergewirtschaftet und anschließend zu lächerlichen Preisen zurückgekauft, wobei man mit den Gewinnen Beamte, Polizisten und Richter bestechen konnte.
Die Verhaftungen kamen genau zum Zeitpunkt einer historischen Wende: Yukos wollte mit Sibneft, dem Ölkonzern des undurchsichtig agierenden Roman Abramowitsch, fusionieren und ein Aktienpaket an einen multinationalen Konzern verkaufen. Anfang Oktober handelte der weltgrößte Erdölkonzern ExxonMobil die Übernahme von 40 bis 50 Prozent der Yukos-Aktien für rund 25 Milliarden Dollar aus.2 Chodorkowski hatte das Unternehmen für 300 Millionen Dollar gekauft. Zum Zeitpunkt der Fusion wurde es auf 30 Milliarden Dollar geschätzt.
Staatspräsident Putin hat gegen ein massives Engagement von Auslandskapital in diesem lebenswichtigen Sektor eigentlich nichts einzuwenden, aber er hat sich noch nicht zwischen ExxonMobil und TexacoChevron entschieden. Vor allem aber will der Kreml die Operation selbst kontrollieren. Auch will man auf keinen Fall zulassen, dass ein Oligarch durch einen solchen Verkauf den fragwürdigen Erwerb von Milliardenwerten nachträglich legitimieren kann.
Im Übrigen hat Putin bestätigt, dass der Transportsektor und die Energieversorgung demnächst privatisiert werden sollen – mit Ausnahme der Gas- und Ölpipelines, die auch weiterhin in Staatsbesitz bleiben. Das hat gute Gründe: Die Entwicklung des riesigen Landes hängt wesentlich von seiner Infrastruktur ab. Und hatte Chodorkowski jüngst nicht Interesse an Gasprom angemeldet? Hätte Putin das Ruder nicht herumgerissen, hätten die Oligarchen also ihre Macht weiter festigen und die Diversifizierungsanstrengungen der russischen Regierung unterlaufen können. Damit hätten sie eines der wichtigsten Vorhaben Putins zu Fall gebracht, der in seiner zweiten Amtsperiode den Abstand zwischen Arm und Reich zumindest ein wenig verringern wollte.
Der Wirtschaftsboom zwingt das Land zur Diversifikation, um die Abhängigkeit von Rohstoffen zu verringern. So argumentiert etwa der russische Finanzminister und stellvertretende Ministerpräsidenten Alexei Kudrin, für Russland sei es zu gefährlich, weiterhin „von den Oligarchen, dem hohen Erdölpreis, künstlich aufgeblähten Banken und betrügerischen Bankrotts abzuhängen“.3
In der Tat brüstet sich Chodorkowski, er habe in der Duma Gesetzentwürfe blockieren können, die seinen Interessen zuwiderlaufen. Als die Regierung die Rohstoffförderung stärker besteuern wollte, um die Klein- und Mittelbetriebe sowie die Landwirtschaft und die Rüstungsindustrie zu unterstützen, versuchte Chodorkowski mit Spenden an sämtliche Oppositionsgruppen, das Gesetzesvorhaben im Keim zu ersticken. Doch die Oligarchen wollen nicht nur das Parlament privatisieren, sondern auch die öffentlichen Versorgungseinrichtungen. Statt Steuern abzuführen, finanzieren sie lieber nach eigenem Gutdünken Krankenhäuser, Schulen oder Verkehrsbetriebe.
Als Chodorkowski den im Frühjahr 2000 unterzeichneten Stillhaltepakt über die Abgrenzung der Einflusszonen von Politik und Wirtschaft gebrochen hatte, hielt Putin den Zeitpunkt für gekommen, sich auch die „Überreste der Jelzin-Familie“ vom Hals zu schaffen. Ohne Zweifel hält er Russland für reich genug, um dem ökonomischen Privatisierungsprozess eine Pause zu verordnen. Und er glaubt, dass Russland die Affäre derzeit verkraften kann, ohne viel internationales Ansehen einzubüßen. Ein russischer Journalist formuliert es so: „Dass der Westen auf einmal seine Liebe für die Oligarchen entdeckt, beweist noch lange nicht, dass sie so viel Zuneigung verdienen.“4
Die Affäre hätte niemals diese Ausmaße angenommen, hätte Russland auf den Trümmern des Kommunismus nicht nur eine starke Exekutive und eine monopolistische Oligarchie entwickelt, sondern auch starke politische Parteien und gesellschaftliche Institutionen sowie im Bereich der Wirtschaft auch kleinere und mittlere Betriebe. Unter Jelzin war eine Koexistenz von Exekutive und Oligarchen noch in dem Maße möglich, wie beide Seiten aufeinander angewiesen waren. Das Ende dieses Machtgleichgewichts musste zu einem Frontalzusammenstoß führen.
Bereits bei seinem Amtantritt hatte Putin verkündet, er werde „die Oligarchen als Klasse vernichten“. Drei Jahre lang unternahm er nichts in dieser Richtung und erweckte den Anschein, seine Macht reiche nicht aus, um seine Widersacher auszuschalten. Bei Ausbruch der Krise hüllte sich der Kreml tagelang in Schweigen. Als der Präsident dann sprach, beließ er es bei der Auskunft, die Justiz werde nun ihren Lauf nehmen, alle Russen seien vor den Steuergesetzen gleich, die Privatisierungen würden nicht in Frage gestellt, doch wo kriminelle Handlungen vorgekommen seien, würden sie geahndet. An die Adresse des Auslands gerichtet, sprach er von einem besseren Schutz der Minderheitsaktionäre, denen von den Oligarchen übel mitgespielt wurde, und verkündete das Ende des Gasprom-Monopols „innerhalb der kommenden Monate, nicht Jahre“.
Für Putin ist beim derzeitigen Tauziehen seine Vergangenheit von Nachteil. Er gelangte ohne soziale Basis, ohne Partei, ohne persönliche Vertraute an die Macht. Jelzin rang Putin damals das Versprechen ab, die Finger von seiner engeren Umgebung zu lassen. Mangels Führungsmannschaft umgab sich Putin mit Leuten, denen er aufgrund ihrer Herkunft vertraute: alte Genossen aus Sankt Petersburg und aus Geheimdienstkreisen. Ein Kreis von Leuten also, die sich einerseits dem Dienst an ihrem Land verpflichtet fühlen und die Korruption verabscheuen, andererseits aber nach außen hin so monolithisch auftreten, dass sie den Eindruck der gleichen Cliquenwirtschaft erwecken, die Putin mit seinem Kampf gegen die „Familie“ gerade ausmerzen wollte. Und da er offene Konflikte scheut, dauerte es einige Zeit, bis hochrangige Beamte aus Jelzins Führungsstab abserviert waren.
So entließ Putin erst im Zuge der Yukos-Affäre seinen Stabschef Alexander Wolochin, dessen Absetzung einen Wechsel in der Führungselite symbolisiert. Der Präsident hat sich damit keineswegs einem der anderen Clans verschrieben, wie etwa den Silowiki (Geheimdienstleuten) oder den Liberaldemokraten. Die Ernennung von Dimitri Medwedew – mit Dimitri Kosak als Stellvertreter – zeigt vielmehr, dass künftig junge Juristen aus Sankt Petersburg ohne Geheimdienstvergangenheit stärkeres Gewicht bekommen sollen. Das ändert freilich nichts daran, dass altgediente Geheimdienstler nach wie vor enge Kontakte zur Rüstungsindustrie unterhalten. Diese Fraktion der Wirtschaftselite – die dritte neben den Managern aus dem Energiesektor und der Großindustrie – hatte sich bei den ersten Privatisierungen noch herausgehalten, will jetzt aber unbedingt von der nächsten Privatisierungswelle profitieren.
Chodorkowski wird seit seiner Verhaftung als „Geschäftsmann und Philantrop“ präsentiert. Sein Vorbild ist Amerika, sein Traum, wie George Soros und Bill Gates durch die Welt zu reisen und zu allem seine Meinung zu sagen. „Patriotisch“ gesinnt wie all die anderen Oligarchen, erklärte er in seiner Pressemitteilung vom 30. Oktober: „Wo immer ich arbeite, stets werde ich all meine Kräfte in den Dienst meines Landes stellen, in den Dienst Russlands und seiner Zukunft, an die ich fest glaube.“ Ein deutliches Signal an alle in Russland, die hoffen, er werde das Land verlassen, ein Signal auch nach draußen, wo eine Kampagne gegen die mehrheitlich jüdischen Oligarchen gern als antisemitisch bezeichnet wird.
Chodorkowski will sich künftig seiner Stiftung widmen und stellt sich als die Kraft dar, die Russland auf den Weg der Demokratie bringen kann. Eine bestechende Persönlichkeit; ein Geschäftsmann von internationalem Profil und gestyltem Outfit, der so zurückgezogen lebt, dass ihn kaum einer kannte, bevor seine Probleme begannen. Sein ganzer Stolz sei, versicherte er in der Rücktrittsverlautbarung, durch „transparente Finanzierungsprinzipien und sozial verantwortungsvolle Geschäftsführung […] die leistungsfähigste Firma des Landes geschaffen zu haben“, eines der „führenden Unternehmen der Weltwirtschaft“. Unter seiner Leitung stieg der Wert der Unternehmensgruppe zwischen 1998 und 2003 auf das 120fache.
Jetzt muss dieser ungeduldige Mann seine Arroganz und seine Schnelligkeit teuer bezahlen. Er glaubte immer, über den Gesetzen zu stehen, er besuchte die USA wie ein Staatsmann, er sah sich bereits als der nächste Kalif von Moskau. In dem festen Glauben, der Kreml wolle sich mit ihm arrangieren, ging der Yukos-Chef von vornherein aufs Ganze. Während Abramowitsch seine Investitionen aus Russland abzog und sich im Ausland niederließ, sah Chodorkowski seine Zukunft im eigenen Lande. Heute beschränkt er sich nicht mehr darauf, seine Lobbyisten ins Parlament zu bringen, er möchte vielmehr selbst in den Ring steigen, als Spitzenkandidat bei den Präsidentschaftswahlen 2008 – oder sogar schon im März 2004.
Der Oligarch ist keine Messe wert
PRÄSIDENT Putin ist sich der Gefahren bewusst und spielt auf Zeit. Immer wieder betont er, die Affäre betreffe nur Yukos und deren Chef. Und die Börse reagierte gelassen. Zwar brachen die Kurse bei Bekanntwerden von Chodorkowskis Rücktritt zunächst ein, doch nach der Ernennung von Kukes zogen sie wieder an. Die Investoren atmeten auf. British Petroleum gab bekannt, der Kauf der Tiumen Petrol Company stehe nicht in Frage, und die Deutsche Bank versicherte, sie werde 40 Prozent einer russischen Investitionsbank übernehmen, da „der russische Markt der größte und wichtigste in Europa“ sei. Für die Wirtschaftskreise ist Wladimir Putin ein Garant der Stabilität, der Oligarch hingegen ist ihnen offenbar keine Messe wert.
Chodorkowski hatte stets darauf gesetzt, sein internationales Profil werde ihn im Fall eines Konflikts mit dem Kreml schützen. Das erklärt das Bemühen seiner Anwälte, die internationale Gemeinschaft ins Spiel zu bringen. Seine US-Freunde malen die Apokalypse an die Wand und sehen Russland schon unter dem Stiefel eines Tschekisten und seiner Helfershelfer, unaufhaltsam auf den Totalitarismus zutreibend. Die russischen Zeitungen, zumeist in der Hand der Oligarchen, transportieren die Ansichten der Ultrakonservativen. Richard Perle, der einflussreiche Vorsitzende des US-Defense Policy Board, will Russland aus der G 8 ausschließen. Für den Publizisten Bruce P. Jackson, der den Text des „Briefs der Zehn von Vilnius“ für eine Intervention im Irak mitformuliert hat, bedroht Putin die Interessen der USA in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Sogar George Soros verfasste einen Aufruf zur Verteidigung der russischen Demokratie.
In der International Herald Tribune wurde berichtet, Chodorkowski versuche mit viel Geld, sich Zutritt zu den geschlossenen Zirkeln Washingtons zu verschaffen. Dafür soll er seit 2001 jedes Jahr 50 Millionen Dollar aufgewendet haben, davon eine Million für die Kongressbibliothek und 500 000 Dollar für die Carnegie-Stifung.5 Er verteilte großzügige Spenden an neokonservative US-Institutionen und öffnete den Verwaltungsrat seiner Stiftung für einflussreiche US-Amerikaner wie den ehemaligen demokratischen Senator Bill Bradley und Henry Kissinger oder den britischen Bankier Lord Rothschild.
Ernüchtert von den wachsweichen Reaktionen aus dem Weißen Haus, tourten Chodorkowskis Anwälte durch die europäischen Hauptstädte, um die Regierungen dazu zu bringen, die Yukos-Affäre auf die Tagesordnung des Gipfeltreffen von EU und Russland am 6. November zu setzen. Zwar sind die Europäer – nicht erst seit dieser intensiven Lobbyarbeit – wenig begeistert von der Idee einer intensiveren Zusammenarbeit mit einem Land, dessen Justiz derart willkürlich arbeitet. Aber sie wollen auch nicht einfach für die Oligarchen Partei ergreifen. Also blieben dem Gast die unangenehmen Fragen erspart. Und das Thema Tschetschenien wurde unter den laufenden Betriebskosten verbucht, während sich Ratspräsident Silvio Berlusconi vor politischer Servilität förmlich überschlug.
Der Global Player bleibt ein Russe
SOMIT hat sich Chodorkowski im Westen grundlegend getäuscht. Aber der Westen lag mit seinem Urteil über den Oligarchen ebenso schief. Denn dieser ist – ungeachtet seines Auftretens als globaler Geschäftsmann – Russe geblieben. Beim Aufbau seines Unternehmensimperiums ging es ihm weniger darum, Millionen zu scheffeln. Vielmehr soll ihm dieses mit beispiellosem Einsatz geführte Spiel, bei dem er sein eigenes und das Leben anderer riskiert, am Ende die Pforten zum Kreml und zum Weißen Haus öffnen. So vorzüglich sich die „neuen Russen“ mit den Regeln der Akkumulation auskennen, so wenig interessieren sie sich fürs Management, das sie gern ausländischen Spezialisten überlassen. „Was nützen mir die zig Millionen Dollar, wenn ich dafür 16 Stunden am Tag arbeiten muss, wo ich mir doch die besten Manager der Welt leisten kann“, meinte einer von ihnen. Wenn es stimmt, wie Alexei Kudrin erklärt, dass Russland die Oligarchien los ist, so ist das noch keine Antwort auf die Frage: „Und was will man jetzt?“
Die im Entstehen begriffene Zivilgesellschaft geht aus der ganzen Affäre geschwächt hervor. Die Presse schlug erwartungsgemäß melodramatische Töne an („Stalin kehrt zurück“), während sich die heute vom Staat kontrollierten Fernsehsender zu dem Thema verdächtig zurückhielten. Offensichtlich wollte die Regierung vermeiden, dass Chodorkowski zum Märtyrer wird und die Sympathien der Russen gewinnt. Was die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) anbelangt, haben etliche von ihnen jede Glaubwürdigkeit verloren, da sie die Oligarchen umstandslos ein zweites Mal unterstützen – im Jahr 2000 im Namen der Pressefreiheit, heute im Namen der freiheitlichen Demokratie. Die Direktorin der Moskauer Helsinki-Gruppe beispielsweise sieht Chodorkowski als „politischen Gefangenen unserer Zeit“6 . Dabei muss man allerdings im Kopf haben, dass viele russische NGOs von Geldern des Auslands oder der Oligarchen abhängen.
Die Bevölkerung fühlt sich einstweilen nicht betroffen. Ende Oktober hatten 19 Prozent der Russen noch nichts von der Affäre gehört, weitere 15 Prozent keine Meinung dazu. Ein Viertel war der Ansicht, die Staatsanwaltschaft habe aus eigener Initiative gehandelt, 70 Prozent hatten von den Oligarchen generell eine negative Meinung. 49 Prozent glaubten, die Privatisierungen rückgängig zu machen hätte für Russland katastrophale Folgen.7 Bei diesem widersprüchlichen Meinungsbild konnten es sich die Parteien nicht leisten, die Krise im Wahlkampf auszuschlachten.
In der Tat hat der russische Durchschnittsbürger, was Probleme der Regierungspolitik wie der Globalisierung betrifft, noch keinen Durchblick. Wenn ein ausländisches Unternehmen eine russische Firma kauft, grummelt er zwar, räumt aber ein, das Wichtigste seien Arbeitsplätze und regelmäßige Lohnzahlungen. Gleichzeitig betrachtet er die natürlichen Ressourcen des Landes als kollektives Eigentum, das es zu bewahren gelte. Über die Yukos-Affäre meint er, der angeklagte Oligarch werde seinen Reichtum so oder so genießen können. Der Politik-Analyst Sergei Markow resümiert: „Als Russland die Privatisierung durchführte, stand die Idee dahinter, dass Privateigentum effizienter sei als Staatseigentum. Und nicht die Idee, dass man das Eigentum an die USA verkauft und dass Chodorkowski dafür den Profit einstreicht.“8
Nur ein lebensmüder Präsident hätte dies alles geschehen lassen. Aber Putins Handeln ließ die nötige Klarheit vermissen. Noch heute lässt sich nicht in Erfahrung bringen, ob er selbst die Initiative ergriffen oder dem Staatsanwalt einfach freie Hand gelassen hat. Das Verhalten der Ermittler hätte kritisiert, ja bestraft werden müssen, aber nichts dergleichen geschah. Das Kabinett reagierte unkoordiniert, und in diesem Fall ließ sein PR-Talent den Präsidenten im Stich. Nach Auskunft der Investoren, die Putin am 30. Oktober traf, vertritt er die Meinung, die Affäre könnte kurzfristig vielleicht von Schaden sein, ihm langfristig aber die Möglichkeit bieten, die Herrschaft des Gesetzes wieder herzustellen.
Die erste Runde hat der Präsident gewonnen, denn die Wirtschafts- und Finanzkreise des Landes sind gespalten. Doch im weiteren Verlauf könnten sie sich als sein schärfster Gegner erweisen. Hat er seine Kräfte am Ende überschätzt? So wie die Dinge derzeit aussehen, wäre der schlimmste Fall nicht ein zu starker, sondern ein zu schwacher Präsident.
Die „alten“ Oligarchen wie Boris Beresowski in London versuchen, mit allen Mitteln Einfluss zu nehmen. Unverhältnismäßig groß ist jedoch der Anteil an der Macht, den die Silowiki besitzen, die nicht auf den Dialog, sondern auf ihre Stärke setzen.
Nur sollte man ihren Zusammenhalt nicht überschätzen, stammen sie doch aus Kreisen, die traditionell miteinander rivalisieren: aus dem Innenministerium, den Streitkräften und Geheimdiensten. Aber auch die Oligarchen beziehen aus diesem Milieu ihre Leibwächter und ihre „Analysen“, mit denen sie ihre Rivalen kompromittieren. Ganz abgesehen davon, dass sie auch schon Richter und Polizisten gekauft – oder eingeschüchtert – haben.
Bislang weist der Umbau im Präsidialamt in die richtige Richtung. Für die Zukunft hat Jewgeni Primakow, der „weise alte Mann der russischen Politik“, einen Plan zur Versöhnung von Staat und Oligarchen vorgeschlagen: Der Staat soll auf jede Revision der Privatisierung verzichten, die Oligarchen dafür einen größeren Beitrag an die Staatskasse abführen. Und im Fall von ausländischen Übernahmen soll sichergestellt werden, dass das Geld nicht ins Ausland fließt, sondern in die russische Wirtschaft investiert wird.9
Präsident Putin brauchte eine ganze Amtszeit, um sich eine eigene Basis aufzubauen, das von seinem Vorgänger geerbte Chaos zu bändigen und sich der „Familie“ zu entledigen. Eine zweite Amtszeit würde ihm die Gelegenheit geben, seine eigene Linie durchzusetzen – falls er eine hat. Aber er wird die Oberhand nur behalten, wenn sich der Staat gegen die Oligarchen durchzusetzen vermag, wenn breitere Bevölkerungsschichten Zugang zu Eigentum bekommen und wenn er einem Nachfolger den Weg ebnen kann, der die Reformen noch weiter vorantreibt. Sollten es dagegen die Oligarchen schaffen, Putin zu demontieren, so wird seine neue Amtszeit zu einer Phase der Stagnation werden. Und sein Nachfolger wird ein schweres Erbe zu bewältigen haben.
deutsch von Bodo Schulze
* Herausgeber von „Inside Russia & the FSU“ (http://www.russiafsu.net).