12.12.2003

Ein Handbuch für Paul Bremer

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Ein Handbuch für Paul Bremer

Von DOMINIQUE VIDAL

PAUL BREMER ist begeistert: „Ein großartiges Handbuch zum Thema Stabilisierung und Wiederaufbau nach einem Konflikt. Ich halte es seit meiner Ankunft in Bagdad stets griffbereit …“ Der US-Zivilverwalter im Irak spricht von einer kürzlich erschienenen Studie über die sieben Nationbuilding-Operationen der Vereinigten Staaten seit 1945 (Deutschland und Japan, Somalia, Haiti, Bosnien, Kosovo, Afghanistan und Irak).1 Die vergleichende Untersuchung wurde in der Rand Corporation erarbeitet. Das 1948 von der US Air Force gegründet Institut ist heute unabhängig, wird aber regelmäßig von der US-amerikanischen Exekutive konsultiert.

Nach Meinung der Rand-Forscher setzen Deutschland und Japan als Modelle für „den nationalen Wiederaufbau nach einem Konflikt einen bis heute nie wieder erreichten Standard“. Zwischen 1945 und heute habe es nur wenige Versuche gegeben, „diese Erfolge zu wiederholen“. Von den 55 Friedensoperationen der Vereinten Nationen seit 1945 fallen 41 (80 Prozent) in die Zeit nach 1989.

Während des Kalten Kriegs unterstützten die USA und die Sowjetunion aus geopolitischen Gründen eine Reihe schwacher Staaten, und zwar manchmal sogar gemeinsam. Diese seien aber zerfallen, als die Unterstützung ausblieb. Dagegen können die USA seit 1989 „ungehindert intervenieren … nicht nur um einen Waffenstillstand oder den Status quo wieder herzustellen, sondern auch um die vom Krieg verheerten Gesellschaften von Grund auf zu verändern“.

Allerdings sei ein solcher nationaler Wiederaufbau (nation building) nach wie vor kostspielig und riskant, weshalb sich die USA „niemals unüberlegt engagiert“ hätten. 1993 zogen sie sich aus Somalia zurück, sobald sie auf Widerstand stießen. 1994 schickten sie beim Völkermord in Ruanda lieber die UN vor. In Bosnien zögerten sie, wie auch später im Kosovo. Gleichwohl war jede dieser Interventionen „umfassender und ambitionierter als die vorangegangene“.

Vor drei Jahren kritisierte Präsidentschaftskandidat George W. Bush, die Clinton-Administration habe zu viele Nationbuilding-Baustellen aufgemacht, und sprach sich gegen das Konzept als solches aus. Als Bush in Afghanistan „vor einer vergleichbaren Herausforderung“ stand, habe er deshalb „bescheidenere Ziele“ verfolgt. Doch dann ließ er sich im Irak auf eine Operation ein, deren Dimensionen „ nur mit der Besetzung von Deutschland und Japan vergleichbar“ sei. Das Fazit lautet: „Nationaler Wiederaufbau ist offenbar eine Verantwortung, der sich die alleinige Supermacht nicht entziehen kann.“

Die Erfolge in Japan und Deutschland nach 1945 hingen selbstredend mit der hoch entwickelten Wirtschaft der beiden Länder zusammen. Aber selbst hier sei nicht „der wirtschaftliche Wiederaufbau, sondern der politische Umbau“ entscheidend gewesen. Dass es den USA in Somalia, Haiti und Afghanistan nicht gelang, „lebensfähige Demokratien aufzubauen“, wird mit „ethnischen, sozioökonomischen oder tribalen Zerklüftungen“ erklärt. Andererseits sei in Bosnien und im Kosovo, wo die Demokratisierung doch vorangekommen sei, „die Feindseligkeit zwischen den ethnischen Gruppen noch ausgeprägter“ gewesen.

Den entscheidenden Unterschied macht für die Rand-Autoren „das Engagement der USA und der internationalen Gemeinschaft“ aus. Im Kosovo investierten Washington und die Verbündeten nach dem Krieg 25-mal so viel Geld und 50-mal so viel Truppen wie in Afghanistan. In Kosovo macht dies pro Kopf 800 Dollar aus – gegenüber nur 200 Dollar in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.

Dabei waren die USA 1945 wirtschaftlich dominanter: Während sie 1945 noch rund 50 Prozent des Weltsozialprodukts erwirtschafteten, sank ihr Anteil bis 1990 auf 22 Prozent. Damit sei das Prinzip der Kostenteilung für die USA politisch wichtiger und für die anderen Länder akzeptabler geworden. Deshalb habe Washington in den 1990er-Jahren versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden: „Wie lässt sich eine stärkere Partizipation der UN erreichen und dennoch die nötige einheitliche Befehlsstruktur bewahren?“ In Somalia und Haiti entschied man sich für eine von der UN finanzierte Eingreiftruppe. Die von der Nato getragene Intervention im Kosovo war „bislang die beste Mischung aus US-amerikanischer Führung, europäischer Partizipation, breiter Streuung der finanziellen Belastungen und einheitlichem Kommando“. Hier gelang es den USA, „eine führende Rolle zu behalten, während man nur 16 Prozent der Wiederaufbaukosten zu tragen und nur 16 Prozent der friedenserhaltenden Truppen zu stellen hatte“.

Abschließend wägen die Rand-Forscher die Vor- und Nachteile multi- und unilateraler Operationen ab. Multilaterale Unternehmen „sind komplexer und erfordern mehr Zeit als unilaterale, sind für die Beteiligten aber weitaus billiger“. Allerdings seien „einheitliches Kommando und breite Beteiligung“ nur dann „kompatibel“, wenn die „Hauptbeteiligten eine gemeinsame Vision haben“ und fähig sind, die internationalen Institutionen (Nato, Europäische Union, Vereinte Nationen) in diesem Sinne auszugestalten.

Im Fall Irak, wo derzeit „das ehrgeizigste nationale Wiederaufbauprogramm seit 1945“ abläuft, sehen die Rand-Autoren als größtes Problem die historischen Vorbelastungen: fehlende demokratische Traditionen, ethnisch-religiöse Spaltungen, organisiertes Verbrechen, fehlende Mittelschichten. Doch sie sehen auch gewichtige Vorteile: Nach dem Wiederaufbau der nationalen Verwaltung werden die Kosten für die internationale Gemeinschaft drastisch zurückgehen und aus den reichen Erdölvorkommen finanzierbar sein. Insgesamt werde das Irak-Abenteuer (die fünfte US-Operation in einem muslimischen Land innerhalb von zehn Jahren) auf längere Zeit „umfangreiche finanzielle, personelle und diplomatische Ressourcen binden“. Die USA könnten es sich nicht erlauben, „die Arbeit halb gemacht liegen zu lassen“. Die Frage sei also nicht, wie schnell die US-Truppen abziehen, sondern „wie schnell und bis zu welchem Punkt sie die Regierungsgewalt mit den Irakern und der internationalen Gemeinschaft teilen und gleichzeitig genügend Einfluss behalten können, um einen zukunftsfähigen Übergang zur Demokratie zu überwachen“.

Die Botschaft ist klar: Angesichts des Chaos im Irak tritt die Rand Corporation für eine Fortführung der US-Operation ein, allerdings unter Einbindung möglichst vieler Partner, was erstens die Führungsrolle Washingtons und zweitens eine Aufteilung der Kosten gewährleisten würde.

Auch bei dieser Rand-Studie erschließt sich die eigentliche Botschaft nicht nur aus den expliziten Behauptungen, sondern auch aus dem, was nicht ausgesprochen wird. Die Völker der betreffenden Länder kommen in den Überlegungen der Rand-Forscher überhaupt nicht vor. Fast hat es den Anschein, als hätten sie beim Wiederaufbau ihres Landes nichts zu sagen.

Auch ein zweiter Punkt wird vielsagend beschwiegen: Eine Reihe von US-Unternehmen zieht aus der Besetzung des Irak erhebliche Gewinne. Die Ausplünderung des Irak durch Unternehmensgruppen, die vielfach enge Verbindungen zu führenden US-Politikern unterhalten, wie auch die Ausplünderung des amerikanischen Steuerzahlers stellen schon jetzt einen Skandal allererster Ordnung dar.

deutsch von Bodo Schulze

Fußnote: 1 Rand Corporation, „America’s Role in Nation-Building. From Germany to Iraq“, Santa Monica 2003.

Le Monde diplomatique vom 12.12.2003, von DOMINIQUE VIDAL