12.12.2003

Wer tötete Daniel Pearl?

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Wer tötete Daniel Pearl?

DANIEL PEARL war ein couragierter und gewissenhafter Journalist beim „Wall Street Journal“, und er sah es als seine Lebensaufgabe an, die Verständigung zwischen Osten und Westen, zwischen Islam, Christentum und seiner eigenen, der jüdischen Religion zu fördern. Pearl wurde letztes Jahr in Pakistan auf grausamste Weise hingerichtet. In jüngster Zeit sind zwei Bücher erschienen: das eine von Mariane Pearl, der Witwe des Journalisten, das andere von Bernard-Henri Lévy, dem Philosophen und Sartre-Biografen, der in Frankreich als moralische Instanz auftrittt. Die politischen Kräfte in Pakistan bleiben undurchsichtig, die Suche nach der Wahrheit ein journalistisches Anliegen.

Von WILLIAM DALRYMPLE *

Karatschi ist die trostloseste Stadt der Welt. Das Beirut Südasiens – am Meer gelegen, mit reichen, fast luxuriösen Vierteln, aber zugleich ein Monument des Hasses unter den verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen – ein Sinnbild für das Scheitern der Zivilgesellschaft. Karatschi liegt im Krieg, mit sich selbst wie mit der Außenwelt. Immer wieder entladen sich die Rivalitäten einzelner Gruppen in Mordanschlägen oder Geiselnahmen, und immer wieder versinkt die größte Metropole Pakistans im selbst erzeugten Chaos. In Karatschi sind die Polizeireviere mit Sandsäcken verbarrikadiert, und die ausländischen Konsulate muten an wie massiv bewehrte Kreuzfahrerburgen. Und so werden sie von den Einheimischen auch gesehen: als unwillkommene, umkämpfte Brückenköpfe fremder Mächte.

Das US-Konsulat ist umgeben von einem Stacheldrahtverhau und einem Barrikadenring aus Fässern, die von Geschossspuren zernarbt sind (das letzte Selbstmordattentat liegt erst sechzehn Monate zurück). Im Innern stößt man auf eine komplexe Karte des Großraums Karatschi. Auf den ersten Blick erinnert sie mit ihren unterschiedlich eingefärbten Zonen an eine Karte, auf der die Tarifzonen eines U-Bahn-Netzes dargestellt sind. Doch bei genauerem Hinsehen geht einem auf, dass die Farben für etwas ganz anderes stehen: für die verschiedenen kriminellen Erwerbszweige und die Stadtviertel, in denen sie ihre jeweiligen Hochburgen haben.

In der pinkfarbenen Zone im Osten herrscht die Drogenmafia von Karatschi. In der roten Zone im Westen ist das Kidnapper- und Schutzgeldgewerbe zur höchsten Raffinesse gediehen; während die grüne Zone im Süden das Revier von Banden ist, deren Gewalttaten religiös motiviert sind. In den Lagern im Norden – die tiefrot markierte Zone – vegetieren afghanische Flüchtlinge, die mit den Dschihad-Gruppen, also den islamistischen Gotteskriegern, sympathisieren. Ein schmaler gelber Streifen im Stadtzentrum bezeichnet eine Zone relativer Sicherheit: das Diplomatenviertel. Dort wird die Ruhe nur durch gelegentliche Bombenattentate gestört oder aber wenn ein mit Sprengstoff voll gepacktes Flugzeug auf ein Konsulat stürzt. Laut US-Außenministerium ist Karatschi für das US-Personal nach Kabul und Bagdad der drittgefährlichste Außenposten. Obwohl die pakistanische Metropole noch keine Invasion oder Besatzung durch die Vereinigten Staaten erlebt hat, gibt es nur wenige Orte, wo die Amerikaner noch unbeliebter sind.

Zu Beginn der 1990er-Jahre wurde die Stadt zum Schauplatz blutiger Massaker, die zuweilen an das vom Bürgerkrieg zerrissene Beirut der 1970er-Jahre erinnerten. Mudschahirs, die nach der Teilung ihres Subkontinents aus Indien übergesiedelt waren, griffen die einheimischen Sindhi und Pundschabi an.1 Sunniten schossen auf Schiiten, Arme entführten Reiche. Erst die Bombardierung und anschließende Invasion in Afghanistan durch die USA bewirkte, dass die Fraktionen sich auf den gemeinsamen Feind konzentrierten. Endlich gab es ein Ziel, auf das sich alle in Karatschi einigen konnten. Seit Herbst 2001 gingen die Massen immer wieder auf die Straßen, riefen „Tod für Amerika“ und verbrannten hunderte von US-Fahnen und Bilder von Präsident Bush.

Damals kam auch ein idealistischer 38-jähriger Journalist nach Karatschi, der für das Wall Street Journal über die Unruhen berichten sollte. Es war die gefährlichste Zeit, die er sich aussuchen konnte, und der gefährlichste Auftrag für einen US-Bürger, zumal wenn er jüdischer Herkunft war und Verwandte in Israel hatte. Am 20. Januar 2002, zwei Wochen nach seiner Ankunft, wurde Daniel Pearl in eine Falle gelockt und entführt. Kurz darauf wurde ihm vor laufender Videokamera der Hals durchgeschnitten. Zuvor hatte man ihn gezwungen, in die Kamera zu sagen: „Mein Vater ist Jude. Meine Mutter ist Jüdin. Ich bin Jude.“ Anschließend wurde sein Körper zerstückelt.

Jetzt sind zwei Bücher erschienen, die uns ein genaueres Bild über den barbarischen Mord vermitteln. Das eine ist ein sehr bewegender Text, den Mariane Pearl im Gedenken an ihren ermordeten Mann publiziert hat.2 Das zweite ist ein Buch des Hasses: die leidenschaftliche Verdammung einer Stadt und eines Landes durch einen Mann, der Karatschi für die Hölle auf Erden und Pakistan für das Land des schlechthin Bösen hält.

Als Daniel Pearl entführt wurde, beeindruckte seine Frau – im fünften Monat schwanger – viele Menschen, weil sie sich über CNN mit äußerst leidenschaftlichen Aufrufen an die Entführer wandte. In ihrem Buch erzählt sie in einfacher und klarer Sprache die verwickelten Ereignisse: wie Pearl versuchte, ein Interview mit Scheich Mubarak Ali Schah Gilani zu arrangieren, dem Guru des „Schuhbombers“ Richard Reid; wie er zu einem Restaurant gelockt und von dort zu einem Auto geführt und mit verbundenen Augen in einen Vorort Karatschis gefahren wurde. Dort wurde er insgesamt etwas länger als eine Woche in Ketten gehalten und dann brutal ermordet.

Mariane Pearl, die selbst als Reporterin für Radio France gearbeitet hat, schildert ihre Bemühungen, in Kooperation mit der pakistanischen Polizei, dem FBI und dem US-Konsulat die Mörder ihres Mannes aufzuspüren. Dabei würdigt sie ganz besonders die hervorragende Ermittlungstätigkeit eines pakistanischen Polizeioffiziers, der die E-Mail-Nachrichten der Entführer zu einem Studentenheim zurückverfolgte und den Kopf der Gruppe identifizieren konnte: einen Dschihad-Kämpfer namens Omar Sheikh, der schon viele Entführungen organisiert hatte.

Omar Sheikh ist, so schreibt sie, ein 1973 in London geborener, in England aufgewachsener Pakistaner, der einer wohlhabenden Familie entstammt und nach Absolvierung einer teuren Privatschule an der London School of Economics (LSE) studierte. Unter dem Eindruck der Massaker unter der muslimischen Bevölkerung in Bosnien schloss er sich den Dschihadis, den Gotteskriegern, an. In Kaschmir kämpfte er gegen die indische Armee, wurde dann aber 1994 in Neu-Delhi von der indischen Polizei gefasst, als er eine Gruppe westlicher Rucksacktouristen zu entführen versuchte. Doch Anfang 2000 kam er aus dem Gefängnis frei, als pakistanische Dschihad-Kämpfer ein Flugzeug der Indian Airlines in Kathmandu entführten und damit ihre Mitkämpfer freipressen konnten.

Zurück in Pakistan, landete er bei der Harkat ul-Mudschaheddin, einer militanten Gruppe mit Kontakten sowohl zu al-Qaida als auch zum pakistanischen Geheimdienst ISI (Inter Services Intelligence). Die Entführung Pearls sollte offenbar dazu dienen, die Freilassung von gefangenen Islamisten durchzusetzen.3 Anfang Februar 2002 stellte sich Omar und gestand, dass er es war, der Pearl entführt hat. Gegen sein Todesurteil hat er Berufung eingelegt, über die noch nicht entschieden ist.

Mariane Pearl zeichnet ein persönliches Bild ihres Mannes, doch so herzzerreißend manche Schilderungen sein mögen, sie überschreitet nie die Grenze zum Sentimentalen und verfällt auch nie in Selbstmitleid. Sie beschreibt Daniel Pearl als einen progressiven, intelligenten, aber auch entwaffnend naiven Journalisten, der es als seine Lebensaufgabe ansah, die Verständigung zwischen Osten und Westen, zwischen Islam, Christentum und seiner eigenen, der jüdischen Religion zu fördern.

Ganz im Sinne der Bemühungen ihres Mannes, unterschiedliche Kulturen zu versöhnen, ist auch Mariane Pearl bemüht, keinen Hass gegen den Islam oder gegen das Land zu entwickeln, in dem Daniel Pearl getötet wurde. Damit gewinnt ihr Buch eine weit größere Bedeutung, als sie dem schlichten Bericht einer Witwe zukommen würde. Dies ist nicht nur ein Dokument der Selbstbehauptung in einer großen persönlichen Tragödie, es ist auch ein Exempel für das beharrliche Bemühen, das Andere, das Fremde zu verstehen.

Das zweite Buch stammt von dem französischen Philosophen Bernard-Henri Lévy4 und versteht sich selbst als eine Verbindung von investigativem Journalismus und literarischem Essay. Das Ganze ist freilich vor allem ein zutiefst einseitiger Text mit einer Fülle unrichtiger Fakten. Doch auch wenn das Buch in weiten Teilen ein Produkt seiner Fantasie ist und seine Erkenntnisse auf falschen Informationen und vereinfachenden Annahmen beruhen, wirft es eine Reihe wichtiger Fragen auf.

Die Hauptschwäche des Buches ist die dilettantische Recherche. Speziell in der Geografie Südasiens kennt sich der Autor nicht besonders gut aus. Zum Beispiel glaubt er, dass Muzaffarabad, die Hauptstadt des pakistanischen Teils von Kaschmir (und die Hochburg der Dschihad-Gruppen auf pakistanischem Boden), in Indien liegt. Noch schlimmer ist, dass man Lévy sehr rasch anmerkt, wie wenig Ahnung er von den politischen Verhältnissen in Südasien hat. Ein Beispiel: Abdul Ghani Lone, der Kopf der gemäßigten Kräfte in Kaschmir, wurde am 21. Mai 2002 höchstwahrscheinlich von Islamisten (mit Verbindungen zur ISI) ermordet, weil er bereit gewesen wäre, den Konflikt mit Indien auf demokratische Weise beizulegen. Für Lévy ist Abdul Ghani Lone ein „berüchtigtes“ Element mit Verbindungen zu den finsteren Fraktionen des pakistanischen Geheimdienstes. An anderer Stelle wird Lones Partei (die Hurriyat ist heute die wichtigste Kraft, die für einen Kompromiss mit Kaschmir eintritt) als fundamentalistisch-islamistische Organisation beschrieben.

Immer wieder gibt Lévy Informationen, die auf Klatsch und Hörsensagen beruhen, als Fakten wieder. So erfahren wir, dass Ussama Bin Laden sich zwecks medizinischer Behandlung im pakistanischen Peschawar aufhielt, nachdem die US-Luftwaffe seine Stellungen in den Tora-Bora-Bergen bombardiert hatte. Wenig später wird behauptet, er habe Zuflucht in einer Madrasse in Karatschi gefunden. Die Informationen wären ein journalistischer Scoop, wenn sie denn stimmen würden. Damit wäre nämlich endlich eine Frage beantwortet, auf die westliche Geheimdienste bislang vergeblich eine Antwort suchen: wie Bin Laden unter den Augen des pakistanischen Militärs gesund gepflegt werden konnte. Aber der Autor bietet weder eine Quelle noch einen Beleg. Er sagt es einfach nur so dahin.

Noch schwerer wiegt freilich, dass Lévy des öfteren Belege verfälscht oder gar bestimmte Sachen einfach erfindet. Um zu beweisen, dass für die Entführung von Daniel Pearl die ISI und al-Qaida gemeinsam verantwortlich seien, verweist er auf drei Präzedenzfälle, in denen Journalisten in Pakistan „von ISI-Agenten entführt wurden, die im Verdacht stehen, von al-Qaida unterstützt zu werden“. Tatsächlich wurden zwei der Journalisten von der regulären Polizei in Pandschab verhaftet, als Nawaz Sharif, der letzte zivile Ministerpräsident Pakistans, eine Einschüchterungskampagne gegen die Presse führte. Der Fall des dritten Journalisten gibt bis heute große Rätsel auf, weil er von Unbekannten entführt und nach einem Tag wieder freigelassen wurde. Eine Verbindung mit al-Qaida wurde in diesem Fall nie behauptet, geschweige denn bewiesen. Hier missbraucht der Autor die Fakten auf eine Weise, die für seine Methode bezeichnend ist: Wenn es keine Beweise gibt, tut er einfach so, als würden sie existieren. Die ISI hat gewiss bei vielen dubiosen Dingen ihre Finger im Spiel, aber noch nie ist jemand auf die Idee gekommen, sie könnte Staatsbürger westlicher Länder entführt haben – oder gar einen Amerikaner. Die von Lévy angeführten Fälle sind ein gewichtiges Indiz nicht etwa für, sondern gerade gegen eine direkte Verbindung zwischen der ISI und den Entführern Pearls.5

Gegen Ende seines Buches präsentiert Lévy eine Reihe ebenso ausgefeilter wie unbeweisbarer Verschwörungstheorien. So behauptet er, Omar Sheikh habe ISI-Gelder erhalten, mit denen die Anschläge des 11. September finanziert worden seien. Und er zitiert einen Artikel, den Pearl zusammen mit Steven Levine für das Wall Street Journal verfasst hat. Darin heißt es, ein ehemaliger ISI-Direktor habe womöglich geholfen, Informationen über Nuklearwaffen an Bin Laden und andere im Afghanistan der Taliban wichtige Figuren weiterzugeben.6

Spekulation und Ressentiment

LÉVY spekuliert, Pearl habe diese Geschichte weiter verfolgt und sei dabei womöglich auf wichtige neue Beweise gestoßen. Deshalb habe die ISI ihn ermorden lassen. Die Herausgeber des Wall Street Journal und die Kollegen Pearls haben allerdings klargestellt, dass es entgegen den Mutmaßungen Lévys keinerlei Indizien dafür gibt, dass Pearl diese Story weiter verfolgt hat. Und Pearls Vater sagte gegenüber der Los Angeles Times, diese Hypothese lasse sich „nicht an Fakten festmachen“.

In vielen Passagen seines Buches lässt Lévy seine Verachtung für den Islam und seine an Hass grenzenden Gefühle für das besuchte Land erkennen. Zu Recht kritisiert er einen grassierenden Antisemitismus und die Tendenz, in Israel das Böse schlechthin zu sehen. Aber dann zieht er in derselben vorurteilsgeladenen Sprache seinerseits über Pakistan her – das Land, wo „der Teufel zu Hause“ ist und wo den Menschen „der Fanatismus eingetrichtert wird und sie mit Gewalt gedopt“ sind. Noch schlechter kommt Karatschi weg. Die Stadt ist „ein schwarzes Loch“ mit „lauter Halbtoten“, wo vor einem „Haus des Teufels“ die „fanatischen […] langhaarigen Derwische mit ihren wilden, blutunterlaufenen Augen“ herumjaulen. Selbst normale Passanten werden als fanatische Orientalen dargestellt, die „finster dreinblicken“ und Lévy „mit den Augen einer Tarantel anstarren“, oder ihn „mit einem giftigen Lächeln“ wie eine Schlange „anzischen“.

In dem von Lévy imaginierten Pakistan muss man vor jedem Einheimischen Angst haben, erst recht, wenn man ein wie auch immer gearteter Autor ist. Hier sind nämlich, so erfahren wir, „alle Journalisten als solche in ständiger Todesgefahr“.7 Schon als er vom Flughafen in die Stadt fährt, spekuliert er vor sich hin: Vielleicht hat allein die Tatsache, dass Daniel Pearl eine Wohnung in Bombay hatte, „ihn als einen Feind des Landes ausgewiesen, als Agent einer fremden Macht, der aus dem Weg geräumt werden muss“.

Damit zeigt Lévy, dass er die Gefühle, die in Pakistan in Bezug auf Indien herrschen, ebenso gründlich verkennt wie die Bedingungen journalistischen Arbeitens in einem Land, über das die meisten westlichen Korrespondenten von der indischen Hauptstadt aus berichten. So wie auch ich es siebzehn Jahre lang getan habe, der ich auf meinen Reisen in Pakistan – meist von Indien kommend – stets nur gastfreundliche Menschen angetroffen und mich nicht ein einziges Mal bedroht gefühlt habe. Natürlich trifft man ab und zu auf einen Mullah oder einen General, für den Indien das Land des Teufels ist. Für die meisten Pakistaner jedoch ist Indien ein komplexes Land, das man ebenso sehr bewundert, wie man es fürchtet. In Pakistan liebt man die Filmhits aus Bollywood, man verfolgt die Fernsehserien der indischen Satellitensender, und in jedem Basar kann man die Poster von indischen Cricketstars und Filmgrößen kaufen. Die Gefühle, die Indien bei Pakistanern auslöst, sind eher Neid und Unsicherheit als Hass, wenngleich die enorme militärische Überlegenheit des Nachbarstaates und die indische Herrschaft über das Kaschmirtal auch Ängste und Ressentiments auslösen.

Das Bild, das Lévy von Pakistan und seinen Bewohnern zeichnet, kennt keine Differenzierung und keine Zwischentöne. Es ist eine pauschale Verteufelung. Das macht ihn blind für die entscheidende Einsicht, dass sich der berühmte „Kampf der Kulturen“ mindestens ebenso sehr innerhalb des Landes wie zwischen Pakistan und dem Westen abspielt. Denn hier versucht eine westlich orientierte Elite die Kontrolle über ein Land aufrechtzuerhalten, in dem jeder zweite Mensch weder lesen noch schreiben kann und jeder fünfte nicht genug zu essen hat. Zudem trägt die Gesellschaft noch feudale Züge: Ihre tragenden Strukturen sind die Allianzen zwischen Clans und Stämmen, die städtische Mittelschicht ist vom politischen Entscheidungsprozess weitgehend ausgeschlossen.

Aber Lévy unterscheidet gar nicht erst zwischen weltlich orientierten Pakistanern und ihren islamistischen Gegenspielern, zwischen den Militärs und demokratischen Kräften oder zwischen der vorherrschenden religiösen Richtung, die von der toleranten Sufi-Lehre beeinflusst ist, und neueren Richtungen wie den intoleranten Wahhabiten. Wobei sich Letztere auch deshalb so rasch ausbreiten können, weil ihre extremistischen Madrassen viel Geld von den Saudis bekommen. Wer unfähig ist, all diese konkurrierenden Faktoren auseinander zu halten, kann die komplexe und zersplitterte pakistanische Gesellschaft nicht einmal ansatzweise begreifen.

Es ist ein alarmierendes Anzeichen für die weit verbreitete Unkenntnis sowohl des Islams als auch eines islamischen Landes wie Pakistan, dass nur wenige Rezensenten Lévys seine vielen sachlichen Fehler und Oberflächlichkeiten bemerkt oder auf seine irritierende Verachtung für die einfachen Menschen hingewiesen haben. Wenn der islamische Terrorismus besiegt werden soll, müssen wir zuallererst lernen, seine Ursachen wie auch seine Träger klar und auf objektiver Grundlage zu verstehen. Lévys Buch hingegen beleidigt nicht nur das Andenken eines großartigen Journalisten, der die kruden ethnischen Stereotype, die Lévy unablässig verbreitet, gerade nicht hinnehmen wollte. Es ist auch ein Beleg dafür, dass es seit dem 11. September als völlig normal und akzeptabel gilt, wenn ein Autor so unpräzise und abfällig über Muslime schreibt.

Trotz seines laxen Umgangs mit den Fakten und seiner Verschwörungstheorien geht Lévy einer Frage nach, die auch Mariane Pearl beschäftigt. Denn der furchtbare Mord an Daniel Pearl belegt ganz klar, dass der pakistanische Staatsapparat und insbesondere der Geheimdienst ISI nicht nur zahllose gewaltbereite Gotteskrieger dauerhaft auf pakistanischem Boden dulden, sondern diese Gruppen auch aktiv unterstützen. Zwar ist es äußerst unwahrscheinlich, dass die ISI an der Entführung und Ermordung Pearls direkt beteiligt war, wie Lévy zu belegen versucht. Aber ebenso unwahrscheinlich ist, dass Omar Sheikh, ein notorisch gewalttätiger Extremist, sich ohne Wissen und Unterstützung pakistanischer Geheimdienstkreise im Lande aufhielt. Es ist durchaus möglich, dass Omar schon seit seiner Londoner Studentenzeit mit der ISI Kontakt hatte. In jedem Fall stand er mit dem Geheimdienst in Verbindung, seit er sich der militant islamistischen Gruppe Harkat ul-Mudschaheddin angeschlossen hatte, denn die war in Kaschmir aktiv und wurde höchstwahrscheinlich von der ISI unterstützt.

Der Geheimdienst und die Kaschmirfrage

SEIT seiner Entlassung aus einem indischen Gefängnis war Omar Sheikh als hochrangiger Dschihad-Kämpfer bekannt, als solcher hätte er sich aber nie ohne Erlaubnis des ISI in Pakistan niederlassen können. Als ihm die pakistanische Polizei einen Monat nach Pearls Entführung auf der Spur war, entzog er sich seiner Verhaftung: Am 5. Februar 2002 begab er sich in die Obhut eines hohen ISI-Mannes namens Ijaz Schah, der während Omar Sheikhs aktiver Zeit in Kaschmir als Verbindungsoffizier zu den Harkat-Gotteskriegern gedient hatte.

Nachdem er sich der ISI gestellt hatte, wurde er im Hauptquartier des Geheimdienstes eine Woche lang verhört und erst dann der pakistanischen Polizei überstellt. Das zeigt erstens, dass dies ein Fall für die oberste Spitze des pakistanischen Geheimdienstes war, und zweitens, wie wenig Interesse die ISI daran hatte, der Polizei bei der Aufklärung des Verbrechens zu helfen. Hätte der Geheimdienst den Täter rasch der Polizei ausgehändigt, hätte man vielleicht noch das ganze Dschihadi-Netz ausheben können, das für Pearls Tod verantwortlich war.

Noch peinlicher für die pakistanischen Behörden sind Beweise, die erst nach Publikation beider Bücher ans Licht kamen. Sie belegen für die letzten Phasen von Daniel Pearls Leidensgeschichte eine aktive Beteiligung der al-Qaida.8 Die Entführung selbst wurde von Omar Sheikh geplant und mit Hilfe von Dschihad-Kämpfern aus den verschiedensten Gruppen durchgeführt. Wahrscheinlich wollte man Pearl als Geisel benutzen, um Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch zu erzwingen. Nach neusten Informationen wurde Pearl dann aber von einer ganz anderen Zelle ermordet, die der Führung von Chalid Scheich Mohammed unterstand. Der im März 2003 in Rawalpindi verhaftete Chalid ist einer der engsten Mitarbeiter von Al-Qaida-Führer Bin Laden. Berichte aus US-Quellen über die Vernehmung von Chalid bestätigen, was schon der Portier des Gebäudes, in dem Pearl festgehalten wurde, ausgesagt hatte. Demnach hatte Chalid drei arabische Terroristen als Helfer. Mariane Pearl wie auch Lévy meinen, diese Helfer seien Jemeniten gewesen. Aber wie ich aus Geheimdienstquellen gehört habe, soll es sich um zwei Saudis und nur einen Mann aus dem Jemen gehandelt haben. Nach derselben Quelle hat man Mobiltelefongespräche abgehört, die vor der Ermordung Pearls mit Saudi-Arabien geführt wurden. Mit wem, weiß man zwar noch nicht, aber eine mögliche Erklärung wäre, dass die Erlaubnis für den Mord von einem Mann in Riad eingeholt werden musste.

Über die Frage, von wem und warum das Todesurteil für Pearl erging, kann man nur spekulieren. Einiges spricht dafür, dass Omar Sheikh die Kontrolle über das Unternehmen einbüßte, als sich Chalid Scheich Mohammed und al-Qaida für den Fall interessierten und nachdem Pearls Verschwinden internationale Aufmerksamkeit erregt hatte. Vielleicht war der Mord als Rache für die Verluste der Taliban und der al-Qaida in Afghanistan gedacht, zumal Ende Januar in einer pakistanischen Zeitung gestanden hatte, dass der entführte Journalist Jude war.

Obwohl die pakistanischen Behörden bei der Verfolgung der al-Qaida eng mit den Vereinigten Staaten zusammengearbeitet und versucht haben, sich als treue Verbündete in Bushs „Krieg gegen den Terror“ zu geben, sind einige unangenehme Fakten unbestreitbar: Daniel Pearl wurde durch einen Mann entführt, der offensichtlich enge Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst hatte und zugleich eng mit Chalid Scheich Mohammed zusammenarbeitete, einem der wichtigsten Figuren auf der zentralen Kommandoebene der al-Qaida.

Der Staat Pakistan fühlt sich durch seinen übermächtigen Nachbarn Indien in seiner Existenz bedroht. Um sich vor dieser vermeintlichen Gefahr zu schützen, verfolgt die militärische Führung eine Doppelstrategie. Zum einen sucht man den Schulterschluss mit Washington, von dem die Armee, die Marine und die Luftwaffe Pakistans einen Großteil ihrer Rüstungsgüter beziehen. Zum anderen betreibt sie einen von Dschihadis angeführten Aufstand in Kaschmir, weil sich dadurch die gewaltige und mit konventionellen Waffen unbesiegbare indische Armee einigermaßen in Schach halten lässt.9 Für diesen zweiten Teil der Strategie kann der Geheimdienst ISI auf ein großes Potenzial von Gotteskriegern zurückgreifen. Seit den 1980er-Jahren werden in Lagern an der Grenze zu Afghanistan zig Gruppen ausgebildet, die (ähnlich wie die viel prominentere al-Qaida) aus freischwebenden islamischen Extremisten bestehen. Viele dieser Gruppen wurden von der ISI ausgehalten und anfangs von der CIA finanziert10 . Bis zum 11. September 2001 hatte Pakistan solche Dschihad-Gruppen auch eingesetzt, um die propakistanische Taliban-Regierung in Kabul zu stützen.

Nach diesen Zusammenhängen wollte ich den früheren ISI-Chef General Hamid Gul befragen – ein glühender Islamist, der seit den 1980er-Jahren die Politik des pakistanischen Geheimdienstes stärker beprägt hat als jeder andere. Gul macht kein Geheimnis daraus, dass er mit Ussama Bin Laden befreundet ist und ihn bewundert. Er beschreibt ihn als „eine romantische Figur“, einen „sensiblen, bescheidenen, höflichen Menschen“, den die CIA mit großer Begeisterung aufgepäppelt habe: „Sie haben ihn bewundert: Ein Prinz, der sein Luxusleben aufgegeben hat, um für eine hehre Sache in Höhlen und Hütten zu leben! Alle meine Informationen über ihn bekam ich immer von den CIA-Leuten hier in Islamabad, von Agenten und Offizieren. Die luden ihn immer zu ihren Gartenpartys in der Botschaft ein.“

Was den Mord an Pearl betrifft, betont Gul erwartungsgemäß, die ISI sei „niemals in die Ermordung eines Westlers verwickelt gewesen – solche Operationen machen sie einfach nicht“. Doch über die Beteiligung der ISI an Operationen in Kaschmir spricht er ganz offen und ohne ein Wort der Entschuldigung: „Wenn sie die Leute in Kaschmir unterstützen, ist das verständlich. Das Volk dort widersetzt sich, es hat dabei die UN-Charta auf seiner Seite, und Pakistans nationale Aufgabe ist es, den Menschen bei ihrer Befreiung zu helfen. Indien ist so riesig, so groß, so grausam. Wenn die Dschihadis ausziehen, um Indien in Schach zu halten, ihre Armee in Kämpfe auf ihrem eigenen Boden zu verwickeln, für ein legitimes Anliegen, warum sollten wir sie dann nicht unterstützen?“

Und hier genau liegt der Hund begraben. Die gezielte Entsendung islamistischer Gewalttäter ist nach wie vor zentral für die pakistanische Strategie gegenüber Indien, wie andererseits das Bündnis mit den USA. Das ist ein Widerspruch, der für die Pakistaner immer schwerer aufzulösen ist.

Die von Pakistan unterstützten Gotteskrieger sind nur schwer zu überwachen und im Zaum zu halten. Die ISI mag glauben, dass sie Leute wie Omar Sheikh für ihre eigenen Zwecke in Kaschmir und Afghanistan einsetzen kann, aber wie die Ermordung von Daniel Pearl gezeigt hat, stellen die Islamisten ihre eigenen Interessen über die nationalen Interessen Pakistans. Inzwischen sind die verschiedenen Dschihad-Organisationen ihren Geburtshelfern über den Kopf gewachsen. Mit ihren destruktiven Aktionen treffen sie nicht nur den indischen Teil Kaschmirs, sondern auch Pakistan, wo sie darauf aus sind, die letzten Reste einer Zivilgesellschaft von innen zu zerstören. Seit den 1990er-Jahren haben Dschihadis, die in den Lagern der Islamisten ausgebildet wurden, in Pakistan tausende religiös motivierte Morde begangen. So wird etwa ein Mann namens Naeem Buchari, der an der Entführung Pearls beteiligt war, von der pakistanischen Polizei gesucht, weil er mit der Ermordung vieler Schiiten in Karatschi zu tun haben soll.

Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass Präsident Musharraf begreift, welche Bedrohung die Gotteskrieger für die künftige Existenz Pakistans als funktionsfähiger einheitlicher Staat darstellen. Musharraf hat bereits viele der ISI-Generäle abgelöst, die den Islamisten nahe stehen, darunter auch den Geheimdienstchef Mahmud Achmed. Auch arbeiten die pakistanischen Stellen jetzt offenbar besser mit den US-Institutionen zusammen. Das zeigt sich auch in der Festnahme einiger arabischer, aber auch anderer Verdächtiger, die der al-Qaida angehören sollen.

Die Kaschmirpolitik Pakistans jedoch bleibt im Wesentlichen unverändert. Auch heute noch betreiben größere Einheiten der Taliban ungeniert ihre Stützpunkte auf pakistanischem Gebiet und in Quetta, der Hauptstadt der pakistanischen Grenzprovinz Belutschistan. Es ist offensichtlich, dass die ISI nicht alles in ihrer Macht Stehende tut, um ein Comeback der Taliban in Afghanistan zu verhindern. Die Führung in Islamabad wird sich entscheiden müssen zwischen der Unterstützung durch die Vereinigten Staaten und einem Bündnis mit den Gotteskriegern. Beides zugleich kann sie nicht haben. Von der Wahl, die sie trifft, wird nicht nur die Zukunft des Landes abhängen, sondern auch die Chance der USA, mit den islamischen Extremisten auf der ganzen Welt fertig zu werden.

deutsch von Niels Kadritzke

* Journalist. Dieser Artikel erschien in einer längeren Fassung in der New York Review of Books vom 4. Dezember 2003.

Fußnoten: 1 Die Sindhis sind die Bewohner der Provinz Sindh, deren Hauptstadt Karatschi ist. 2 Mariane Pearl (zusammen mit Sarah Crichton), „A Mighty Heart: The Brave Life and Death of My Husband, Danny Pearl“, New York (Scribner) 2003. 3 Darauf deutet v. a. die Tatsache hin, dass Omar Sheikh bei vorangegangenen Entführungen versucht hatte, kaschmirische Extremisten aus indischen Gefängnissen freizupressen. 4 Bernard-Henri Lévy, „Wer hat Daniel Pearl ermordet? Der Tod eines Journalisten und die Verstrickungen des pakistanischen Geheimdienstes mit al-Qaida“, Düsseldorf (Econ) 2003. 5 Noch grotesker ist, wie sich Lévy als Möchtegern-James-Bond zeichnet, als einsamer Held in seinem eigenen Spionageroman. Er schläft jede Nacht in einem anderen Hotel, gibt sich Gesprächspartnern gegenüber eine „Legende“ als Autor, der an einem Roman schreibt, und fühlt sich ständig verfolgt. Das Ganze liest sich streckenweise wie eine Parodie. 6 Pearl hatte am 24. Dezember 2001 zusammen mit einem Kollegen einen Artikel publiziert, der die Frage aufwarf, wie sicher die atomaren Geheimnisse der Pakistaner sind und ob Elemente innerhalb der ISI ein Interesse daran haben, solche Geheimnisse an die Taliban oder die al-Qaida weiterzugeben. 7 Zu einem völlig entgegengesetzten Urteil kommt der Pakistan-Experte des BBC, Owen Bennett Jones, in seinem Buch: „Pakistan, Eye of the Storm“, Yale (Yale University Press) 2002. 8 Das kann angesichts der bekannten Kontakte zwischen der Harkat ul-Mudschaheddin und der al-Qaida nicht überraschen. Siehe Peter L. Bergen, „Heiliger Krieg Inc.“, Berlin (Siedler) 2001. 9 Die ISI beaufsichtigte nicht nur die Ausbildungslager in Kaschmir, sondern lieferte auch die militärische Ausrüstung und registrierte alle Teilnehmer. Siehe Owen Bennett Jones (Anm. 7), S. 27. 10 Nach dem Rückzug der Sowjetunion übernahm der saudische Geheimdienst die Rolle der CIA. Nach einer verlässlichen Quelle haben die USA für diese Gruppen 7 Milliarden Dollar ausgegeben. Siehe Craig Baxter und Charles Kennedy, „Pakistan 2000, Karatschi“, Oxford University Press 2000, S. 157.

Le Monde diplomatique vom 12.12.2003, von WILLIAM DALRYMPLE