12.12.2003

Der Emir von Südwestafghanistan

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Der Emir von Südwestafghanistan

NACH dem Sieg über die Taliban stand für Afghanistan ein ambitioniertes Projekt namens Nationbuilding auf der Agenda. Doch zwei Jahre nach Bildung der Koalitionsregierung unter Präsident Karsai beschränkt sich die Autorität der Zentralregierung noch immer auf die Hauptstadt Kabul. Das Land produziert 36-mal mehr Opium als zu Zeiten der Taliban. In den Regionen herrschen nach wie vor die „starken Männer“, die sich weder von der Regierung noch von den internationalen Organisationen in ihre Angelegenheiten – und in ihre Geschäfte – hinreinreden lassen. Ein aufschlussreiches Beispiel für die faktische Autonomie der regionalen Autoritäten ist die Provinz Herat an der Grenze zum Iran.

Von JULIEN BOUSAC *

Es könnte die entscheidende Machtprobe werden: Am 24. Oktober 2003 startete die Regierung in Kabul ein Programm zur Entwaffnung der regionalen Milizen und ihrer partiellen Eingliederung in die künftigen nationalen Streitkräfte Afghanistans.1 Ismail Khan, Gouverneur der westafghanischen Provinz Herat, hatte schon zuvor sein Missfallen bekundet. Die in seiner Hauptstadt Herat stationierten Truppen seien ja bereits „Verbände der nationalen afghanischen Armee“, erklärte er im Juli, denn: „Sie haben ihre Waffen an zentrale Depots übergeben.“2 Und mit Blick auf die Pläne, die internationalen Friedenstruppen (Isaf) auch außerhalb Kabuls einzusetzen, ließ er wissen, die Isaf werde in Herat nicht willkommen sein. „Für Sicherheit und Ordnung ist hier längst gesorgt.“

Zwei Jahre nach der großen Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn3 ist das Land immer noch zerrissen. Die Mehrheit der Provinzen steht nicht unter Kontrolle der Zentralregierung. Noch scheint offen, ob die widerspenstigen lokalen Kräfte lediglich ein Überbleibsel aus der Vergangenheit sind oder aber als Keimzellen künftiger Instabilität gelten müssen.

In Herat zeigt sich in fast karikaturhafter Zuspitzung, vor welchen Schwierigkeiten die Übergangsverwaltung steht. Die Provinz grenzt an den Iran und an Turkmenistan, ihre gleichnamige Hauptstadt – die drittgrößte Stadt Afghanistans – ist ein lebendiger Handelsplatz mit gut entwickelten Verwaltungsstrukturen.4 Auch nach zwanzig Jahren Krieg gibt es hier noch eine gebildete Mittelschicht. Dass die Regierung in Kabul die Provinz nicht kontrolliert, ist also nicht etwa auf die Auflösung der lokalen Sozialstrukturen zurückzuführen, sondern auf den Widerstand der lokalen Machthaber.

Nachdem die örtlichen Taliban-Führer – von denen keiner aus der Region stammte – am 11. November 2001 geflohen waren, besetzte zunächst die Bevölkerung die wichtigen Schaltstellen. Doch schon einen Tag später rückte der Kriegsherr Ismail Khan ein, dessen Truppen von den Bergregionen der Nachbarprovinz Ghor aus seit langem Kommandoaktionen gegen die Taliban geführt hatten. Als Führer der Mudschaheddin hatte Ismail Khan seit 1979 in seinem Kampf gegen die sowjetische Besatzung die Unterstützung des Westens genossen. In Herat hatte er schon von 1992 bis 1995 als Gouverneur residiert, ehe die Stadt dann an die Taliban fiel. Bei seiner Rückkehr im November 2001 konnte er auf gewisse Sympathien rechnen. Die Bevölkerung von Herat war stets gegen die Taliban eingestellt und hatte den vertriebenen Gouverneur in guter Erinnerung, weil er die Provinz lange aus dem in Kabul wütenden Bürgerkrieg hatte heraushalten können.

Ismail Khan brachte den Machtapparat der Provinz schnell unter seine Kontrolle und verschaffte sich umgehend die Legitimation durch den Obersten Rat der Korangelehrten in Herat. Obwohl er die Abkommen von Bonn nicht unterzeichnet hatte, ernannte ihn die neue Regierung in Kabul zum Provinzgouverneur. Doch die Beziehungen zwischen der Regierung Karsai und dem umstrittenen Kriegsherrn, der sich den Titel „Emir von Südwestafghanistan“ zulegte, waren von Anfang an gespannt.

Ismail Khan unterhält noch immer eine Armee von etwa 30 000 Kämpfern, die er vor allem aus Zolleinnahmen bezahlt. Die sollen ihm pro Jahr zwischen 50 Millionen und 200 Millionen US-Dollar einbringen – und bislang ist er nicht bereit, diese Gelder der Zentralregierung zu überlassen. Überdies begnügt er sich nicht mit der Macht in seiner Hochburg, sondern sieht sich als Herrscher über die fünf westlichen Provinzen Afghanistans. Aufsässige lokale Kommandeure müssen mit militärischen Strafaktionen rechnen.5 Ismail Khan pflegt gute Beziehungen zum Iran und versteht es, seine Gefolgsleute auch gegen den Willen der Zentralregierung mit einflussreichen Posten zu versorgen. Insgesamt hat er sich, obwohl er die Regierung in Kabul offiziell anerkennt, einen guten Teil der Regierungsmacht angeeignet.

Die Einwohner der Hauptstadt wissen es zu schätzen, dass Polizei und Milizen des Gouverneurs für Ordnung sorgen. Herat gilt als eine der sichersten Städte Afghanistans. Mädchen wie Jungen können Grundschulen und höhere Schulen besuchen, die Universität hat den Betrieb wieder aufgenommen. Die städtische Infrastruktur wird erneuert: Im Zentrum werden die Straßen neu asphaltiert, Verkehrsampeln und Straßenbeleuchtung funktionieren, öffentliche Parks werden gepflegt. Dank der guten Verbindungen zu den Nachbarländern hat sich der Handel wieder belebt. Noch fehlen die für den Wiederaufbau nötigen Investitionen, doch das Regime in Herat kann so viele Fortschritte vorweisen, dass seine Popularität gefestigt ist. Allerdings ist die erforderliche Planungssicherheit offenbar noch nicht erreicht. In den einzelnen Bereichen gibt es zu wenig kompetente Kräfte. Oft weiß man nicht einmal, was in Kabul beschlossen wurde. In der Provinzhauptstadt hört man allenthalben die Klage, die Korruption in der Verwaltung sei schlimmer als je zuvor.

Immer wieder wirft Gouverneur Ismail Khan der Regierung und der internationalen Gemeinschaft vor, für Herat werde „überhaupt nichts getan“. Die Vereinten Nationen und die internationalen Geberorganisationen beschränken sich auf humanitäre Hilfe, weil sie ein Regime, das sich der Zentralmacht widersetzt, nicht noch stärken wollen. Aber diese Form von Embargo nutzen die lokalen Machthaber aus: Zum einen können sie so ihre eigenen Leistungen in den Vordergrund stellen, und zum anderen können sie die internationale Intervention für alle möglichen Missstände verantwortlich machen – von den steigenden Preisen bis zum „Verfall der Sitten“.

Ausländer dürfen nicht ins Haus gebeten werden

MIT der Sittenstrenge der Talibanzeit ist es zwar vorbei, doch an einigen Verboten hält auch der neue Gouverneur fest. Alkohol und öffentliche Musikveranstaltungen sind tabu, das einzige Kino der Stadt bleibt geschlossen. Auch andere Vorschriften erinnern eher an frühere Zeiten: man darf keine Ausländer ins Haus bitten,6 Frauen dürfen sich nicht von Männern Privatunterricht erteilen lassen,7 Lautsprecherübertragungen von Musik sind verboten8 . Immerhin können Frauen wieder arbeiten gehen, doch der Zugang zu politischen Ämtern bleibt ihnen verwehrt. Selbst Frauen, die vor Ankunft der Taliban unverschleiert gingen, wagen es heute kaum noch, sich ohne Tschador zu zeigen.

Ismail Khan schätzt demagogische Auftritte. Dabei kann er sich als Hüter der Tradition und Fackelträger des Nationalismus aufspielen und sich gegen Staatspräsident Karsai profilieren, der weithin als Marionette des Westens gilt. Damit gewinnt Khan die Sympathien vor allem der frommen Muslime, aber auch anderer wichtiger Gruppen.9

Wie populär der Herrscher von Herat tatsächlich ist, lässt sich schwer abschätzen. Potenzielle Gegner haben nichts zu lachen. Willkürliche Verhaftungen und Einschüchterungen jeder Art sind an der Tagesordnung. Davon weiß etwa der „Rat“ (schura) der Berufsverbände zu berichten. Dieses eher unpolitische Organ, das die Bildungselite von Herat repräsentiert, ist fast das einzige Anzeichen für ein Wiederaufleben der Zivilgesellschaft, obwohl es nur als technische Beratungsinstanz fungiert. Die Machthaber kontrollieren natürlich die einzige Tageszeitung der Stadt und den einzigen Fernsehsender, der in der Provinz zu empfangen ist. Unabhängige Journalisten werden offen bedroht.10 Die Schiiten – die in Herat stark vertreten sind – und die Paschtunen klagen, dass sie von der Teilhabe an der Macht weitgehend ausgeschlossen sind. Die im Juni 2002 durchgeführten Wahlen zur außerordentlichen „Loja Dschirga“, der traditionellen Stammesversammlung, brachten ein eindeutiges Ergebnis: Aus den westlichen Provinzen wurden nur Gefolgsleute von Ismail Kahn in die Ratsversammlung entsandt.

Nachdem Human Rights Watch zwei äußerst kritische Berichte über die Missachtung der Bürgerrechte in Herat veröffentlicht hatte,11 konnten sich immerhin eine örtliche Menschenrechtskommission und ein „Rat der Frauen“ konstituieren. Allerdings hat das Regime die Mitglieder ernannt. Solche Imagekorrekturen kann sich der Gouverneur von Herat leisten, weil seine Macht offenbar solide abgesichert ist: durch geschickte ideologische Anpassung, durch seine historisch begründete Legitimität, durch seine wirtschaftliche Macht, durch seine Rolle als Ordnungshüter und nicht zuletzt durch seinen Unterdrückungsapparat.

Im Frühjahr 2003 verstärkte die Regierung in Kabul den Druck auf die Provinzen. Ministerpräsident Karsai erwirkte im Mai von den meisten Gouverneuren die schriftliche Zusage, dass sie die Kompetenzen der Zentralregierung respektieren wollen. Am 2. Juni erklärte sich auch Herat bereit, Zolleinnahmen in Höhe von 20 Millionen US-Dollar an Kabul abzuführen. Doch der Konflikt ist damit nicht beendet: Eigentlich hätte Ismail Khan am 17. August seine Funktion als militärischer Oberbefehlshaber von Herat aufgeben müssen, weil sie nach den neuen Regeln mit seinem Gouverneursamt nicht länger vereinbar ist. Doch bislang übt der von Kabul ernannte Kommandeur seine Befehlsgewalt nur theoretisch aus.

Dennoch gibt es zwischen Herat und Kabul nach wie vor eine Zusammenarbeit. Die Gehälter der Beamten werden aus Kabul angewiesen – wenn auch unregelmäßig – und im Oktober 2002 wurde die neue afghanischen Währung ohne größere Probleme eingeführt. In manchen Bereichen, etwa im Gesundheitssektor, hat sich die Kooperation in der jüngsten Zeit deutlich verbessert. Ismail Khan verfügt zudem über einen direkten Draht nach Kabul: Sein Sohn Mirwais Sadeq ist Minister für Zivilluftfahrt und Tourismus.

Positiv könnte sich auch der Druck der internationalen Gemeinschaft auswirken. Hier spielen die USA allerdings eine zweifelhafte Rolle. Washington unterstützt natürlich die Regierung in Kabul und deren Absicht, „Teams für den Wiederaufbau“12 in die Provinz Herat zu entsenden. Doch Ismail Khan hat es verstanden, sich durch eine entschlossene Haltung gegen die neuen Angriffe der Taliban, gegen den Terrorismus und den Opiumanbau zum Verbündeten der USA zu machen. Es kommt sogar vor, dass bei großen staatlichen Zeremonien US-Spezialeinheiten für die Sicherheit in Herat sorgen.

Die neueren Entwicklungen dürften dem „Emir von Südwestafghanistan“ kaum gefährlich werden. Vom „nationalen Wiederaufbau“, der in Kabul ständig beschworen wird, bleibt Herat unberührt. In der Hauptstadt hat eine von der außerordentlichen Loja Dschirga bestimmte Übergangsregierung das Sagen, die bis zu den für Juni 2004 vorgesehenen Wahlen im Amt bleiben soll. Über den Entwurf einer neuen Verfassung wird das vorläufige Parlament noch im Dezember abstimmen. Wie das Beispiel Herat zeigt, vollziehen sich diese Schritte jedoch im Schatten der Gewalt und ohne dass die Meinungsfreiheit garantiert wäre.

Die Kräfteverhältnisse im heutigen Afghanistan finden ihren Ausdruck in der Zusammensetzung der Zentralregierung. Die muss schon deshalb als unausgewogen gelten, weil ihr erstaunlich viele Vertreter der früheren Nordallianz (Tadschiken aus dem Pandschir) angehören.13 Die Bevölkerung sieht mit Skepsis, dass es viele Kriegsherren aus der Zeit des Bürgerkriegs von 1992 bis 1996 zu Ministerposten gebracht haben. Und dass der Wiederaufbau in Kabul nur schleppend vorangeht, trägt auch nicht gerade zur Vertrauensbildung bei.

Hinzu kommt, dass die internationale Hilfe nicht im versprochenen Umfang eingetroffen ist: In den ersten sieben Monaten des laufenden Haushaltsjahrs erhielt Afghanistan nur 42 Prozent der für das Jahr zugesagten Finanzmittel.14 Besonders aufschlussreich ist dabei, dass die für Entwaffnung und Reintegration der Milizen vorgesehenen Summen nur zu 26 Prozent ausgezahlt wurden, die für Polizeiaufgaben vorgesehenen Gelder sogar nur zu 15 Prozent.15

Mit Blick auf die Wahlen haben die wichtigsten politischen Akteure ihre Ambitionen bereits signalisiert. Am 8. Oktober trafen sich Ismail Khan und General Dostum, um sich auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen, der gegen Karsai antreten soll. Es steht zu befürchten, dass die Abstimmung im Juni 2004 erneut die Kräfte legitimieren wird, die sich schon immer auf ihre militärische Potenz stützen konnten: die Pandschiris der früheren Nordallianz und die mächtigsten Provinzfürsten.

Die afghanische Realität will sich einfach nicht an den auf dem Petersberg beschlossenen Zeitplan halten. Wie sollen aber auch legitimierte und anerkannte nationale Einrichtungen geschaffen werden, wenn deren unerlässliche Vorbedingung nicht gegeben ist: der Wille nämlich, die Abmachungen von vor zwei Jahren strikt einzuhalten? Inzwischen gibt es viele Anzeichen für eine erneute Destabilisierung des Landes: das Wiedererstarken der Taliban, die explosionsartige Zunahme des Opiumanbaus (für sich schon eine zentrifugale Kraft ersten Ranges),16 die typische Säumigkeit der internationalen Geldgeber und die Aussicht, dass die ausländischen Truppen auf mittlere Sicht das Land verlassen werden. Durch das neue Afghanistan geistern die alten Gespenster.

deutsch von Edgar Peinelt

* Mitarbeiter einer humanitären Organisation, lebte ein Jahr lang in Herat.

Fußnoten: 1 Siehe „Disarmament and Reintegration in Afghanistan“, International Crisis Group, Brüssel, 30. September 2003. 2 Verlautbarungen vom 23. und 27. Juli 2003. 3 Das am 5. Dezember 2001 zwischen den wichtigsten Clans und Interessengruppen Afghanistans geschlossene Abkommen sah vor allem die Bildung einer Zentralregierung und die Entsendung einer internationalen Friedenstruppe vor. 4 Die Provinz hat circa 2 Millionen Einwohner, die Stadt Herat um die 400 000. 5 Zurzeit führt Ismail Khan in der Region Shindand, im Süden von Herat, einen Feldzug gegen den paschtunischen Kriegsherrn Amanullah Khan. 6 Es handelt sich um ein mündliches Verbot, das Ismail Khan im Juni 2002 bei einer offiziellen Zusammenkunft ausgesprochen hat. 7 Erlass vom 10. Januar 2003. 8 Erlass vom 1. März 2003. 9 Für seine öffentlichen Auftritte bevorzugt Ismail Khan die Große Moschee von Herat. 10 Am 25. März 2003 wurde der Vertreter von Radio Free Afghanistan in Herat von Sicherheitskräften angegriffen, als er sich bei der Eröffnung eines Büros der Unabhängigen afghanischen Kommission für die Menschenrechte zeigte; anschließend musste er die Stadt verlassen. 11 „All our hopes are crushed: Violence and repression in Western Afghanistan“, Human Rights Watch, New York, 5. November 2002; „We want to live as humans: Repression of women and girls in Western Afghanistan“, Human Rights Watch, New York, 17. Dezember 2002. 12 Die „Aufbauteams“ bestehen aus militärischem und zivilem Personal und werden von der westlichen Allianz entsandt. Ihre Aufbauleistungen in den Provinzen sollen die Autorität der Regierung in Kabul stärken. 13 Siehe „The problem of Pashtun alienation“, International Crisis Group (ICG), Brüssel, 5. August 2003. 14 Afghanistan Donor Assistance Database (Kabul), 28. Oktober 2003. 15 Schon die bewilligte Gesamtsumme entsprach nur der Hälfte des Budgetansatzes, den die Regierung gefordert hatte. 16 Für 2002 lag der geschätzte Erlös aus dem Opiumgeschäft bei 2,5 Milliarden US-Dollar – etwa die Hälfte des offiziellen Bruttoinlandsprodukts.

Le Monde diplomatique vom 12.12.2003, von JULIEN BOUSAC