Flugzeug ohne Pilot
DIE Zukunft des Kosovo ist nicht nur ungewiss, sondern wird bewusst in der Schwebe gehalten. Solange die serbische Bevölkerung im Norden noch keine gesicherten Existenzrechte hat, ist an eine Diskussion über den künftigen völkerrechtlichen Status des Gebiets nicht zu denken. Auch die vorläufige Verwaltung durch eine UN-Mission (Unmik) ist keine Dauerlösung. Und die Erwartung, dass die albanische Mehrheit der Kosovaren bei einer langfristigen Aussicht auf EU-Mitgliedschaft dem Ziel der Unabhängigkeit abschwören könnte, ist eine Illusion. Die Verweigerung dieser Perspektive könnte eher dem großalbanischen Irredentismus weiteren Auftrieb geben.
Von JEAN-ARNAULT DÉRENS *
Erstmals seit dem Ende des Kosovokrieges trafen am 14. Oktober 2003 in Wien Vertreter Serbiens und der Kosovo-Albaner zu direkten Gesprächen zusammen. Wenige Tage später verhungerte in einem Dorf im Kosovo ein alter Mann, der als letzter Serbe in seinem Dorf geblieben war. Keiner seiner albanischen Nachbarn hatte sich um ihn gekümmert. Hinter der kleinen Meldung verbirgt sich eine kollektive Tragödie: Viereinhalb Jahre nach Kriegsende leben im UNO-Protektorat Kosovo noch immer 80 000 Serben unter unmenschlichen Bedingungen.1
Die Nato hatte im Frühjahr 1999 ihre Intervention im Kosovo damit begründet, dass sie das serbische Regime von Slobodan Milošević zum Abzug seiner Sicherheitskräfte zwingen müsse, um die Übergriffe gegen die albanische Bevölkerung zu stoppen. Mit der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats wurde das Kosovo unter vorläufige UN-Verwaltung gestellt, allerdings „unter Beachtung der territorialen Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien“. Diese Verpflichtung gilt auch gegenüber der Konföderation Serbien-Montenegro, die am 5. Februar 2003 die Rechtsnachfolge des alten Jugoslawien antrat.
Seither mahnt die Regierung in Belgrad immer wieder die strikte Umsetzung der Resolution 1244 an, was auf die schrittweise Rückgewinnung der serbischen Souveränität über das Kosovo hinauslaufen würde. So ist etwa in der Resolution vorgesehen, dass die serbischen und montenegrinischen Grenztruppen in das Gebiet zurückkehren. Im Gegensatz dazu versucht die UN-Mission im Kosovo (Unmik), von Grund auf neue, eigenständige staatliche Institutionen aufzubauen. Damit geriet sie allerdings in einen ständigen Konflikt mit den im Mandat der UN-Mission festgelegten Bestimmungen.
Im Mai 2003 begann mit großer Verzögerung die Kosovo Trust Agency (KTA) – eine Abteilung der Europäischen Agentur für Wiederaufbau im Kosovo – mit der Privatisierung von Unternehmen. Allerdings musste die KTA die im September begonnene dritte Runde der Ausschreibungen stornieren. Denn die Unternehmen gehören nach jugoslawischem Recht immer noch zum sozialisierten Wirtschaftssektor. Ein US-amerikanischer Geschäftsmann, der ein Sägewerk in Peć erworben hatte, rief wegen einer Streitigkeit ein New Yorker Gericht an. Damit drohten den Mitarbeitern der KTA sogar strafrechtliche Konsequenzen, weil sie etwas privatisiert hatten, was ihnen gar nicht gehörte.2
Das Beispiel veranschaulicht die absurde Situation der internationalen Organisationen im Kosovo: Sie sollen ihre Aufgaben in einer Region mit 50 Prozent Arbeitslosen erfüllen, können aber kaum ein Entwicklungsprojekt voranbringen, weil die rechtlichen Voraussetzungen ungeklärt bleiben. „Als ich im Jahr 2000 ins Kosovo kam, legten sich alle Vertreter der internationalen Organisationen ins Zeug, um irgendwie die Wirtschaft anzukurbeln“ sagt der Mitarbeiter einer humanitären Organisation. „Aber inzwischen scheint niemand mehr an irgendeine Form rentabler Produktion zu glauben. Man geht davon aus, dass die Region auf Dauer nur von internationalen Hilfszahlungen, den Überweisungen der Exilalbaner und den Gewinnen des organisierten Verbrechens leben kann.“ Eine große Mehrheit der albanischen Bevölkerung wünscht die Unabhängigkeit des Kosovo. Auch ihre Führung sieht das internationale Protektorat nur als eine Etappe auf dem Weg zur nationalen Souveränität. Der Kosovo-Experte Branislav Milošević meinte kürzlich, die Resolution 1244 sei „eine Art Heilige Schrift geworden, an die niemand mehr glaubt“, weil die Unmik außerstande gewesen sei, eine „offizielle Lesart“ durchzusetzen.3
Das Kosovo ist heute nach den Worten des albanischen Publizisten Veton Surroi wie „ein Flugzeug ohne Pilot“.4 Das Wiener Treffen war nicht viel mehr als eine PR-Aktion der internationalen Gemeinschaft, die den medienwirksamen Händedruck zwischen den Vertretern von Serben und Albanern wollte. Beide Seiten mussten sich zu einem Dialog verpflichten, um internationale Sanktionen zu vermeiden, beharren jedoch auf weitgehend unvereinbaren Positionen.
Überdies hatte der seit Juli amtierende Unmik-Leiter, der Finne Harri Holkeri, aus „protokollarischen Gründen“ aus der albanischen Delegation die Minister für Flüchtlingsfragen Milorad Todorović (serbischer Herkunft) und die Gesundheitsministerin Resmija Mumdzija (türkischer Herkunft) ausgeschlossen. Bajram Rexhepi, der Ministerpräsident des Kosovo, hatte bereits zuvor die Teilnahme verweigert. Rexhepi gehört der Demokratischen Partei des Kosovo (PDK) an, in der sich die meisten der ehemaligen Kämpfer der Kosovo-Befreiungsarmee UÇK organisiert haben. Obwohl auch die PDK die Gespräche grundsätzlich akzeptierte, reisten nur zwei Vertreter der gemäßigten Demokratischen Liga des Kosovo (LDK) nach Wien: der Staatspräsident (und LDK-Vorsitzende) Ibrahim Rugova – eine moralisch hoch geachtete Persönlichkeit ohne politische Macht – und Parlamentspräsident Nexhat Daci. Damit mussten die LDK-Vertreter wieder einmal befürchten, als „Verräter“ abgestempelt zu werden, falls sie sich ernsthaft auf Gespräche mit dem serbischen Erzfeind einließen.
Nikola Kabasić, der langjährige Vorkämpfer für die Bürgerrechte im überwiegend serbischen Norden des Kosovo, übt aber auch an der LDK scharfe Kritik: „Rugovas Positionen sind kaum weniger radikal als die anderer Nationalisten. In den zwei Jahren seiner Präsidentschaft hat er nicht ein Mal das Gespräch mit Vertretern der Serben gesucht oder sich persönlich ein Bild von der Lage in den Enklaven gemacht.“ Nach Kabasić wird es „ernsthafte Gespräche erst dann geben, wenn die albanischen Politiker den Mut finden, auch die Verantwortung für ihre serbischen Mitbürger zu übernehmen. Sie müssen sich von den Gewaltakten, der Einschränkung der Bewegungsfreiheit und der Bürgerrechte klar distanzieren und aufhören, alle Serben als Kriegsverbrecher und Bürger zweiter Klasse zu behandeln.“
Bislang erscheint den albanischen Führern eine solche Öffnung offenbar als zu riskant. Auch aus der Zivilgesellschaft kommen keine Impulse. Seit 1999 gehen die Versuche, einen Dialog zwischen den Bevölkerungsgruppen im Kosovo zu stiften, stets auf ausländische Initiativen zurück und finden kaum Resonanz.
Nikola Kabasić zieht ein bitteres Resümee: „Die Albaner sind nur an den politischen Vorteilen interessiert, die sie propagandistisch nutzen können; auch für die Regierung in Belgrad ist das Kosovo nur ein Wahlkampfthema, und die internationale Gemeinschaft beschränkt sich darauf, die Konfliktparteien im Zaum zu halten.“
Das zivile Personal der Unmik und der internationalen Organisationen geht in die tausende. Auf kommunaler Ebene dürfen die Unmik-Vertreter – die meist nur sechs Monate oder ein Jahr vor Ort bleiben – auch Entscheidungen der 2001 gewählten Gemeinderäte aufheben. Über diese Leute hört man höchst bizarre Geschichten: So soll ein mauretanischer Experte zu einer albanischen Gewerkschaftsdelegation gesagt haben: „Im Kosovo herrscht jetzt Demokratie, da gibt es keinen Sozialismus mehr und auch keine Gewerkschaften.“
Drehscheibe des Menschen- und Drogenhandels
WIEDERHOLT geriet die internationale Verwaltung durch Korruptionsfälle in Verruf, die auch in höchsten Kreisen spielten. Im Dezember 2002 wurde der deutsche Direktor der Kosovo-Elektrizitätsgesellschaft (KEK) in Deutschland verhaftet, weil von den KEK-Konten 4,5 Millionen Euro internationale Hilfsgelder verschwunden waren.5
Zu den größten Problemen der UN-Verwaltung gehört die Ausbreitung des organisierten Verbrechens. An den Grenzen floriert der Schmuggel, und mehr denn je fungiert das Kosovo als Drehscheibe für den Drogen- und Menschenhandel. In der Bekämpfung dieser Kriminalität sind die UN-Polizeikräfte auf die Zusammenarbeit mit der Polizei des Kosovo (KPS) angewiesen, die sich aus der albanischen Bevölkerung rekrutiert. Diese Truppe ist allerdings vom organisierten Verbrechen und Agenten der UÇK unterwandert und kontrolliert etwa auch den Einsatz der Übersetzer, die für die UN-Polizei unentbehrlich sind.
Am 14. Oktober demonstrierten in Priština knapp tausend Anhänger der Volksbewegung des Kosovo (LPK) und der Nationalen Befreiungsbewegung des Kosovo (LKÇK)6 gegen die Gespräche in Wien und forderten ein Ende der „internationalen Besetzung“. Schon zu Beginn des Nato-Einsatzes im Kosovo hatte der frühere US-Außenminister Henry Kissinger gemahnt, dass die westlichen Demokratien über ihren „humanitären“ Absichten nicht vergessen dürften, auch eine praktikable Lösung der Probleme vorzulegen, die sie mit militärischen Mitteln in den Griff bekommen wollten. Andernfalls werde die Intervention nur dazu führen, dass die Albaner statt der Serben die Nato-Friedenstruppe als Gegner im Kampf um die Unabhängigkeit wahrnähmen.
Seit dem EU-Gipfel von Thessaloniki im Juni 2003 gilt eine neue europäische „Kosovo-Doktrin“: Wie alle Länder des „westlichen Balkans“ (der neue Begriff meint Albanien und die ehemaligen Bundesrepubliken Jugoslawiens mit Ausnahme Sloweniens) wird dem Kosovo das „natürliche“ Recht attestiert, eines Tages dem vereinten Europa anzugehören. Die Hoffnung auf einen EU-Beitritt soll bewirken, dass sich alle Gebietskonflikte mit der Zeit in Wohlgefallen auflösen und die Region zu dauerhaftem Frieden findet. Auf einen Zeitplan wollten sich die Regierungen der EU-Länder allerdings nicht festlegen.
Die Fortdauer des Status quo wird gegenüber der albanischen Bevölkerung neuerdings als logische Konsequenz der vagen Aussicht auf den EU-Beitritt dargestellt. Doch den Angesprochenen geht allmählich die Geduld aus. Seit Frühjahr 2003 werden im Kosovo, in Mazedonien und im südserbischen Preševotal die Anschläge und Überfälle wieder häufiger, die auf das Konto der „Albanischen Nationalarmee“ (ANA) gehen. Die ANA fordert die Vereinigung aller „albanischen Gebiete“ auf dem Balkan zu einem „ethnisch homogenen albanischen Staat“. Schon 2001 hatte die ausweglose Situation im Kosovo zu Guerillaaktionen in Mazedonien und dem Preševotal geführt – damals sprach man von „Einzelaktionen“.
Noch genießt die ANA keine breite Unterstützung, während sie andererseits eng mit dem kriminellen Milieu verbunden ist. Für die Mehrheit der Albaner bleibt die Hoffnung auf ein unabhängiges Kosovo greifbarer als die Vision eines „Großalbanien“. Doch die internationale Gemeinschaft will von neuen Grenzen in der Region nach wie vor nichts wissen, weil sie fürchtet, dass dies zu einer Kettenreaktion von Gebietsansprüchen führen würde. Aber genau deshalb kann Ibrahim Rugova immer wieder warnen, dass der Extremismus zunehmen werde, so lange man dem Kosovo die Unabhängigkeit verweigere.
In den wichtigsten Aufnahmeländern – Deutschland, Belgien, Schweden und die Schweiz – ist der Flüchtlingsstrom der Kosovo-Albaner längst zum innenpolitischen Thema geworden. Seit 1999 haben diese Länder ihr Asylrecht enger gefasst und mehr oder weniger drastische Maßnahmen zur Rückführung von Flüchtlingen getroffen. Die Albaner im Kosovo weisen heute den niedrigsten Altersdurchschnitt in Europa auf. Wenn ihre Hoffnungslosigkeit zunimmt, ist eine neue Auswanderungswelle ebenso gewiss wie die Radikalisierung der Menschen, die im Land bleiben.
deutsch von Edgar Peinelt
* Journalist, Belgrad. Chefredakteur des Courrier des Balkans.