Sieben Säulen für Afrika
IN den afrikanischen Gesellschaften, die eher in ethnische Gruppen denn in soziale Klassen oder Schichten unterteilt sind, ist es bislang keinem demokratischen Modell gelungen, den im Zuge der Unabhängigkeit entstandenen Staaten wirkliche Legitimität zu verleihen. Auch die auf den Nationalkonferenzen der 1990er-Jahre beschlossenen Maßnahmen vermochten nicht zu greifen. So entstand die Debatte um ein „afrikanisches Modell“, das dem Zerfall der Staaten entgegenwirken soll. Modelle, die zwischen den vorhandenen Gemeinschaften und staatlichen Institutionen für Durchlässigkeit sorgen, stehen noch aus.
Von THIERRY MICHALON *
Autoritäre Herrschaftsstrukturen und politische Instabilität sind die Hauptmerkmale vieler afrikanischer Staaten. Häufig wird die zentrale Staatsmacht durch bewaffnete Minderheiten herausgefordert oder durch Putschversuche bedroht. Bis auf wenige Ausnahmen (wie Südafrika) scheinen die afrikanischen Staaten, von der Elfenbeinküste bis nach Burundi, noch auf der Suche nach der eigenen Existenzgrundlage. Die zentrale Problematik, die all dem zugrunde liegt, könnte folgende sein: Den staatlichen Institutionen in Afrika fehlt es an Legitimität, um den von ihnen erlassenen Regeln auch Geltung zu verschaffen. Das heißt: Es gibt gar keinen Staat im eigentlichen Sinne.
Das rührt hauptsächlich daher, dass es nicht gelungen ist, den afrikanischen Staaten den modernen Nationalstaat zu implantieren, also Staaten zu bilden, die in der Lage wären, Regeln für das gesamte Staatsgebiet zu erlassen und deren Einhaltung ohne Zwangsmittel zu gewährleisten.
In afrikanischen Gesellschaften, die eher in ethnische Gruppen unterteilt als nach sozialen Klassen stratifiziert sind, haben sich in der Vergangenheit alle demokratischen Modelle – ob an der amerikanischen, französischen oder britischen Variante orientiert – als unfähig erwiesen, der Staatsgewalt wirkliche Legitimität zu verleihen. Zumal die Grundbegriffe des modernen Staates – juristische Person, Mehrheitsdemokratie sowie allgemeine Geltung der Gesetze – den afrikanischen Kulturen weitgehend äußerlich geblieben sind.
Die Idee der „juristischen Person“ – von Organisationen, die Rechtssubjekte und somit rechtsfähig sind – ist eine abstrakte. Eine juristische Person verfügt über materielle Mittel, hat Rechte und Pflichten sowie Handlungsmöglichkeiten, die unter Umständen auch Zwangsmaßnahmen beinhalten. Sie ist nicht zu verwechseln mit der natürlichen Person, die im Auftrag einer juristischen Person für eine gewisse Zeit bestimmte Rechte und Pflichten wahrnehmen oder über ein Vermögen verfügen kann. Die strikte Trennung zwischen juristischer und natürlicher Person ist dem in Afrika herrschenden Weltbild äußerst fremd. Hier werden öffentliche Gewalt und die Person des Staatschefs nicht auseinandergehalten; und da dieser in der Regel durch allgemeine Direktwahlen bestimmt wird, erscheint das Verfahren auch durchaus demokratisch. In Afrika jedoch führt es dazu, dass die staatlichen Institutionen hinter der Person des Staatschefs fast verschwinden und dieser als legitimer Hüter des Gemeinwohls auftreten kann.1
Die Vorstellung von Regeln, die abstrakt-generelle Gültigkeit besitzen – Gesetze, Vorschriften und Rechtsnormen also – ist den afrikanischen Gesellschaften weitgehend fremd geblieben. Hier dominieren vielmehr die auf Sitte und Brauchtum basierenden Regeln regionaler Teilkulturen, in denen das Rollengefüge einer eng begrenzten, kulturell homogenen Gemeinschaft von Generation zu Generation weitergegeben wird. Für die meisten Afrikaner ist bis heute nicht nachvollziehbar, wie ein und dieselbe, zudem von einer anonymen Institution erlassene Regel unterschiedslos für Millionen von Staatsbürgern gelten soll, wo die Menschen doch alle in Beziehungsnetze eingebunden sind, die ihnen sehr konkrete Rechte und Pflichten zuweisen. Folglich werden Gesetze und Vorschriften nicht wirklich als bindend empfunden, und der Versuch, diese durch Beziehungen zu umgehen, gilt als normaler Umgang mit der staatlichen Verwaltung.
In den europäischen Ländern hatten sich demokratischen, auf dem Mehrheitsprinzip basierenden Mechanismen erst durchsetzen können, nachdem Industrialisierung und Verstädterung die alten Formen der innergemeinschaftlichen Solidarität mehr und mehr verdrängt hatten. Das Ergebnis war eine ausgeprägte, auf dem Wissen um Interessengegensätze basierende soziale und berufliche Stratifizierung: die Herausbildung sozialer Klassen. Die Gegensätze zwischen den Interessen einiger weniger, die das freie Spiel des Marktes wollten, und der Übrigen, die über kollektive Bemühungen die dadurch entstandene Ungleichheit zu dämpfen versuchten, bildeten ein Jahrhundert lang den Motor des demokratischen Lebens. In diesem Prozess erlangten die staatlichen Institutionen samt der von ihnen erlassenen Regeln ihre politische Legitimität.
Den afrikanischen Gesellschaften ist all das fremd. Dort werden die Gruppen nach wie vor durch vertikale Formen von Solidarität zusammengehalten. Diese Gruppen bestehen aus Individuen mit zuweilen ganz unterschiedlicher sozialer und beruflicher Stellung, die auf Verwandtschaftsbeziehungen beruhen – oder auch auf sehr entfernten oder gar imaginierten Zugehörigkeiten, etwa zu einer gemeinsamen lokalen Subkultur – und die eine wechselseitige Verpflichtung zur Erbringung von gemeinschaftlichen Dienstleistungen begründen. Das politische Leben ist zwar einerseits „entpolitisiert“, denn es geht nicht um die Entscheidung über die Zukunft der Polis im Rahmen konkreter Wahlmöglichkeiten. Es ist aber andererseits auch extrem konfliktträchtig, weil es permanent die Rivalität zwischen Gruppen anheizt, die sich die in armen Gesellschaften besonders faszinierenden Attribute der Macht anzueignen versuchen.
In einigen afrikanischen Staaten wurden auf so genannten Nationalkonferenzen in den 1990er-Jahren demokratische Reformen beschlossen, deren Wirkungen jedoch äußerst formell blieben, weil beim Mehrheitswahlrecht die Gruppierung mit den meisten Parlamentssitzen automatisch an die Macht gelangt2 , während alle anderen leer ausgehen. Hinter den Konflikten zwischen „ethnisch“ homogenen Pseudoparteien bildet sich in Wahrheit ein System heraus, das die materiellen und symbolischen Ressourcen des Staates einer bestimmten ethnischen Gruppe zuschlägt, den anderen hingegen vorenthält. Mit der Folge, dass Letztere die Legitimität der Staatsmacht anzweifeln und die von ihr erlassenen Regeln und Gesetze ablehnen.
Dennoch kann man auch für solche Gesellschaften Verfahren ersinnen, die staatlichen Institutionen Legitimität verschaffen, indem man zum Beispiel föderative Strukturen einführt.3 Diese brechen mit dem alten Mythos, dass der rasche Aufbau der Nation – als entscheidende Grundlage des Nationalstaats – nur durch eine starke Zentralgewalt zu bewerkstelligen sei, und übertragen wesentliche Befugnisse an die (ethnisch homogenen) Regionen. Doch die Eliten im frankophonen Afrika haben dieses Modell immer abgelehnt, zum einen weil es nicht dem französischen Vorbild entspricht, zum andern weil es die Eliten in ihre jeweilige Herkunftsregion zurückverweisen würde. Damit müssten sie aber auf ihre persönliche Autonomie verzichten und sich wieder in archaische soziale Hierarchien einbinden lassen. Eine andere Lösung wäre ein nicht am Mehrheitsprinzip orientiertes Demokratiemodell, wie es in einigen europäischen Ländern praktiziert wird (etwa in den Niederlanden, aber auch in Belgien und in der Schweiz). Der amerikanische Politologe Arend Lijphart hat dieses Modell untersucht und dafür den Begriff Konsensdemokratie gefunden.4 Die niederländische Gesellschaft etwa ruht auf vier, wenn man so will, kulturellen „Säulen“ (verzuilingen)5 : den Katholiken, den Calvinisten, den Sozialisten und den Liberalen. Zwar gibt es innerhalb dieser Gruppen auch Klassenunterschiede, doch die spielen im alltäglichen Leben eine geringere Rolle als die jeweilige Gruppenzugehörigkeit.
Dennoch ist die niederländische Gesellschaft sehr stabil, denn sie hat ihre kulturelle Segmentierung institutionalisiert. Die politischen Parteien verstehen sich erklärtermaßen mehr als Vertreter der kulturellen Gemeinschaften denn als Vertreter sozialer Klassen. Bei den Parlamentswahlen gilt das Verhältniswahlrecht. Die Regierung ist nicht politisch homogen, sondern ihrerseits nach dem Verhältnis der im Parlament vertretenen Gruppen zusammengesetzt. Die stark auf Konsens ausgerichtete Regierung bildet also gleichsam ein „Gewölbe“ über den „Säulen“ der verschiedenen Gemeinschaften.
Der Gemeinschaft stiftende Proporz
IN Afrika könnte ein solches Modell der Zuteilung politischer Macht auf fünf Elementen beruhen: Erstens müssten qua Wahlmodus innerhalb der gesetzgebenden Versammlung die wichtigsten ethnischen Gemeinschaften proportional zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung vertreten sein. Zweitens könnte man eine breite Koalitionsregierung bilden, an der diese Gemeinschaften proportional zu ihrer Stärke im Parlament beteiligt wären. Drittens könnte die Verteilung öffentlicher Gelder und die der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen – und Positionen – nach demselben Proporz erfolgen. Viertens könnte man den Minderheiten ein Vetorecht zusprechen, sodass Entscheidungen einhellig, wie in afrikanischen Kulturen üblich, nach dem Konsensprinzip gefällt werden. Fünftens schließlich könnte man jeder der verschiedenen Gemeinschaften eine gewisse Autonomie bei der Behandlung ihrer eigenen Angelegenheiten zugestehen.
Die Verwirklichung eines solchen institutionellen Systems ist allerdings an einige Voraussetzungen geknüpft. Erstens muss es sich um ein Territorialgebilde von überschaubarer Größe handeln, das heißt, die betreffende Gesamtbevölkerung, die in eine begrenzte Zahl von Gemeinschaften zerfällt, die wiederum mehr oder weniger in einem bestimmten geografischen Raum konzentriert leben, darf nicht allzu groß sein. Diese Bedingung ist in den meisten afrikanischen Ländern gegeben. Die ethnische Durchmischung ist selbst in den Hauptstädten relativ gering und die Bevölkerung in den einzelnen Regionen kulturell weitgehend homogen. Dennoch müssten „ortsfremde“ kulturelle Untergruppen – wie die Bamileke in Kamerun oder die Sara im Tschad – politisch der Regionalkultur zugeordnet werden, deren Ableger sie sind.
Zweitens muss die konsensuale Form der Konfliktlösung fest in der Tradition verankert sein. Dies ist in all den afrikanischen Kulturen der Fall, in denen keine Minderheiten die beim Palaver der Dorfältesten getroffenen Entscheidungen in Frage stellen können und wo die Erziehung das Beharren auf Individualmeinungen verbietet.
Drittens muss es den „nationalen“ Eliten gelingen, das allgemeine Interesse über die Gruppenrivalitäten zu stellen und konsequent zu verfolgen. Allerdings machen viele Vertreter der politischen und wirtschaftlichen Elite in privaten Gesprächen keinen Hehl daraus, dass sie sich lieber heute als morgen aus den beengenden gemeinschaftlichen Bindungen lösen würden. „Bei unseren gemeinschaftlichen Bindungen kann man nicht von Solidarität sprechen. Der Begriff ist viel zu positiv. Es handelt sich um ein Geflecht von Verpflichtungen, denen wir uns nicht entziehen können“, meint ein Professor aus Zaire gegenüber europäischen Kollegen.
Viertens muss in allen Bevölkerungsschichten das Nationalbewusstsein gestärkt werden, das seit der Unabhängigkeit in den 1960er-Jahren nicht zuletzt durch die Auseinandersetzungen um staatlich kontrollierte Privilegien nachgelassen hat. Doch trotz aller Gegensätze zwischen den verschiedenen Gruppen gibt es immer wieder Ansätze eines Nationalbewusstseins, etwa bei sportlichen Erfolgen, im stolzen Bekenntnis zur eigenen kollektiven Identität, im Bestehen auf unveränderlichen Landesgrenzen, in der Identifikation mit einem langjährigen Staatschef (wie Leopold Sedar Senghor, Amadou Ahidjo, Joseph Mobutu, Gnassingbé Eyadema und Omar Bongo) oder auch im Glauben an die kollektive Utopie eines afrikanischen Sozialismus (Seyni Kountché im Niger, Thomas Sankara in Burkina Faso, Didier Ratsiraka in Madagaskar und Mathieu Kérékou in Benin).
Fünftens muss die jeweilige Regierung vor engstirniger Obstruktion durch ein ethnisch zersplittertes Parlament geschützt sein – was aber keinerlei Zensur legitimieren darf. Nur dann können die verschiedenen ethnischen Gruppen angehörenden Minister innerhalb der Regierung ernsthaft und offen miteinander verhandeln.
Sechstens muss es politische Gruppierungen geben, die in den jeweiligen Gemeinschaften so verankert sind, dass sie auch wirklich als legitime Vertreter dieser Gemeinschaften gelten können. Um dies zu erreichen, könnte man die in den Nationalkonferenzen hergestellte Situation institutionalisieren, wonach in den Parteien jeweils eine anerkannte Persönlichkeit versucht, die Mitglieder ihrer Herkunftsgemeinschaft in diese Partei zu integrieren.
Und schließlich müsste das Verfahren zur Wahl des Staatschefs so beschaffen sein, dass dieser nicht die Macht an sich reißen kann. Er müsste von einem zahlenmäßig begrenzten Gremium gewählt werden, zum Beispiel von den Parlamentariern und Vertretern der Regionalparlamente. Außerdem könnte man eine jährliche Rotation wie in der Schweiz vorsehen sowie die Beschränkung des Präsidentenamts auf repräsentative Funktionen, während die Exekutive in der Hand der Regierung liegen sollte.
Demokratie hat sehr viel mit der Anerkennung der realen kollektiven Konflikte innerhalb der Gesellschaften zu tun. Die am Mehrheitsprinzip orientierte Demokratie, in der die Minderheit von der Machtausübung ausgeschlossen ist, setzt eine solide demokratische Kultur und einen allseits akzeptierten Gesellschaftsvertrag voraus. Demgegenüber scheint die Konsensdemokratie, in der die Machtausübung an den Konsens zwischen den Eliten der verschiedenen Gemeinschaften gebunden ist, besser zu den soziokulturellen Realitäten im heutigen Afrika zu passen.
deutsch von Michael Bischoff
* Rechtswissenschaftler an der Université des Antilles et de la Guyane.