12.12.2003

Nation unter Vorbehalt

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Nation unter Vorbehalt

Die jüngste Entscheidung des Weißen Hauses, den Machtwechsel im Irak zu beschleunigen, wurde in vielen Ländern Europas positiv aufgenommen. Am 30. Juni 2004 soll eine Übergangsregierung die Besatzung ablösen und für Anfang 2005 reguläre Wahlen vorbereiten. Der Zeitplan des Präsidenten George W. Bush soll – im Hinblick auf seine angestrebte Wiederwahl im November 2004 – vor allem die Opposition im eigenen Land beschwichtigen. Er soll jedoch auch der bewaffneten Opposition im Irak das Wasser abgraben, die den internationalen Besatzungstruppen immer stärker zusetzt.

Von DAVID BARAN *

WER in der Vergangenheit den Irakkrieg als illegitim und anmaßend kritisiert hat, fühlt sich wahrscheinlich durch den Gang der Ereignisse bestätigt: Die irakische Bevölkerung hat die Besatzungstruppen nicht mit offenen Armen empfangen. Die internationalen Medien zeichnen das folgende Bild: Die Iraker sind unzufrieden und empört über die Übergriffe der Besatzer, sie fordern Rechte, die man ihnen offenbar vorenthält, und äußern sich scharf und eindeutig über die Absichten der US-Regierung. Dagegen gibt es kaum Reportagen, die auf eine gewisse Zustimmung zu den Plänen der Besatzungsmacht schließen lassen. Man liest immer nur von Äußerungen wie diesen: „Die Lage ist schlimmer als unter Saddam“, oder: „Die Amerikaner sind auch nicht besser als Saddam.“

Natürlich ist es beunruhigend, wenn Menschen, die nicht zu den Profiteuren des alten Regimes gehörten, solche Vergleiche anstellen. Denn die Besatzungsmacht würde niemals – schon mit Rücksicht auf die Präsenz der Medien – ähnlich furchtbare Verbrechen wie die früheren Machthaber begehen. Zwar gab es willkürliche Verhaftungen und Einschränkungen für die freie Berichterstattung, auch hat amnesty international einige Fälle von Folter aufgedeckt. Doch solche Verfehlungen haben wenig gemein mit den Übergriffen kriegführender Armeen, wie man sie von den russischen Truppen in Tschetschenien, den israelischen Soldaten in Palästina oder auch den US-amerikanischen Einheiten in Afghanistan kennt.1

Bei der Unterdrückung einer bewaffneten Opposition kommt es jedoch ganz sicher zu Exzessen: Verdächtige werden nach ihrer Verhaftung häufig brutal behandelt, bei Razzien der US-Armee werden Wohnungseinrichtungen demoliert, manchmal werden die Einheimischen sogar ausgeraubt, wenn sich Dollars unter der Matratze finden. Etliche Iraker berichten von demütigenden Gewaltakten, wenn ihnen zum Beispiel ein GI-Stiefel das Gesicht zertreten hat. Und manche Maßnahmen entsprechen tatsächlich den Methoden des gestürzten Baath-Regimes: Vor kurzem zerstörten US-Truppen die Pflanzungen von Bauern in Duluija, wo sich bewaffnete Kämpfer versteckten, was natürlich an die Zerstörung von Palmenhainen durch Saddams Armee vor zwölf Jahren erinnert. Auch die Verhaftung von Frauen gesuchter Kämpfer ähnelt fatal der früher praktizierten Sippenhaftung, bei der ganze Familien oder Stämme für die Verfehlungen eines ihrer Mitglieder büßen mussten.

Aber die Kräfte der bewaffneten Opposition und ihre Anhänger wissen sehr gut, dass sie niemals – wie unter Saddam üblich – auf unvorstellbar grausame Weise gefoltert werden, dass sie niemals der Vergewaltigung ihrer Frauen zusehen müssen und dass ihre Eltern und ihre Kinder niemals hingerichtet werden. Im innersten Herzen weiß wirklich jeder, dass es diese Herrschaft des Schreckens nicht mehr gibt. Und darum lösen die Übergriffe der Besatzer, die von den westlichen Medien – zu Recht – angeprangert werden, im Irak kaum mehr als pflichtgemäße Proteste aus.

Hier ist eine bemerkenswerte Diskrepanz zu verzeichnen. Es gibt einerseits immer mehr Gewaltakte, von denen die Medien berichten, doch die Reaktion seitens der Mehrheit der Bevölkerung bleibt eher indifferent. Seit Monaten ist von einem allgemeinen Aufstand die Rede, doch sein Ausbruch rückt in immer weitere Ferne. Wir stehen also vor einem Paradoxon: Wie kann eine Bevölkerung unter Bedingungen, die einen Aufruhr begründen würden, derart scharfe Kritik an den Besatzern üben und sich gleichzeitig mit der Besatzungsmacht dennoch weitgehend abfinden? Um dies zu verstehen, muss man sich die vielfach spontan geäußerte Parallele zwischen dem alten und dem neuen Regime genauer ansehen.

Die US-Truppen und die provisorische Regierung haben die vom Saddam-Hussein-Regime praktizierte Politik der symbolischen Besetzung von Orten fortgeführt und eher noch zugespitzt: Sie übernahmen nicht nur die Präsidentenpaläste und Parteizentralen, sondern auch Hotels, Schulen und bestimmte Wohnviertel, die dann als strategische Vorposten allesamt unter schärfste Bewachung gestellt wurden. Um Anschläge durch Autobomben zu vermeiden, haben sie Bagdad mit gewaltigen Betonmauern durchzogen, die im Volksmund „Berliner Mauern“ heißen. Diese Straßensperren kann man nur mit einer Sondergenehmigung und nach aufwendigen Sicherheitskontrollen passieren.

Den einfachen Irakern erscheinen die derart verschanzten neuen Machthaber ebenso undurchsichtig wie unzugänglich. Und wieder ist da ein einziger Mann, bei dem alle Entscheidungsbefugnisse zusammenlaufen: Paul Bremer, abgeschirmt von Sicherheitskräften und umgeben von Beratern, die der Kamarilla von einst zum Verwechseln ähneln. Dieses Führungspersonal lebt und arbeitet in abgeschotteten Sicherheitszonen und bewegt sich zwischen diesen nur in Militärkonvois, die alle normalen Verkehrsteilnehmer in Angst und Schrecken versetzen. In der Zitadelle der Macht werden weit reichende Entscheidungen getroffen, und zwar nach politischen Kriterien und Methoden, die völlig undurchsichtig bleiben.

Diese Entscheidungen erscheinen nicht nur willkürlich, sondern machen nach den zahlreichen Widersprüchen und Korrekturen der Vergangenheit auch den Eindruck, jederzeit widerrufbar zu sein. Die Iraker erleben Politik nach wie vor als eine Mischung aus Gerüchten, lancierten oder eingebildeten Indiskretionen und wolkigen Theorien. Die provisorische Regierung erscheint ihnen als Marionettenkabinett, ganz wie ehedem die Minister unter Saddam Hussein, nur dass jetzt die Amerikaner die Fäden ziehen. Diese strukturelle Distanz zwischen Machthabern und Volk wird noch erweitert durch das Fehlen einer ernsthaften Informationspolitik, was wilden Spekulationen über die Absichten der Besatzungsmacht Vorschub leistet.

Kein Wunder, dass die Iraker ihre Vorstellungen von Politik, die sie unter Saddam Hussein entwickelt haben, auf das neue Regime übertragen. Dieses Moment von Kontinuität hat weitreichende Folgen für die alltägliche Wahrnehmung. Als zum Beispiel die US-Streitkräfte versuchten, die Bevölkerung auf Plakaten zur Mitarbeit beim Wiederaufbau zu animieren („Bringt uns Frieden, wir bringen euch den Strom“), zogen viele Iraker den Schluss, die Energieversorgung sei längst intakt und die Stromausfälle seien gezielte Sanktionen. Man stelle sich vor, was solche Missverständnisse in einer Stadt wie Falludscha bewirken: Die Bewohner fühlen sich von den Besatzern schikaniert.2

Eine weitere Parallele zum alten Regime liegt in der Neigung, vor allem die eigenen Interessen zu verfolgen, sie aber als Allgemeinwohl auszugeben. Ein Beispiel ist die höchste Priorität, welche die neue Machtelite von Amerikanern der Sicherheit zuschreibt. An allen wichtigen öffentlichen Orten, vor allem an den Checkpoints, wurden die GIs inzwischen durch Iraker ersetzt. Die Vorschriften für den Schusswaffengebrauch sind dabei so lax gehalten, dass inzwischen zahlreiche Zivilisten ums Leben kamen. Solche Opfer werden – mit Verweis auf die bewaffnete Opposition – als unvermeidlich betrachtet, weshalb man sich gar nicht auf eine detailliertere Analyse einzulassen braucht. Der offizielle Sprachgebrauch kennt nur „Baathisten“3 und „Terroristen“ (oder bad guys für das Publikum in den USA). Und deren Angriffe richten sich angeblich vor allem gegen die irakische Bevölkerung.

Demnach geht es im Irak nur deshalb nicht voran, weil das Land unter den Angriffen eines schwer zu fassenden Feindes leidet. Erst wenn dieser Widersacher besiegt ist, kann die neue Ära des Fortschritts beginnen, also muss die Führung des Landes alle Kräfte auf die Abwehrschlacht konzentrieren, und das Volk hat zu begreifen, dass es bis dahin noch einige Opfer zu bringen hat. Diese Logik kennt man aus Ansprachen von Saddam Hussein gegen das UN-Embargo. Bei Paul Bremer klingt das so: „Was zählt, ist einzig die Freiheit. […] Wir dürfen nicht nur auf die Gewalt und die Versorgungsprobleme sehen, sondern wir müssen deutlich machen, welche Freiheiten der Sieg der Koalition den Irakern gebracht hat.“4 Oder auch: „Dass Unschuldige ihr Leben lassen mussten, ist für alle Betroffenen schrecklich. Doch die Zahl dieser Opfer ist außerordentlich gering“5 In Wahrheit ist die Zahl der Opfer bis heute unbekannt, weil man wenig Neigung zeigt, sie zu erfassen, und weil es bei „Übergriffen“ der Truppen keine öffentlichen Untersuchung gibt.

Besatzungsmächte streiten grundsätzlich die Verantwortung für Gewaltakte und unerwünschte Entwicklungen ab. Die US-Regierung kann sich in der Medienöffentlichkeit keinen Anflug von schlechtem Gewissen erlauben. Also verlegt sie sich darauf, das alte und neue Leid der Iraker für ihre Propaganda auszuschlachten. So werden Massengräber geöffnet, ohne dass eine systematische Beweiserhebung erfolgt, die eine spätere juristische Aufarbeitung der Taten möglich machen würde. Wen interessierte schon ein künftiger Prozess der nationalen Versöhnung? Ähnliches gilt für die Liquidierung der Söhne von Saddam Hussein: Das Haus war umstellt, man hätte sie auch weiter belagern und zur Aufgabe zwingen können.

Die Bevölkerung dürfte sich nicht nur von den Besatzern ausgenutzt und missachtet fühlen. Die irakische Polizei wird derzeit, nachdem man sie gerade erst aktiviert hat, vor allem zum Schutz der US-Stützpunkte eingesetzt. Und auch die Geheimdienste, deren Willkürherrschaft eine Hypothek auf die Zukunft bleibt, nehmen unter fragwürdigen Bedingungen allmählich wieder ihre Arbeit auf. Man kann davon ausgehen, dass man selbst die Wahlen im Irak – die zum Musterbeispiel für die Demokratisierung des Nahen Ostens werden sollen – letztlich als Beitrag zum Präsidentschaftswahlkampf von George W. Bush inszenieren wird. Die Interessen der Besatzungsmacht dominieren die irakische Innenpolitik. Alles in allem kommt der US-Zivilverwaltung in Bagdad heute eine außergewöhnliche Rolle zu, die in vieler Hinsicht der Stellung des Ministerpräsidenten unter Saddam Hussein ähnelt.

Ähnlich disparat ist das Verhältnis zwischen der üppig ausgestatteten Übergangsregierung und dem weitgehend maroden Staatsapparat. Die Bevölkerung kämpft ums tägliche Überleben, aber hinter den Mauern der Paläste lebt schon wieder eine Schicht von Privilegierten. Sie umgeben sich mit Leibwächtern und nutzen fast jede Chance, sich zu bereichern, auch in Form von extrem hohen Vergütungen, genauer: Bestechungsgeldern, ganz auf der Linie der alten Logik, nach der die irakische Beuteökonomie funktionierte.

Der wichtigste Faktor der Kontinuität zwischen alter und neuer Herrschaft aber ist das Befinden der Menschen: Sie sind noch immer ausgeschlossen und ohnmächtig, im eigenen Land aller Möglichkeiten beraubt, ihre Zukunft zu gestalten. Dieses Gefühl der Apathie und Ohnmacht ist ihnen zu bekannt, als dass sie es als unerträglich bekämpfen würden. Für viele westliche Beobachter ist diese pragmatische und duldsame Haltung fast unerklärlich. Immer wieder kann man solche Aussagen hören: „Die Amerikaner wollen unser Öl. Na gut, wenn wir einen kleinen Teil behalten dürfen – unter Saddam hatten wir ja auch nichts davon.“

Unter solchen Umständen zählt jeder kleine Fortschritt doppelt, den die Besatzungsmacht bewirken kann. Doppelt zählen aber umgekehrt auch ihre vielen Fehler – etwa die Auflösung der irakischen Armee, um nur den schwersten zu nennen. Es stimmt zwar, dass wichtige religiöse Würdenträger und einige bedeutende Clanchefs verhaftet wurden, aber tagtäglich gibt es dabei Pannen und Übergriffe. Immer wieder kommt es vor, dass ein Panzer ein Zivilfahrzeug überrollt. Doch all dies hat bislang gerade mal einige tausend Menschen zu Demonstrationen auf die Straße gebracht, ein breiter Aufstand ist ausgeblieben.

Die verbreitete Meinung, der Exdiktator habe der Besatzungsmacht im Grunde ein ideales Terrain hinterlassen, ist also keineswegs unbegründet. Unter Saddams Herrschaft verlor die Bevölkerung so viel an Zusammenhalt und Identität, dass man heute nur unter Vorbehalt von einer irakischen Nation sprechen kann. Fast einhellig befürchten die Iraker heute den Abzug der Truppen, da dieser einen Bürgerkrieg zur Folge haben könnte. Damit profitiert die Besatzungsmacht letztlich also von der gleichen Angst vor dem Chaos, aus der sich auch schon die minimale Loyalität für das alte Regime gespeist hatte.6

Damit sind die Analogien allerdings erschöpft. Im Unterschied zu Saddam Hussein haben die Besatzungstruppen kein Interesse daran, die irakische Bevölkerung vollständig und bedingungslos zu unterwerfen. Irgendwann wird das Hauptkontingent abziehen, und die US-Regierung wird sich andere Methoden zur Durchsetzung ihrer Interessen im Irak ausdenken. Die „Falken“ in Washington sind bereits unter Druck geraten, und die Neubestimmung der US-Ziele im Irak kann für die Bevölkerung nur Vorteile bringen. George W. Bush wird die Irakfrage unter dem Aspekt seiner Wiederwahl behandeln– ein Scheitern des Irakfeldzugs wird er sich nicht leisten können. Und als Erfolg kann wohl nur die Übergabe die Regierungsmacht an die Iraker gelten.

deutsch von Edgar Peinelt

* Journalist, Ottawa.

Fußnoten: 1 Siehe Jamie Doran, „Dokumente eines Kriegsverbrechens“, Le Monde diplomatique, September 2002, und Laurence Jourdan, „Crimes impunis en Afghanistan“, Le Monde diplomatique, Dezember 2002. 2 Siehe David Baran „Missverständnisse in Falludscha“, Le Monde diplomatique, Juni 2003. 3 Mitglieder und Anhänger der von Saddam Hussein geführten Baath-Partei. 4 Pressekonferenz am 13. August 2003. 5 The Chicago Tribune, 17. August 2003. 6 Siehe David Baran, „Die letzten Tage Saddam Husseins“, Le Monde diplomatique, Februar 2003.

Le Monde diplomatique vom 12.12.2003, von DAVID BARAN