Uruguay, Land der Volksentscheide
Am 31. Oktober wählten die Bürger Uruguays Tabaré Vásquez vom Linksbündnis Frente Amplio zum neuen Staatspräsidenten. Damit ging die – nur von den Jahren der Militärdiktatur 1973 bis 1985 unterbrochene – 170 Jahre währende Macht der Traditionsparteien Colorados und Blancos zu Ende. Am selben Tag sprachen sich in einem Referendum 64,5 Prozent der Wähler für eine weitreichende Verfassungsänderung aus: Wasser gilt fortan als öffentliches Gut, die Wasserversorgung darf nicht privatisiert werden.
Von JACQUES SECRETAN *
DASS Wasser per Referendum zum nationalen öffentlichen Gut erklärt wird, erlebt man nicht alle Tage. In Uruguay hat sich das Ungewöhnliche nicht zum ersten Mal ereignet. Hier hat es eine breite soziale Bewegung geschafft, den Vormarsch von Neoliberalismus und Privatisierungspolitik erheblich zu bremsen. Ihr jüngster Erfolg ist der Wahlsieg der Mitte-links-Koalition Frente Amplio (FA oder „Breite Front“), die sich aus rund dreißig Organisationen zusammensetzt.
In Uruguay sind die Volksbefragungsinstrumente Referendum und Plebiszit in der Verfassung verankert. Als die Militärdiktatur 1980 ein Plebiszit über eine neue Verfassung abhielt, wurde diese von 57,9 Prozent der Wähler abgelehnt. 1989 schlug das Pendel in die andere Richtung aus: 52,9 Prozent der Bürger sprachen sich per Plebiszit für die Beibehaltung eines 1986 verabschiedeten Gesetzes aus, das den für Folter und Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen fast völlige Immunität verschaffte. Anscheinend war die Bevölkerung für einen Schlussstrich unter den „schmutzigen Krieg“.1 Tatsächlich stand sie noch unter dem Schock der Diktatur und wollte vor allem die Demokratie bewahren, das heißt den Militärs keinen Vorwand für eine erneute Machtübernahme liefern. Eine Reaktion auf dieses Plebiszit war die Entstehung einer starken sozialen Bewegung, eine andere die politische Konsolidierung der Linken, die sich jetzt in der Frente Amplio kristallisierte.
Seitdem kamen bei jedem Privatisierungsversuch hunderttausende von Unterschriften zusammen – ein nicht nur für Lateinamerika einmaliger Fall. 1992 annullierten die Wähler mit einer Mehrheit von 72 Prozent (die Linke hatte bei den vorangegangenen Wahlen nur 30 Prozent erzielt) 5 von 32 Artikeln des Privatisierungsgesetzes, das die Abgeordneten nach 16 Monate dauernden Kontroversen verabschiedet hatten. Damit retteten sie auch die staatliche Telekom Antel, auf die bereits das Auslandskapital gespitzt hatte. Seither zählt das Unternehmen in Südamerika zu den drei größten Telekommunikationsanbietern, während die meisten anderen Länder ihre Netze an europäische und US-amerikanische Multis verkauft haben, die mit ihrer willkürlichen Tarifpolitik Jahr für Jahr satte Profite einfahren.
Dieses Volk lässt sich nicht auf der Nase herumtanzen. Am 28. August 1994 lehnte es mit 63 Prozent der Stimmen eine Verfassungsreform ab, mit der die Mehrheitsparteien – und sogar die FA – das Wahlsystem und die Sozialleistungen neu regeln wollten. Allerdings kamen nicht immer genügend Stimmen für eine Volksbefragung zusammen, auch wenn der Erfolg vorderhand gesichert schien. Als etwa im Februar 2001 die Privatisierung des lange vernachlässigten Eisenbahnnetzes und des Container-Terminals im Hafen von Montevideo anstand, reichten die gesammelten Unterschriften für das angestrebte Referendum nicht aus.
Doch der Aufschwung der Linken blieb ungebrochen. Ende 2003 stimmten 62,3 Prozent der Wahlberechtigten gegen jegliche „Assoziation“ des staatseigenen Mischkonzerns Ancap („Nationale Verwaltung für Kraftstoffe, Alkohol und Zement“) mit ausländischen Unternehmen und Investoren. Dabei befürworteten auch führende FA-Politiker das Konzept, das den Widerstand gegen die Privatisierung von Staatsbetrieben unterlaufen sollte.
Ancap ist mit 2 400 Beschäftigten der größte Industriekonzern Uruguays. Um binnen Jahresfrist die erforderlichen 620 000 Unterschriften (25 Prozent der Stimmberechtigten) zu sammeln, reisten die 1 200 Mitglieder der Betriebsgewerkschaft – gemeinsam mit 800 berenteten Gewerkschaftern – bis in die entferntesten Winkel des Landes. „Wir konnten 685 000 Menschen überzeugen, dass das Gesetz vom Dezember 2001 mittelfristig mehr Armut im ganzen Land bedeuten würde“, erinnert sich der Gewerkschaftsvorsitzende Juan Gómez. „Das war eine großartige Erfahrung, wie tausende von Bürgern und Bürgerinnen, die seit Generationen loyal die traditionellen Parteien wählen, ihre Unterschrift und ihren Fingerabdruck unter das amtlich Formular setzten.“
Diese Mobilisierung hat den damaligen Staatspräsidenten Jorge Battle ein Jahr vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen noch weiter isoliert und in gewisser Weise das Wahlergebnis vom Oktober dieses Jahres vorweggenommen.
Seit ihrer Gründung 1971 hatte die FA in jeder Wahl an Stimmen zugelegt, bis sie am 31. Oktober dieses Jahres unter dem Namen „Encuentro Progresista – Frente Amplio – Nueva Mayoría“ (EP – FA – NM) mit 50,45 Prozent erstmals eine absolute Mehrheit erzielen konnte. Das Mitte-links-Bündnis umfasst ein breites Spektrum politischer Strömungen, von den radikal gebliebenen Exrevolutionären der Nationalen Befreiungsbewegung (Tupamaros) bis zu Vertretern der rechten Mitte. Der Extupamaro José Pépé Mujica, heute Senator und Führer der Bewegung für Volksbeteiligung (MPP),2 stellt allerdings klar: „Die Distanz zwischen den fortschrittlichsten Kräften der Regierungskoalition Blancos/Colorados und unseren am wenigsten linken Genossen ist weitaus größer als die zwischen den verschiedenen Kräften der neuen Mehrheit.“ Mit 30 Prozent der Stimmen ist die MPP die größte Partei der neu gewählten Linksregierung.
Die Kommunalpolitik in Montevideo, wo mit 1,5 Millionen Einwohnern die Hälfte der Bevölkerung lebt, hat zu dieser Entwicklung maßgeblich beigetragen. Hier wurden Parks und Plätze neu gestaltet und sauber gehalten, die Strände verschönert, wurde das Abwassernetz ausgebaut und die fast 20 Kilometer lange Meerespromenade repariert. Das kommt jenen 300 000 Einwohnern zugute, die sich die Fahrt zu einen Strand außerhalb der Stadt nicht leisten können. „Seit zehn Jahren will ich aus Montevideo, dem Sitz des Mercosur [Gemeinsamer Markt des Südens], eine Art Brüssel des Südens machen; ich glaube, wir haben es bald geschafft“, sagt Mario Arana, der 2000 von 58 Prozent der Wähler für weitere fünf Jahre zum Bürgermeister gewählt wurde. Obwohl der Staat einen erheblichen Teil der Zuschüsse zum Kommunalhaushalt zurückhielt, um der Opposition das Wasser abzugraben, ist Montevideo wieder zu einer schönen Stadt geworden. Sicher hat das viele Bürger dazu gebracht, auch auf nationaler Ebene den Wechsel zu wagen.
Dabei hat die allgemeine Lage Uruguays die Sanierungsanstrengungen nicht gerade begünstigt. Das Finanzdebakel in Argentinien, das im Winter 2002 auf Uruguay übergriff, hatte nach Ansicht von Mario Arana ebenso verheerende Folgen wie der Big Crash von 1929. Die uruguayischen Ausfuhren nach Argentinien gingen in den ersten vier Monaten 2002 gegenüber dem Vorjahr um 70 Prozent zurück, die Zahl der argentinischen Touristen sank um 50 Prozent. Damals wurden in ganz Uruguay, vor allem in Montevideo, Volksküchen eingerichtet. Ein erheblicher Teil der ausländischen Nothilfe kam aus der EU. Dass fast alle Bedürftigen durchgebracht wurden, war jedoch dem solidarischen Zusammenhalt der Bürger zu verdanken, die in ihren Stadtteilversammlungen die Prioritäten der kommunalen Entwicklungs- und Infrastrukturpolitik bestimmen – im Dialog mit dem Bürgermeister der Hauptstadt, der wohlhabenden Stadtvierteln, wo nicht einmal 2 Prozent der Bewohner unter der Armutsgrenze leben, höhere Steuern auferlegte, die, wie er sagt, „ausschließlich den bedürftigsten Sektoren zugute kamen, wo die Armut bei 50, 60, ja bis zu 95 Prozent liegt“.
Während andere Länder Südamerikas – wie Venezuela oder Bolivien – politische Krisen durchliefen, konnte die Finanzkrise in Uruguay das politische System nicht erschüttern. Aus Furcht vor einer „Argentinisierung“, also einem Chaos, das den Rechtsparteien in die Hände spielen würde, vermieden die Breite Front und die Gewerkschaft PIT-CNT jede Konfrontation mit der Regierung Jorge Battle.3 Staatspräsident Tabaré Vásquez bot der abgewählten Rechten sogar eine Zusammenarbeit an und rief alle Parteien und gesellschaftlichen Gruppen zur Einheit auf, um das Land vor Turbulenzen zu bewahren.
Die Zusammensetzung der neuen Regierungskoalition, die mit 17 von 31 Senatoren und 52 von 99 Abgeordneten in beiden Parlamentskammern über die absolute Mehrheit verfügt, spiegelt die politische Stärke der Koalitionsparteien wider. „Es ist unsere Pflicht, den Dialog im Interesse des Gemeinwohls zu fördern“, meint der Exguerillero und heutige Senator José Mujica. Der künftige Wirtschaftsminister Danilo Astori spricht sich angesichts des ererbten Schuldenbergs von 10,73 Milliarden Dollar für Neuverhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aus. Absolute Priorität soll die Unterstützung der 100.000 Bedürftigen haben.4
„Ich vertraue der Linksregierung“, sagt Adriana Marquisio, Vizepräsidentin der Gewerkschaft des Wasserwerkspersonals. „Die Linke wird sich nicht verkaufen. Uruguay ist ein sehr politisiertes Land, selbst in den ländlichen Gegenden nehmen die Menschen an den öffentlichen Angelegenheiten teil und engagieren sich in Kampagnen, beispielsweise für den Erhalt unserer Wasserressourcen. Das Volk lässt sich nicht manipulieren und applaudiert auch nicht dem, was ihm nicht gefällt.“
Nachdem zwei Drittel der Bürger in einem Plebiszit die Privatisierung der Wasserversorgung rückgängig gemacht haben, verkündete die mehrheitlich in spanischen Händen liegende Uragua, die seit 2000 im Tourismusgebiet von Punta del Este präsent ist, ihren unverzüglichen Rückzug aus Uruguay. Die geforderte Entschädigungszahlung dürfte sie kaum erhalten. „Das Unternehmen hat nicht nur seine vertragliche Pflicht zur Bereitstellung von sauberem Trinkwasser verletzt: Die Menschen waren gezwungen, Flaschenwasser zu kaufen, weil das Wassernetz mit Kolibakterien verseucht war. Das Unternehmen hat den Steuerzahler in den letzten vier Jahren auch über 100 Millionen Dollar gekostet“, resümiert Adriana Marquisio. Das auf Druck des IWF zustande gekommene Experiment produzierte in der Tat nichts als rote Zahlen: 70 Millionen Dollar muss der Staat bis 2009 an Vorabinvestitionen zurückzuzahlen, dazu weitere 20 Millionen Dollar Zinsen; 24 Millionen Dollar, die von Verbrauchern gezahlt wurden, aber im Staatsapparat versickert sind. Hinzu kommen rund 10 Millionen Dollar, die für die Instandsetzung des Leitungsnetzes benötigt werden.
Nicht nur innenpolitisch findet Staatspräsident Vásquez ein günstiges Umfeld vor. Die neue Regierung verstärkt die „fortschrittliche“ Richtung, die Brasilien unter Luiz Inácio da Silva („Lula“), Argentinien unter Nestor Kirchner und Chile unter Ricardo Lagos vorgegeben haben. Und der Bürgermeister von Montevideo zählt auch Venezuela unter Chávez dazu. Doch die neue Regierung in Uruguay dürfte sich eher das Brasilien Lulas zum Vorbild nehmen als das radikale venezolanische Modell.
deutsch von Bodo Schulze
* Journalist, Schweiz