10.12.2004

Meine Gipfeltreffen mit Arafat

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Meine Gipfeltreffen mit Arafat

JASSIR ARAFAT wäre gern der Nelson Mandela der Palästinenser geworden, der erste Präsident eines unabhängigen Staates. Die Osloer Verträge schienen den Weg zu einem „Frieden der Tapferen“ zu öffnen, aber seit der Ermordung von Jitzhak Rabin hatte er das Gefühl, seinen Partner verloren zu haben. Am Ende war Arafat an seinen halb zerstörten Amtssitz in Ramallah gebannt. Seine physische Bewegungsfreiheit war auf wenige Meter, sein politischer Spielraum gegen null geschrumpft. Aber trotz eigener Fehler und Widersprüche wollte Arafat den „historischen Kompromiss“, der mit seinem Tod vielleicht leichter geworden ist.

Von ERIC ROULEAU *

An Selbstvertrauen hat es Jassir Arafat nie gefehlt. Wie dramatisch die Lage auch immer sein mochte – Mutlosigkeit oder Verzweiflung waren ihm kaum je anzusehen. Sein Optimismus schien ebenso unerschütterlich wie seine Entschlossenheit, den Kampf fortzusetzen, und er besaß eine erstaunliche Fähigkeit, Rückschläge rasch zu überwinden. Ich habe seinen Weg mehr als 35 Jahre lang verfolgt und bin viele Male mit ihm zusammengetroffen – als Journalist oder in diplomatischer Mission bei der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO).

Bei unseren letzten Begegnungen im vergangenen Jahr traf ich ihn allerdings in einer fast depressiven Stimmung an. Arafat war blass, er wirkte müde. Eingeschlossen in einem fensterlosen Raum in einem halb zerstörten Gebäude, im vollen Bewusstsein, dass ihm Vertreibung oder Ermordung drohte, konnte er nicht mehr ausschließen, dass „die letzten Bastionen der Palästinensischen Autonomiebehörde fallen werden“. Wie man ihn so verteufeln konnte, nur weil er sich unermüdlich für einen „Frieden der Tapferen“ mit Israel eingesetzt hatte, blieb ihm unverständlich. Wenn er von seinem „Partner Jitzhak Rabin“ sprach, versagte ihm oft die Stimme.

Unter dem Druck Israels, der Vereinigten Staaten und – was ihn besonders empörte – auch der Europäischen Union traf er damals gerade die Vorbereitungen zur Ernennung eines Ministerpräsidenten. Warum man ihm als „Führer einer nichtstaatlichen Gebietseinheit“ einen Ministerpräsidenten verordnete, wollte er nicht begreifen. Als ich nachfragte, ob er denn unter Zwang handele, senkte Arafat den Kopf und überließ die Antwort einem neben ihm sitzenden Mitarbeiter: „Bush will das so.“

Am Mittagessen im Anschluss an das Interview nahmen mehrere palästinensische Minister teil. Man unterhielt sich angeregt über die Frage der Laizität eines künftigen Palästinenserstaats. Dabei erklärte der mit dem Entwurf einer Verfassung betraute Außenminister Nabil Schaath, die innenpolitische Situation mache es natürlich notwendig, die Formel „Staatsreligion ist der Islam“ in das Grundgesetz aufzunehmen. Am Tisch erhob sich heftiger Protest, vor allem die Regierungsmitglieder Saeb Erekat und Jassir Abed Rabbo zeigten sich empört. Und May Saraf, Arafats Beraterin für europäische Angelegenheiten, richtete den Blick auf ihren Chef und rief: „Ich bin Christin! In einem solchen Staat will ich nicht leben!“ Der Palästinenserführer hörte sich die Debatte schweigend an und schaute nicht von seinem Teller auf. Am Ende ließ er sich die Bemerkung entlocken, er habe „noch nicht die Zeit gefunden, den Verfassungsentwurf zu lesen“.

Genau zu dieser Frage hatte Arafat, als ich zum ersten Mal mit ihm zusammentraf – das war 1969 bei einem Essen mit Lakhdar Brahimi, dem algerischen Botschafter in Kairo –1 , ganz entschiedene Ansichten vertreten. Begeistert entwarf der Fatah-Führer, der damals noch nicht PLO-Chef war, das Bild eines künftigen „demokratischen Einheitsstaats in ganz Palästina“, in dem „Juden, Christen und Muslime die gleichen Bürgerrechte haben werden“. Den Begriff „Laizität“, der dem Islam fremd ist, gebrauchte Arafat nicht, aber seine Vorstellungen schienen mit der westlichen Auffassung von Demokratie vollständig vereinbar zu sein. Er zeigte sich auch zuversichtlich, dass die Mehrheit der Israelis diesem Konzept zustimmen würde, weil es ihnen Frieden und Sicherheit versprach. Dabei setzte er besondere Hoffnungen auf die sephardischen Juden, die Bevölkerungsmehrheit in Israel: Sie seien durch ihre Kultur und Denkweise – die Arafat in seiner Jugend in Ägypten und während seines illegalen Aufenthalts in den besetzten Gebieten nach dem Sechstagekrieg kennen gelernt hatte – geradezu „Zwillingsbrüder“ der Araber.

Damals hatte sich an dieser Stelle Salah Khalaf (genannt Abu Ijad) eingemischt, die spätere Nummer zwei der PLO. Er hielt die Hoffnungen für verfrüht und versuchte, seinen Standpunkt mit einer Metapher zu verdeutlichen: Die Palästinenser seien berufen, im Nahen Osten am Stamm des Baumes zu rütteln, bis alle faulen Früchte – die arabischen Nationalstaaten – herabgefallen seien. Und dann, fügte er mit feinem Lächeln hinzu, könnten sie die einzige gesunde Frucht an diesem Baum ernten – eben Israel.

Nach diesem Satz trat damals ein langes Schweigen ein. Es saßen auch einige arabische Botschafter mit am Tisch, von denen aber niemand widersprach oder empört den Raum verließ. Die demütigende Niederlage der Araber im Juni 1967 war allen noch viel zu präsent. 1969 schien die Zukunft wirklich den „palästinensischen Revolutionären“ zu gehören, die den arabischen Regimes seit Beginn der Auseinandersetzungen mit der zionistischen Bewegung vorwarfen, die arabische Sache verraten zu haben.

Ein Jahr später mussten die palästinensischen Führer ihre hochfliegenden Hoffnungen aufgeben. Im „schwarzen September“ von 1970 endete in Jordanien das Kräftemessen mit König Hussein mit einer blutigen Niederlage der Fedajin, die anschließend aus dem Königreich vertrieben wurden. Was Arafat mir damals in Amman sagte, ließ nur einen Schluss zu – dass er gemeinsam mit George Habasch von der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) und Najef Hawatmeh von der Demokratischen Befreiungsfront Palästinas (DFLP) den Sturz der jordanischen Monarchie betrieb. Gegenüber dem König und dessen Beratern war er absolut unversöhnlich. Wenige Stunden vor der Offensive der jordanischen Streitkräfte gestand mir Abu Ijad: „Wir werden diesen Kampf bestimmt nicht gewinnen.“ Er rechnete also mit dem Schlimmsten, denn ihm war klar, dass König Husseins Truppen in der Übermacht waren und dass sie auf die Unterstützung Israels, der Vereinigten Staaten und Großbritanniens zählen konnten. Die PLO war auf einen solchen Angriff nicht vorbereitet. Abu Ijad schien Arafat den Vorwurf zu machen, dass er nicht von seiner kompromisslosen Haltung gegenüber König Hussein abrückte, obwohl er sich der Unterlegenheit der Palästinenser bewusst war.2

Kurz nach den Kämpfen fand sich Arafat, der noch immer – quasi im Untergrund – in Amman lebte, zu einer Art grundsätzlicher Selbstkritik bereit. In einem Interview erklärte er, die Fedajin hätten sich zu provozierend verhalten, einen „revolutionären Exhibitionismus“ betrieben und sich ein „unverantwortliches Verhalten“ gegenüber den jordanischen Streitkräften erlaubt. Arafat sprach sich auch entschieden gegen Flugzeugentführungen aus. Genauer besehen kritisierte er allerdings nur die Fatah-Konkurrenten DFLP und PFLP, die aber zugleich der PLO unter dem Vorsitzenden Arafat angehörten.

Jassir Arafat sah sich als Oberbefehlshaber der vereinten Kräfte des Widerstands. Als solcher konnte er eine Niederlage nur sehr schwer eingestehen. In seiner Wahrnehmung war er sowohl 1970 gegen die jordanische Armee als auch 1982 im Libanon gegen die israelischen Invasionstruppen als Sieger hervorgegangen. Was den Libanon betraf, erklärte er mir – offensichtlich überzeugt – in einem Interview: „Finden Sie nicht, dass es einen großen Sieg bedeutet, wenn man drei Monate lang heldenhaften Widerstand gegen eine der stärksten Armeen der Welt geleistet hat?“ Und er fügte hinzu, allein um der Zivilbevölkerung die Angriffe der israelischen Armee zu ersparen, hätten sich die Fedajin 1982, mit ihren Waffen und all ihrem Besitz, aus dem Libanon evakuieren lassen.

Höchst erregt und verstört reagierte Arafat dann auf das Massaker in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila, bei dem im September 1982, kurz nach dem Abzug der PLO-Kämpfer aus Beirut, hunderte von Palästinensern ums Leben kamen. Als ich Arafat kurz danach in Damaskus interviewte, sprach er – unter Tränen – nur über dieses Thema: Frankreich und die USA hätten ihn verraten, sie hätten den Palästinensern ihren Schutz zugesichert, dann aber ihre Truppen vorzeitig abgezogen. Und er klagte den damaligen israelischen Verteidigungsminister Ariel Scharon an, Kommandoeinheiten zur Koordination des Massakers eingesetzt zu haben. „Begin und Scharon sind keine Juden“, empörte er sich. „Ihre Verbrechen sind eine Beleidigung für die jüdische Moral und Tradition. Die wahren Juden sind jene, die sich an der Vernichtung des palästinensischen Volkes nicht beteiligen wollen.“ Und weiter: „Ich glaube daran, dass alle israelischen oder jüdischen Pazifisten und Demokraten das palästinensische Volk achten und anerkennen. Wir werden ihnen diese Solidarität in schweren Zeiten nie vergessen.“ Arafat bezog sich darauf, dass hunderttausende Israelis gegen die Massaker in Sabra und Schatila demonstriert hatten – während sich die „arabischen Massen“ bedeckt hielten. Auch Pierre Mendès-France und Nahum Goldmann sowie zahlreiche Persönlichkeiten der jüdischen Diaspora hatten die israelische Offensive gegen die Palästinenserbewegung verurteilt. In seinem Hauptquartier in Tunis empfing Arafat wiederholt Vertreter der israelischen Zivilgesellschaft – damals dürfte die Entscheidung gefallen sein, auf eine gegenseitige Anerkennung Israels und der PLO hinzuarbeiten, die ein Jahrzehnt später in Oslo vollzogen wurde.

Als Botschafter Frankreichs in Tunesien wurde ich damals immer wieder – von Arafat direkt oder über seinen Stellvertreter Abu Ijad – gebeten, Kontakte zu jüdischen und israelischen Politikern oder auch zur Regierung in Jerusalem zu knüpfen. Als Arafat 1985 der Bombardierung des PLO-Hauptquartiers durch die israelische Luftwaffe knapp entkommen war, lud er mich zu einem Gespräch in seinen winzigen Schlafraum, in dem noch die Einschusslöcher zu sehen waren. Er ging an sein Bücherregal und zog die Autobiografie von General Ezer Weizman hervor, dem späteren Staatspräsidenten, der als Taube unter den Falken des damals von Menachem Begin geführten Likud galt. „Dieser Mann hat meine Hochachtung“, sagt er mit einem Lächeln. „Ihn würde ich gerne einmal treffen.“

Lang vor dem denkwürdigen Besuch Arafats in Paris 1989 hatte Staatspräsident François Mitterrand gute Beziehungen zum Führer der PLO geknüpft. Schon 1986 hatte Mitterrand auf mein Anraten hin an Arafat die Bitte gerichtet, bei der Befreiung französischer Geiseln im Libanon behilflich zu sein – nach Kenntnis der französischen Regierung gab es unter den vom Iran unterstützten islamistischen Entführern einige Agenten der PLO. Arafat willigte begeistert ein. Als ich ihn aufsuchte, ließ er zwei seiner engsten Mitarbeiter rufen und wies sie an, sich unverzüglich nach Beirut und Teheran zu begeben. Der Auftrag lautete, unter allen Umständen sicherzustellen, dass den Geiseln nichts angetan werde, bis die Verhandlungen abgeschlossen seien, die ich in Teheran zu führen hatte.

Jassir Arafat hat sich oft verkalkuliert und die Lage falsch eingeschätzt. Zweifellos kann man ihm Fehler und Versagen, zweideutiges und widersprüchliches Verhalten vorwerfen. Doch für die Palästinenser ist er das Symbol ihrer Bewegung. Sie haben ihn immer wieder hart kritisiert, aber sie haben ihm auch fast alles verziehen. Ihre Verehrung galt einem Mann, der sich ein halbes Jahrhundert lang gegen mächtige Gegner behauptet hat: international gegen Israel, die Vereinigten Staaten und die Mehrheit der arabischen Regime, innenpolitisch gegen die maximalistischen Gruppierungen, die den von ihm ersehnten „historischen Kompromiss“ immer wieder zu hintertreiben suchten.

Arafat wäre gern der Nelson Mandela der Palästinenser geworden, der erste Präsident eines unabhängigen Palästina, selbst im kleinsten möglichen Rahmen. Nun hat ihn der Tod ereilt – an der Schwelle zu seinem Gelobten Land.

deutsch von Edgar Peinelt

* Journalist, französischer Botschafter a. D.

Fußnoten: 1 Brahimi wurde kurz darauf algerischer Außenminister und übernahm später als Sondergesandter der Vereinten Nationen verschiedene Missionen (in Afghanistan und im Irak). 2 König Hussein forderte, die Aktivitäten des palästinensischen Widerstands in Jordanien aufs Äußerste einzuschränken.

Le Monde diplomatique vom 10.12.2004, von ERIC ROULEAU