Vom Antikolonialismus zum Selbstentwurf
Französisch schreibende afrikanische Autoren sitzen in einer Falle, denn sie benutzen die Sprache der einstigen Kolonialherren. Aber die jüngeren sehen sich sowieso lieber als Künstler und eben nicht als Botschafter in Sachen „Négritude“.
Von TIRTHANKAR CHANDA *
MIT dem Tod des großen ivorischen Schriftstellers Ahmadou Kourouma im Dezember 2003 endete die Gründungsphase der modernen afrikanischen Literatur, in der unter anderem die frankophone afrikanische Literatur entstand. Der Begriff ist komplex und paradox, denn diese Literatur verstand sich als Protest gegen die Kolonialherrschaft und als Beförderung der afrikanischen Eigenart (Négritude), doch verfasst wurde sie in der Sprache der Kolonialherren. Sie war in ihrem Anliegen antikolonial, bediente sich aber in der Darstellung Afrikas der Erzählhaltungen (Realismus) und Konventionen (Exotik) der europäischen Literatur.
Trotz dieser Widersprüche ist es den frankophonen Autoren gelungen, von Anfang an eine eigenständige, kraftvolle Literatur zu erschaffen, „schön wie sich bildender Sauerstoff“, um es mit André Breton zu sagen.1 Die gesamte Dichtkunst der Négritude war in diesem Breton’schen Sinne neuartig und „lebensnotwendig“.
Nach und nach traten auch in anderen literarischen Genres Talente hervor: im Theater, in der Autobiografie und natürlich im Roman. Neben Kourouma waren es vor allem der kongolesische Autor Sony Labou Tansi, der Kameruner Mongo Beti und der Senegalese Ousmane Sembène, die den Roman in die Vorstellungswelt und die Ausdrucksformen Afrikas zu überführen vermochten.
Auf die sozial engagierte und von der Bejahung der Négritude geprägte Literatur folgte zu Beginn der Neunzigerjahre die „neue Stimme“ einer jüngeren Schriftstellergeneration. Typisch für diese Autoren ist das vage Bestreben, sich von jeglicher Mission im Sinne eines Bekenntnisses oder Engagements für Afrika zu distanzieren. Ihre Stücke, Erzählungen und Geschichten spielen zwar in den Wirren ihrer Heimatländer, aber die Themen und Probleme, die sie behandeln, sind deutlich andere als die ihrer Vorgänger.
Die erste Generation suchte nach einer Literatur, die sich unmittelbar mit politischen und sozialen Fragen konfrontierte. Dies machte ihren Erfolg aus. Dabei bedienten sich die Autoren satirischer, sozialrealistischer, mythologischer, barock-schwülstiger, magischer ebenso wie lyrischer Mittel, um die Wirklichkeit in ihrer Größe wie in ihrer Unerträglichkeit darzustellen. Beide, die Dichter der Négritude – Léopold Sédar Senghor beispielsweise oder Aimé Césaire – wie die Romanciers der ersten Unabhängigkeitszeit hatten dasselbe Anliegen: einen Ausdruck zu finden für die Wirklichkeit der schwarzen Völker.
Kourouma gilt gemeinhin als erster Schriftsteller, der den Bruch mit der engagierten antikolonialistischen Literatur vollzogen hat, da er in seinem Werk mit der Romanform und mit der (französischen) Sprache experimentierte. Bereits in seinem ersten Roman, „Les soleils des indépendances“ (Seuil, 1970), führte er Wörter und Strukturen aus dem Malinké, seiner Muttersprache, ein. Doch Kourouma war auch ein genialer Erzähler. In seinen vier Romanen ist er den verschiedenen Phasen des modernen Afrika – Kolonisierung, Unabhängigkeit, Diktaturen und Stammeskriege – nachgegangen, hat die postkolonialen Diktaturen scharf kritisiert und das von seinen Vorgängern verfochtene Projekt der engagierten Literatur nicht nur fortgesetzt, sondern auch auf die Zukunft Afrikas ausgedehnt.
Den theoretischen Rahmen dieses literarisch-künstlerischen Engagements lieferten die großen Veranstaltungen der 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahre, allen voran die beiden ersten Kongresse der schwarzen Schriftsteller und Künstler, die auf Initiative von Alioune Diop vom Verlag Présence africaine 1956 in Paris und 1959 in Rom stattfanden. Ihre Schlussresolutionen über die Rolle der Literatur waren stark von Sartres Konzept „einer leidenschaftlich mit der Gegenwart befassten und auf Stellungnahme in der politischen Auseinandersetzung bedachten Literatur“2 beeinflusst und haben über lange Zeit das literarische Schaffen in Afrika bestimmt. Der Schwarze Kontinent erhob sich damals aus der jahrhundertelangen Sklaverei und kolonialen Ausbeutung, die sowohl sein Selbstbild als auch das Afrikabild der anderen Völker bestimmt hatten. Die Schriftsteller und Künstler hatten die Aufgabe, ihren Völkern durch „die wahrheitsgemäße Darstellung der lange verdunkelten, verzerrten oder verleugneten Realität“3 die Würde zurückzugeben.
Senghor, Césaire, Damas, die damals schon anerkannte Dichter waren, aber auch Romanciers – wie Mongo Beti, Bernard Dadié, Cheikh Hamidou Kane oder Sembène Ousmane, die gerade erst ins Rampenlicht rückten – sind dieser Erwartung nachgekommen. Das Aufbegehren gegen die von ihren Brüdern erduldete Unterdrückung und Entfremdung hat ihre Werke geprägt, sie haben die afrikanische Literatur zu einer Literatur der Anklage und des Protests gemacht. „Ich werde in mein Land zurückkehren und ihm sagen: Mein Mund soll der Mund der Unglücklichen sein, die keinen Mund haben, meine Stimme die Freiheit derjenigen, die im Verlies der Verzweiflung versinken“, schrieb Césaire.
Kourouma war zweifellos einer der letzten Giganten dieser Bewegung. Die Schriftstellergeneration der 1990er-Jahre verabschiedete sich von den klaren politischen Aussagen; angesichts der Erfahrungen von Globalisierung und Emigration entstanden neue, von Introspektion geprägte literarische Formen. 2001 löste der 1962 in Togo geborene, in Frankreich lebende Romanautor und Stückeschreiber Kossi Efoui allgemeine Empörung aus, als er behauptete: „Eine afrikanische Literatur gibt es nicht.“4 Als Erläuterung fügte er hinzu: „Wir sind keine Angestellten des Tourismusministeriums, wir haben nicht den Auftrag, die authentische afrikanische Seele zum Ausdruck zu bringen.“ Auch die Senegalesin Fatou Diome, deren erster Roman, „Le Ventre de l’Antlantique“ 2003 in Frankreich ein Erfolg war, sagte kürzlich: „Ich bin nicht die Sprecherin Afrikas.“5
Der 1965 in Dschibuti geborene Abdourahman A. Waberi erklärt in seinem Artikel „Die Kinder der Postkolonialzeit“ die Abkehr von der Afrikanität mit der Erfahrung von Migration und Exil. Von den zeitgenössischen afrikanischen Schriftstellern leben einige seit ihrer Geburt in Frankreich. Sie lehnen es ab, sich ausschließlich als Afrikaner zu verstehen. „Zugespitzt könnte man sagen“, so Waberi, „früher wollten wir in erster Linie Neger sein, heute dagegen zuallererst Schriftsteller und nur nebenbei noch Neger.“ Waberi findet es bezeichnend, dass „das Thema der Rückkehr in die Heimat aus dem Themenspektrum des afrikanischen Romans praktisch verschwunden ist. Konjunktur hat unter den jungen Schriftstellern hingegen die Ankunft des Afrikaners in Frankreich.“6
Nach Meinung der Autorin und Wissenschaftlerin Odile Cazenave richtet sich der Blick der jüngeren frankophonen Schriftsteller Afrikas zunehmend „auf das eigene Selbst […]: Schreiben ist ein Ausdruck ihrer selbst als Afrikaner oder ‚eine afrikanische Form des Schreibens von sich selbst‘, um die Formulierung und das Konzept des Sozialanthropologen Achille Mbembe aufzugreifen – Schreiben als Möglichkeit des Selbstentwurfs und der Selbstdarstellung außerhalb der Vorgaben des Westens beziehungsweise der ehemaligen Kolonialmacht.“7
Sylvie Chalaye, eine Spezialistin für das afrikanische Theater, die an der Universität Rennes Geschichte und Ästhetik lehrt, beobachtet diese Tendenz auch in neueren Theaterstücken: „Sie verlassen das verminte Gelände der Afrikanität, um sich in einem viel weiteren Sinn in die Welt einzuschreiben. Durch diese neue Positionierung, für die es wichtiger ist, Teil der großen menschlichen Gesellschaft zu sein, als starren Vorstellungen über die eigene Identität anzuhängen, entsteht ein neues Verständnis für Afrika und die schwarzen Völker.“8
Trotzdem verlieren die jungen Schriftsteller nicht jegliches Interesse an den Krisen, die ihren geplagten Kontinent erschüttern. Vielleicht mit Ausnahme von Kossi Efoui, der den in der Négritude mitschwingenden Essenzialismus und Kulturalismus infrage stellt, schöpfen die Romanciers der neuen Generation ihren literarischen Rohstoff hauptsächlich aus den Hoffnungen und Enttäuschungen ihrer Herkunftsländer. Dabei suchen sie zugleich nach ästhetischen und formalen Mitteln, die das Thema Herkunft aus seinen exotischen Zusammenhängen herauslösen und verallgemeinern können. „Tatsächlich spreche ich immer noch vom Problem der Schwarzen, aber ich versuche, es so zu tun, dass mein Theater über die Besonderheit der gelebten Erfahrung des Schwarzen alle Menschen einbezieht“9 , erklärt der in Paris lebende Autor, Schauspieler und Regisseur Koffi Kwahulé, dessen Stücke in Europa und Afrika gespielt werden.
Der Autor und Regisseur Koulsy Lamko aus dem Tschad und der madagassische Schriftsteller Jean-Luc Raharimanana stellen häufig Situationen aus der Geschichte Afrikas in den Mittelpunkt ihrer Stücke und Geschichten und betonen durch Anspielungen und Elemente aus Mythos und Magie deren „zeitlose Werte“.10 Weitgehend allein steht der senegalesische Schriftsteller Boubacar Boris Diop da, der soeben seinen ersten Roman in Wolof, der Landessprache des Senegal, veröffentlicht hat.11 Er beklagt die Entpolitisierung der künstlerischen Eliten Afrikas und sucht nach neuen Formen des literarischen Engagements; dabei konzentriert er sich auf eine Kritik der Globalisierung und der Frankophonie.
Diops Entscheidung, in Zukunft nur noch in seiner Muttersprache zu schreiben (er ist bislang der Einzige), ist politisches Engagement und Bemühen um ästhetische Konsequenz zugleich: ihm kommt es darauf an, sich als afrikanischer Autor dem eigenen Imaginären näher zu verbinden. Mit einer politisch direkteren Stoßrichtung traten da die jungen Schriftsteller auf, die vor kurzem eine Sammlung von Erzählungen über die Untaten von „Françafrique“ publiziert haben.12 Wie lebhaft die Debatte „vom unnützen Nutzen der afrikanischen Literatur“, wie Boniface Mongo-Mboussa es formuliert, geführt wird, kann man wohl am besten in der Monatszeitschrift Africultures nachlesen.13
Auch auf dem Kongress der Schriftsteller aus Afrika und der Diaspora, der letztes Jahr unter dem Thema „Krieg und Frieden – Welche Bedeutung hat das Engagement heute?“ in N’Djamena (Tschad) stattfand, ging es um den Zwiespalt zwischen Afrikanität und Universalität, zwischen Engagement und künstlerischer Freiheit. Eine der Organisatoren, Nocky Djedanoum aus dem Tschad, hatte 1998 in Kigali ein Schriftstellerhaus eingerichtet, das dazu beitragen soll, dass der Völkermord in Ruanda Eingang in die afrikanische Literatur findet. Aus diesem Projekt – „Ruanda: Schreiben aus Pflicht zur Erinnerung“ – ist ein Dutzend Bücher hervorgegangen, die mit fiktionalen Mitteln den Wahn und den Hass der Völkermörder und das Leiden der Opfer und Überlebenden schildern.
Diese Auseinandersetzung mit dem Unsagbaren und dem Schweigen war ein wichtiges Moment, vielleicht sogar eine Wende in der Geschichte der afrikanischen Literatur, denn sie hat deutlich gemacht, wie notwendig ein Engagement wäre und wie unmöglich es zugleich doch ist. Dies ist eine entscheidende Einsicht für die afrikanischen Schriftsteller, für die, nachdem sie ein halbes Jahrhundert lang mit messianischen Reden über die Literatur gefüttert wurden, nun die Übereinstimmung von Wirklichkeit und Fiktion fraglich geworden ist. „In jeder Krise erkennt man, dass die Worte nur armselige und unsichere Krücken sind, die einem jeden Moment entgleiten können“14 , schrieb Waberi bei seiner Rückkehr aus Ruanda.
Und doch schreiben die afrikanischen Schriftsteller weiter, geben der Welt Ausdruck und richten ihre Fragen an sie. Sie tun es mit Verzweiflung – und dennoch, eine Gewissheit teilen die jungen Schriftsteller: Solange sie schreiben, wird die afrikanische Literatur, wird Afrika leben.
deutsch von Sigrid Vagt
* Hochschullehrer, Literaturkritiker bei Radio France Internationale.