10.12.2004

Vom Nutzen der Grenzen

zurück

Vom Nutzen der Grenzen

SUBVENTIONEN für die Landwirtschaft in der EU werden schnell damit abgetan, es handle sich lediglich um eine Methode, bäuerliche Wählerstimmen zu fangen. Aber es steckt der Wille zur Selbstversorgung dahinter – es geht um den Versuch, von Agrarimporten unabhängig zu bleiben. Sonst würden beim Wegfall der Subventionen die Billigproduzenten die Preise bestimmen und den bäuerlichen Sektor Europas ruinieren. Aber das Problem besteht nicht nur in Europa, sondern global: Sorgfältig müssen die Interessen von einer Milliarde landwirtschaftlichen Familienbetrieben gegen das Profitstreben von 300 000 agrarischen Megafarmen geschützt werden.

Von EDGAR PISANI *

Kann man die Landwirtschaft wie jeden anderen Wirtschaftssektor behandeln, oder braucht sie Ausnahmeregelungen? Was hat die Agrarpolitik zu leisten? Soll die Welthandelsorganisation ihre allgemeinen Regeln auch auf die Landwirtschaft anwenden, oder soll sie spezifische Interventionsmöglichkeiten entwickeln?

Wer Antworten auf solche Fragen sucht, findet nur wenige Gesprächspartner. Die Experten beschäftigen sich mit institutionellen Fragen, die Forscher mit der Anpassung bestehender, hingegen kaum mit dem Entwerfen neuer Regeln. Experten, Forscher und Politiker sind in der Vorstellung von Besitzstandswahrung und in einer dominierenden Denkrichtung befangen.

Wir haben von drei Grundbedürfnissen auszugehen: erstens von Ernährungssicherheit, sprich einer Zukunft ohne Hunger; zweitens der Achtung der Natur, das heißt der kritischen Prüfung von aktuellen und künftigen Auswirkungen neuer Verfahren und Produkte auf Mensch und Umwelt; drittens der Erhaltung der ländlichen Gesellschaften, insofern, als ungehemmte Landflucht das demografische Gleichgewicht ins Wanken bringt.

Die Wechselwirkung von Wissenschaft und Markt kann die landwirtschaftliche Produktion steigern und den Bauern die Möglichkeit eröffnen, von ihren Investitionen und ihrer Arbeit zu leben. Aber sie ist nicht per se in der Lage, die Ernährungssicherheit der einzelnen Länder und die Gegenwart und Zukunft von Natur und Gesellschaft zu gewährleisten. Deshalb müssen wir für Regulierungsmaßnahmen sorgen, die diese Ziele erreichbar machen. Solche Abweichungen von den Regeln des Wettbewerbs bedürfen allerdings, so legitim sie auch sein mögen, jeweils einer konkreten Rechtfertigung, wobei die Beweislast zwar bei den intervenierenden Instanzen liegt, aber natürlich auch ein objektiver „Richter“ vorauszusetzen ist.

Häufig hört man, dass agrarpolitische Maßnahmen nur dazu dienten, die Stimmen der ländlichen Wähler zu gewinnen. Tatsächlich waren sie historisch meist von gesamtgesellschaftlichen Interessen inspiriert. So waren die EU-Agrarbeschlüsse zunächst eine Reaktion auf das Nahrungsdefizit der unmittelbaren Nachkriegszeit; später reflektierten sie das Bestreben, den Vereinigten Staaten nicht das Monopol der „grünen Macht“ zu überlassen. Bei den Verhandlungen über die Römischen Verträge von 1957 verlangte Frankreich als Ausgleich für die Schwäche seines industriellen Sektors die Einführung der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Der dadurch bewirkte Modernisierungsschub führte zu einer Landflucht, die den Aufschwung der Industrie begünstigte. Die Vereinigten Staaten wiederum förderten die agrarwissenschaftliche Forschung und die entsprechenden Investitionen. Hier wie dort profitierte von dieser Agrarpolitik das Agrobusiness weit stärker als die bäuerliche Landwirtschaft.

Gegen die Agrarsubventionen in den Vereinigten Staaten und in der Europäischen Union wenden sich schon lange die Länder der Cairns-Gruppe.1 Denn sie wären bei einer subventionsfreien Landwirtschaft dank ihrer komparativen Kostenvorteile in der Lage, den Weltagrarhandel zu kontrollieren und das Preisniveau zu bestimmen.

In Europa haben die Beihilfen und Garantiepreise für die Landwirtschaft die Funktion, das Verschwinden nützlicher Agrarstrukturen zu verhindern und einen Beitrag zu ausgeglichenen Außenhandelsbilanzen und zu einer ausgewogenen ländlichen Entwicklung zu leisten. In diesem Konzept werden die Landwirte als Produktionsfaktoren gesehen; der Boden wird als verwertbarer Rohstoff, die Umwelt als unerschöpfliches Gut und die Ernährungssicherheit als naturgegebenes Privileg betrachtet. Um diese Auffassung zu überwinden, wollen wir einige wesentliche Alternativen herausarbeiten. Wobei wir uns darauf beschränken, einige notwendige Vermittlungsschritte zu skizzieren, weil wir uns nicht anmaßen wollen, ein fertiges Rezept präsentieren zu können.

Die Ausgangsfrage muss lauten, ob die Welt die bald neun Milliarden Menschen ernähren kann. Darauf gibt es keine gesicherte Antwort. Manche Produktionsfaktoren lassen sich noch besser nutzen: Es gibt noch guten unbebauten Boden, es sind noch weitere technische und wissenschaftliche Fortschritte denkbar wie auch neue Forschungsgebiete und verbesserte technische Verfahren. Andere Produktionsfaktoren wiederum sind an ihre Grenzen geraten oder im Schwinden begriffen: Qualitativ hochwertige Bodenflächen sind durch das Ansteigen des Meeresspiegels bedroht, durch die Urbanisierung und große Infrastrukturprojekte, durch Übernutzung und Verschmutzung. Durch das Abholzen von Wäldern entfällt ein wichtiger Faktor der Klimaregulierung. Die Wüste erobert fruchtbare Anbaugebiete. Süßwasser ist eine knappe Ressource, was zu Konflikten zwischen Bewässerungslandwirtschaft und „urbanen“ Bedürfnissen führt. Und auch das erforderliche Geldkapital ist nicht unerschöpflich vorhanden. Dabei erfordert die Landwirtschaft hohe Investitionen.

Trotz alledem wäre es möglich, das Ziel der Selbstversorgung für alle zu erreichen, wenn die Politik imstande wäre, bei einigen schwierigen Zielkonflikten eine Interessenbalance herzustellen: etwa zwischen dem Recht der Völker auf Selbsternährung und dem Interesse des Handels, die Grenzen abzuschaffen; zwischen den 300 000 industriellen Megafarmen, die den Planeten ausbeuten, und der einen Milliarde landwirtschaftlicher Familienbetriebe; zwischen der Marktideologie, die für alles ihre simplen Rezepte hat, und einer differenzierteren Sichtweise der komplexen Beziehungen zwischen Natur, Gesellschaft und Politik. Die internationale Sicherheit hängt von einer ausgewogenen Entwicklung ab, die gewährleistet, dass die Natur gehegt und gepflegt wird, dass zwischen riesigen Ballungsräumen und Großstadtregionen nicht verödete, nur von Hochgeschwindigkeitstrassen durchschnittene Landstriche entstehen, dass die am meisten benachteiligten Völker das Elend hinter sich lassen und zumindest in erträglicher Armut leben können.

Das Schlimmste ist nicht auszuschließen, denn wir befinden uns im Übergang von der Globalisierung des Handels zur Globalisierung eines ganzen Gesellschaftsmodells, dem der größte Teil des Planeten und die große Mehrheit der Menschen nicht gewachsen sein wird. Im Rahmen einer erzwungenen Einheit wird unsere Diversität von einer Tendenz zur Gleichförmigkeit bedroht. Sie bedeutet auch, produktive Fähigkeiten zum Verschwinden zu bringen, und vier bis fünf Milliarden Bauern und Landbewohner in Verzweiflung zu stürzen.

Die Welt stellt der Landwirtschaft die Aufgabe, neun Milliarden Menschen zu ernähren und zugleich die Natur und die ländlichen Gesellschaften zu erhalten. Die Landwirtschaft stellt der Weltgesellschaft die Aufgabe, ihr die hierfür nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Und sie stellt die erweiterte Europäische Union vor die Herausforderung, eine Agrar-, Ernährungs- und Umweltpolitik auszuhandeln, die nicht nur die EU ernährt, sondern auch zu einer weltweit ausgewogenen Entwicklung beiträgt. Sich solchen Herausforderungen zu stellen ist kein Ding der Unmöglichkeit. Skizzieren wir also einige Grundsätze eines Modells von Global Governance wie auch einer europäischen Politik.

Es ist unsere Pflicht wie unser Ehrgeiz, dem Hunger in der Welt ein Ende zu bereiten. Doch der weltweite Nahrungsbedarf wird sich in den kommenden 25 Jahren verdreifachen. Und da vier Milliarden Menschen in ländlichen Gemeinschaften leben, dürfen wir bei der Steigerung der Agrarproduktion auf keinen Fall die enormen Probleme vergessen, die eine massenhafte Landflucht mit sich bringen würde. Sie könnte von den Städten, der Industrie und dem Dienstleistungssektor nicht ohne weiteres absorbiert werden.

Zwar begünstigt der technische Fortschritt die Entwicklung der Agrarproduktion, doch diese ist andererseits durch die Verknappung bestimmter Produktionsfaktoren bedroht. Da Ernährungssicherheit als menschliches und politisches Grundrecht anerkannt ist, muss das Recht der Völker auf Selbsternährung ebenso garantiert werden wie das Verbot der Subventionierung von Agrarexporten. Dabei muss man die einander widersprechenden Prinzipien sorgsam austarieren.

Dies also sind die Ziele, auf die eine künftige Global Governance und eine künftige europäische Agrar-, Ernährungs-, Landentwicklungs- und Umweltpolitik hinarbeiten muss. Hier steht die Welthandelsorganisation, die ex definitione nur auf die Förderung des Handels angelegt ist, vor einer neuen Herausforderung, aber auch die Europäische Union, die sich zu einer Weltmacht neuen Typs herausbilden muss. Diese Erfordernisse entsprechen realen Bedürfnissen und Bedrohungen; sie zu vernachlässigen wäre moralisch unvertretbar, objektiv widersinnig und politisch gefährlich.

deutsch von Bodo Schulze

* Von 1961 bis 1966 französischer Landwirtschaftsminister, EU-Kommissar a. D. (1981–1985), Autor von „Un vieil homme et la terre“, Paris (Seuil) 2004.

Fußnote: 1 Zu dem Interessenverband, der sich 1986 im australischen Cairns gründete, gehören heute 17 Mitgliedsstaaten: Kanada, Australien, Südafrika, Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Guatemala, Kolumbien, Indonesien, Malaysia, Neuseeland, Paraguay, die Philippinen, Thailand und Uruguay. Gründungsmitglied Ungarn trat 1998 aus – nach dem Beitritt zur Europäischen Union. Die Länder der Cairns-Gruppe erbringen zusammen 20 Prozent der weltweiten Agrarproduktion. Ihr Vorwurf, die USA und die EU würden den Wettbewerb verzerren, macht sich u. a. an den protektionistischen Spitzensätzen im Zollverkehr fest: So gibt es für einige „sensible“ Produkte von EU-Bauern Spitzensätze von über 100 Prozent.

Le Monde diplomatique vom 10.12.2004, von EDGAR PISANI