08.05.2009

Die Weisheit der vielen

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Die Weisheit der vielen

Wie demokratisch und wie wahr ist eigentlich Wikipedia? von Mathieu O’Neil

In der Welt von Wikipedia kommt es nicht auf Status an. Jeder Nutzer kann auch als Autor oder Redakteur an der Erweiterung und Verbesserung der freien Online-Enzyklopädie mitarbeiten. Insofern bietet das Internet neue Möglichkeiten, um das klassische Bild des Experten zu revidieren.

Doch wie lässt sich die digitale Spreu vom Weizen trennen, wenn wie bei Wikipedia jeder schreiben darf, aber zugleich jede offizielle Legitimierung tabu ist? Die Antwort lautet für die Fans des freien Blogs Slashdot ebenso wie für die Online-Handelsriesen Amazon und Ebay: durch die quantitative Bewertung der Nutzerbeiträge. Dasselbe gilt für Social-News-Portale wie Reddit und Digg, auf denen man Informationen sammeln und mit anderen teilen kann, und natürlich auch für den PageRank-Algorithmus, der die Suchresultate bei Google produziert. „Die Intelligenz der Masse“, das heißt die automatische Bündelung vieler individueller Entscheidungen, führt wie durch Zauberhand zum idealen Ergebnis.1

Auch Wikipedia beruft sich gern auf das Korrekturpotenzial der vielen Nutzer, anders gesagt auf den „denkenden Ameisenhaufen“.2 „Wiki“ ist Hawaiianisch und bedeutet „schnell“. Das Wiki-Prinzip besteht darin, dass jeder beliebige Nutzer eine neue Seite erstellen, eine bestehende ändern oder – etwa durch neue Links – den Aufbau der Website verändern kann. Die Autoren, die sich online anmelden – und sei es unter Pseudonym –, können eine persönliche Benutzerseite erstellen, auf der sie sich selbst, ihre Artikel und die Bewertungen durch die Online-Community präsentieren. Außerdem können sie über diese Seite E-Mails versenden und empfangen. Mithilfe einer watch list können sie Veränderungen an Artikeln aus ihrem Interessengebiet verfolgen. Auf den zugehörigen Diskussionsseiten (talk pages) diskutieren die Autoren über den Inhalt der Artikel und die allgemeine Politik der Website. Die Autoren der Artikel werden nicht genannt, die Beiträge auf den Diskussionsseiten dagegen sind namentlich gezeichnet.

Diese massenhafte Wissensproduktion, die auf der Kommunikation von gleich zu gleich beruht, verkörpert das Gegenmodell zum klassischen Experten. Der Wikipedia-Gründer Jimmy Wales erklärte daher im Juni 2008, für eine offene Enzyklopädie brauche man „außerordentliche gedankliche Präzision“, denn im Gegensatz zu „den bequemen Autoren einer klassischen, hierarchischen Enzyklopädie“ würden diejenigen, die an offenen Projekten arbeiten, „kontaktiert und kritisiert, sobald sie schlechte Argumente anführen oder ihre Schlüsse auf falschen Annahmen beruhen“.3

Objektives Wissen, subjektive Kriterien

Bei Wikipedia also ist das Expertentum nicht mehr in einer Person verkörpert, sondern in einem Prozess, in der Anerkennung unterschiedlicher Perspektiven, in der Weisheit der vielen. Deshalb ist es wichtig, schon zu Artikelskizzen anzuregen und zu ermuntern – mit ein wenig Kollektiveinsatz könnten sie sich schließlich eines Tages in Wissensperlen verwandeln. Der Schlüssel zum Erfolg ist also die Anwerbung von Mitarbeitenden. Damit deren Zustrom stark und konstant bleibt, muss die Wikipedia-Erfahrung unmittelbar sein und Spaß machen. Der Vorteil der Mitmach-Enzyklopädie: Alles lässt sich im Nu verbessern. Zur Weisheit der vielen gehört, dass die Qualität umso besser wird, je mehr Leute mitarbeiten. Das lässt sich empirisch nachweisen: Wenn in den Medien auf einen Wikipedia-Artikel hingewiesen wird, zieht das weitere Nutzer an, und die Qualität des betreffenden Artikels steigt.4

Ein Kriterium dafür, was in eine Enzyklopädie gehört und welche Themen auftauchen sollen, ist ihre Relevanz. Ein gutes Beispiel dafür bieten die Experten für Neue Medien selbst. Jason Mittell ist Professor am Middlebury College und Gegenstand einer Wikipedia-Seite, die er – ohne Erfolg – löschen lassen wollte, weil er fand, er sei „nicht relevant genug“. Auch über Alexander Halavais, Professor an der Quinnipiac University, gibt es einen Wikipedia-Eintrag, während andere US-Kommunikationswissenschaftler wie Steve Jones oder Susan Herring dort nicht auftauchen, obwohl sie Bücher oder wichtige Artikel verfasst haben und außerdem für die einschlägigen Fachzeitschriften verantwortlich sind. Halavais zufolge gibt es für seine Wikipedia-Präsenz zwei Gründe: zunächst sein Auftritt auf der Wikimania 2006, der jährlichen Wikipedia-Konferenz, zum Zweiten sein Experiment, in 13 Wikipedia-Artikel falsche Informationen einzuschleusen, um herauszufinden, wie lange es dauerte, bis sie korrigiert waren.5

Die Aufnahme in die freie Online-Enzyklopädie scheint also doch von subjektiven Kriterien abzuhängen. Jason Mittell stimmt zu: Die Sache mit der Relevanz sei längst nicht so absolut, wie es die Wikipedianer behaupten, denn diese hänge vollständig „von der Meinung und dem Urteil eines Autors ab, besonders bei so unbedeutenden Seiten wie meiner“.

Neben der Frage, welche Artikel aufgenommen werden, erschüttern vor allem sachliche Meinungsverschiedenheiten das Projekt. Ist Taekwondo eine ursprünglich koreanische Kampfsportart oder ein Neuaufguss japanischer Praktiken? Gehört die Türkei zu Europa oder zum Orient? Die Antwort auf solche Fragen braucht viel Zeit, manchmal Jahre. Die Wikipedianer sind daher angehalten, sich an allerlei demokratische Prozeduren und Höflichkeitsregeln zu halten. Da die meisten Mitarbeiter anonym bleiben, soll nur die Güte des Arguments zählen. Man darf jedoch vermuten, dass auch andere Faktoren eine Rolle spielen.

In Wahrheit setzen sich häufig die hartnäckigsten Wikipedianer durch beziehungsweise diejenigen, die den Jargon und die Vorschriften am besten beherrschen. Zudem kommt es vor, dass Autoren trotz des egalitären Ansatzes äußere Kompetenzen oder Titel anführen. So gelangte der unter dem Pseudonym Essjay bekannt gewordene Wikipedia-Autor durch seinen unermüdlichen Einsatz auf fast alle Verantwortungsebenen bei Wikipedia. Er war so hoch angesehen, dass man ihn vorschlug, als der New Yorker nach einem Interviewpartner für einen Artikel über Wikipedia fragte. Bei Wikia, dem 2004 von Jimmy Wales gegründeten kommerziellen Wiki-Projekt, bot man ihm einen Posten als Community Manager an.

Dieses Angebot wurde ihm jedoch zum Verhängnis: Essjays biografische Angaben gegenüber Wikia widersprachen dem Lebenslauf, den er den Wikipedianern oder dem New Yorker vorgegaukelt hatte. Es stellte sich heraus, dass er in Wahrheit gar kein Professor der Religionswissenschaft mit je einem Doktor in Jura und Philosophie war, sondern ein 24-jähriger Student und Anwaltsgehilfe. Essjay hatte jedoch häufig auf seinen Expertenstatus verwiesen, um Konfliktfragen für sich zu entscheiden. Nach seiner Enttarnung erklärte Essjay, er habe sich die falsche Identität zugelegt, um sich vor den Psychopathen im Internet zu schützen. Da das nicht sehr überzeugend klang, sah er sich gezwungen, Wikia und Wikipedia zu verlassen.

Kult des edlen Amateurs

In seinem Buch gegen das Web 2.0 wettert der Internetpionier Andrew Keen gegen den derzeitigen Kult des „edlen Amateurs“. Er hält ihn für kulturlos und gefährlich, da Blogs und Wikis zunehmend die Redakteure und Medien verdrängen, die die anerkannten Inhalte für diese Seiten liefern.6 Am Beispiel von William Connolley entwirft Keen das apokalyptische Bild einer Welt, die von Dilettanten beherrscht wird und herausragende Einzelleistungen verbannt. Als der britische Klimaforscher Connolley versucht hatte, Fehler auf der britischen Wikipedia-Seite über die Erderwärmung zu korrigieren, wurde ihm vorgeworfen, „seinen eigenen Standpunkt zu vertreten und systematisch alles zu entfernen, was mit diesem nicht übereinstimmt“. Sein anonymer Kontrahent zitierte ihn vor das höchste Gericht von Wikipedia, das Arbitration Committee (Schiedskommission), wo Connolley bestraft wurde: Er durfte eine Zeit lang nur noch einen Beitrag pro Tag schreiben.7

Die Anonymität der Autoren öffnet der Manipulation Tür und Tor. Das Motiv für betrügerische Einträge kann Eigeninteresse oder auch Bösartigkeit sein. 2007 entwarf Virgil Goode den Wiki-Scanner, ein Programm, das die Organisationen identifiziert, die an den Wiki-Artikeln mitschreiben. Auf diese Weise wurden einige Fälle krasser Eigenwerbung enttarnt: So hatte jemand mit der IP-Adresse8 des Wahlmaschinenherstellers Diebold in dem entsprechenden Wikipedia-Artikel ganze Absätze über die Zweifel von Experten an der Verlässlichkeit der Diebold-Apparate gelöscht, ebenso wie die Information, dass der Firmenchef Spendengelder für den damaligen Präsidenten George W. Bush gesammelt hatte.9

Eine Garantie dafür, dass die Augen der vielen Mitwirkenden über kurz oder lang jeden Fehler erkennen und korrigieren werden, gibt es nicht. Auch diejenigen, die Webseiten oder Linksammlungen wie Digg zusammenstellen, sagen damit nichts über die Sachdienlichkeit der aufgeführten Webseiten aus, sondern nur über ihre Beliebtheit bei den Nutzern, deren Präferenzen sie brav abbilden.

Bei Wikipedia tritt Überprüfbarkeit an die Stelle der Wahrheit. Doch wenn der Ruf eines Autors nur noch darauf beruht, dass er sich als Produzent von Hypertexten hervortut, dann laufen die marginalen, nicht digitalisierten Kulturen Gefahr, unsichtbar zu werden. Und wenn Wikipedia bei jeder beliebigen Google-Suche immer unter den ersten Ergebnissen auftaucht (weil die Wikipedia-Seiten viele Links auf andere Seiten des Portals enthalten und oft aktualisiert werden), dann trägt das ebenfalls dazu bei, dass Expertise mit Beliebtheit verwechselt wird.10

Um der Frage nach der Genauigkeit nachzugehen, verglich das Wissenschaftsmagazin Nature Ende 2005 42 wissenschaftliche Artikel in der britischen Wikipedia mit den entsprechenden Einträgen in der Encyclopaedia Britannica. Ergebnis: Die Qualität sei durchaus vergleichbar – das bestritt die Britannica.11 Doch es kann in puncto wissenschaftlicher Genauigkeit gar keinen gemeinsamen Nenner zwischen Wikipedia und Britannica geben. Ob ein Wikipedia-Beitrag richtig ist oder nicht, stellt sich schließlich erst nach einiger Zeit heraus. Insofern zählt die Qualität der Augen, die ein enzyklopädisches Projekt prüfen, wahrscheinlich doch mehr als ihre Quantität. Darüber hinaus ist ein Prozess, in dem ein Redakteur die Verantwortung (auch die juristische) für das, was er publiziert, übernimmt, einer uneinheitlichen Dauerbaustelle vorzuziehen: So hervorragend manche Wikipedia-Seiten auch sein mögen, viele enthalten einfach Unsinn.12

So bieten die Wikipedia-Seiten zur sogenannten harten Wissenschaft wenig Stoff für Diskussionen, denn sie sind technisch, hochspezialisiert und unideologisch. Es gibt Ausnahmen – siehe globale Erwärmung –, doch im Allgemeinen hat niemand ein Interesse, in einem Artikel über Pflanzenmorphologie oder Leitungsschutzschalter herumzupfuschen. Diese Artikel werden von kompetenten Autoren verfasst oder von solchen, die Auszüge aus Büchern über das Thema abschreiben. Sie werden nicht nach den selbst gesetzten Statuten der freien Enzyklopädie und deren Überprüfbarkeit, sondern nach den üblichen Qualitätskriterien jedes enzyklopädischen Unternehmens beurteilt.

Die Hymnen auf das demokratische Potenzial der Internetkommunikation sind – zu Recht – scharf kritisiert worden, weil sie am Ende doch ein oligarchisches und eben nicht egalitäres System prämieren. Auch dienen die Behauptungen, die freien Inhalte würden die Logik des Markts unterlaufen, vor allem den Hardware-Produzenten und den Providern, da sie zu allererst das Bedürfnis wecken, Produkte und Dienstleistungen zu nutzen, die den Zugang zum digitalen Schlaraffenland ermöglichen.

Fußnoten: 1 Google erklärt seinen Nutzern: Diese Seiten sind zu dem gesuchten Thema am relevantesten, weil sie die meisten Stimmen erhalten haben, das heißt die meisten Verlinkungen von ihrerseits interessanten und relevanten Seiten. 2 Marshall Poe, „The Hive“, in: The Atlantic Monthly, Boston, September 2006. 3 Jimmy Wales, „The wisdom of crowds“, in: The Observer, London, 22. Juni 2008. 4 Andrew Lih, „Wikipedia as participatory journalism: reliable sources? Metrics for evaluating collaborative media as a news resource“, Fifth International Symposium on Online Journalism, Austin (Texas), 16. bis 17. April 2004. 5 Es dauerte im Schnitt drei Stunden, wobei der Umstand, dass die Veränderungen miteinander verknüpft waren, sie leichter erkennbar machte: en.wiki pedia.org/wiki/Alexander_Halavais. 6 Andrew Keen, „Die Stunde der Stümper. Wie wir im Internet unsere Kultur zerstören“, München (Hanser) 2008. 7 Siehe Anmerkung 6, S. 53. 8 Verschlüsselte Adresse, mit der sich ein Rechner ins Internet einloggt. 9 John Borland, „See who’s editing Wikipedia: Diebold, the CIA, a campaign“, in: Wired, San Francisco, 14. August 2004. 10 2007 war Wikipedia auf Platz 17. der meistbesuchten Seiten im Internet, die Encyclopaedia Britannica mit ihren 100 Nobelpreisträgern und 4 000 Experten dagegen auf Platz 5128. Vgl. Keen, Anmerkung 6. 11 Encyclopaedia Britannica, „Fatally flawed: Refuting the recent study on encyclopedic accuracy by the journal Nature“, März 2006. 12 Dagegen sollen beispielsweise Citizendium und Veropedia helfen. Citizendium, initiiert von Wikipedia-Mitgründer Larry Sanger, will den Elan des Wiki-Modells mit der Kompetenz anerkannter Experten verbinden. Veropedia sammelt herausragende Wikipedia-Artikel.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Mathieu O’Neil ist Wissenschaftler an der Australian National University und der Université Stendhal – Grenoble 3 und Verfasser von „Cyberchiefs. Autonomy and Authority in Online Tribes“, London (Pluto Press) 2009.

Le Monde diplomatique vom 08.05.2009, von Mathieu O'Neil