08.05.2009

Von Haiti bis Wladiwostok

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Von Haiti bis Wladiwostok

Eine Weltkarte der Krise von Michael T. Klare

Lange bevor die globale Wirtschaftskrise letzten September in vollem Ausmaß offenbar wurde, zeigten sich die Vorzeichen des herannahenden Sturms bereits vielerorts als lokal beschränkte Unruhen. Im Frühjahr 2008 erreichten in vielen Ländern die Preise für Waren des täglichen Bedarfs einen neuen Höchststand, gleichzeitig schrumpften die Einkommen und es kam zu Protesten gegen die hohen Nahrungsmittel- und Energiepreise – zum Beispiel in Bangladesch, Indien und Indonesien, in Kamerun, Senegal und Elfenbeinküste, in Ägypten und Äthiopien, in Jordanien und Marokko.1

Die wohl militantesten Proteste gab es in Haiti. In Port-au-Prince wurden tausende Demonstranten, die den Präsidentenpalast stürmten und die Verteilung von Nahrungsmitteln forderten, von Regierungssoldaten und Mitgliedern der UN-Friedenstruppe in Schach gehalten. In Les Cayes im Süden des Landes starben vier Menschen bei einem Schusswechsel zwischen Demonstranten und UN-Soldaten. Die Ereignisse zwangen Ministerpräsident Alexis zum Rücktritt.

Zwischen Frühjahr 2007 und 2008 haben sich die Preise für Nahrungsmittel auf dem Weltmarkt verdoppelt, was für hunderte Millionen Menschen, die einen Großteil ihres Einkommens für Ernährung ausgeben müssen, eine gewaltige Belastung bedeutete. Die Ökonomen der Weltbank führten diesen dramatischen Preisanstieg hauptsächlich auf zwei Faktoren zurück: zum einen auf die krassen Preissteigerungen für Erdöl und Erdgas (die die landwirtschaftliche Produktion verteuern); zum anderen auf die massive Zunahme des Anbaus von Biokraftstoffen, durch den Riesenflächen verloren gehen.2

In der Annahme, dass die Nachfrage nach Transportenergie immer weiter steigen würde, schien es sinnvoll, immer mehr landwirtschaftliche Flächen für die Produktion von Biodiesel zu nutzen. Und da die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel jeden Tag neue Höhen erklommen, war es marktwirtschaftlich geboten, die vorhandenen Vorräte in Erwartung noch größerer Profite zu horten. Das kumulative Resultat waren die weltweiten Hungerrevolten.

Soziale Unruhen und Konflikte haben stets vielfältige Ursachen. Viele Gesellschaften auf der ganzen Welt sind durch ethnische, sprachliche und soziale Bruchlinien tief gespalten. Zudem erreichte der durch die Globalisierung und die enorme Kreditexpansion erzeugte Wohlstand der 1990er-Jahre nicht alle Staaten und Gesellschaften und floss auch nicht in die Taschen der Armen.

Die Welt war also schon vor dem September 2008 durch verschiedene soziale, politische und ökonomische Bruchlinien gezeichnet. An diesen wird sich noch viel mehr Druck aufbauen, denn die Krise geht tief und wird für zig Millionen Menschen das alltägliche Überleben viel schwerer machen.

Die von der Teuerungswelle ausgelösten Unruhen vom Frühjahr 2008 erzeugten bei den Politikern der betroffenen Länder Angst vor Massenrebellionen, die ganze Regierungen hinwegfegen könnten. Im April 2008 erklärte P. J. Patterson, der von 1992 bis 2006 Premierminister von Jamaika war, vor den Teilnehmern des Treffens der G-77-Gruppe in Antigua: „Wenn Sie glauben, dass wir immun wären gegen solche Gewaltausbrüche, die sich womöglich sogar zu Revolutionen steigern werden, könnten Sie sich gewaltig täuschen.“3

Wenn es mit dem Preisanstieg für Agrarprodukte so weitergegangen wäre, dann hätte Pattersons Angstvision von Hungerrevolten, die in Revolutionen umschlagen, inzwischen vielleicht schon Wirklichkeit werden können. Doch als im Herbst 2008 die Finanzkrise ausbrach, stürzten die Weltmarktpreise für Öl und Gas ab, kurz darauf auch die für Nahrungsmittel. Weitere Konflikte über die Kosten des täglichen Lebens waren damit fürs Erste abgewendet. Doch je mehr sich die wirtschaftliche Lage verschlechterte, um so lauter wurden die Proteste gegen Regierungen und Unternehmen.

Nicht religiöser Konflikt, sondern soziale Revolte

Nehmen wir das Beispiel Indien. Hier kam es 2008 in verschiedenen Regionen zu militanten Protestaktionen. Die wurden zwar überwiegend als ethnische, religiöse oder Kastenkonflikte beschrieben, aber in den meisten Fällen waren sie eher eine Reaktion auf die ökonomische Unsicherheit und das verbreitete Empfinden, dass eine – wie auch immer definierte – andere Gruppe besser wegkommt als die eigene.

Die sechs Tage dauernden Straßenunruhen, zu denen es im April 2008 im indischen Teil von Kaschmir kam, wurden in den meisten Berichten als Ausdruck des religiösen Konflikts zwischen der muslimischen Bevölkerungsmehrheit und der von Hindus dominierten Regierung dargestellt. Ebenso wichtig war aber die tiefe Verbitterung über das, was viele kaschmirische Muslime als Benachteiligung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und bei der Verteilung von Grund und Boden empfinden.

Im Mai 2008 folgte dann der Aufstand der Gudschars in Uttar Pradesch. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft von nomadischen Herdenbesitzern blockierten zu Tausenden die Straßen und Schienenverbindungen nach Agra (wo das berühmte Tadsch Mahal steht), um ihre ökonomischen Rechte durchzusetzen. Die Polizei eröffnete das Feuer, 30 Demonstranten starben. Im Oktober 2008 kam es zu gewaltsamen Protesten in Assam im äußersten Nordosten Indiens. Hier wehrte sich die verarmte lokale Bevölkerung gegen den Zustrom von noch ärmeren, zumeist illegalen Migranten aus dem benachbarten Bangladesch.4

Auch in vielen Regionen Chinas führten die ökonomischen Probleme im vergangenen Jahr zu sogenannten Massenvorfällen, wie es in der Sprache der dortigen Obrigkeit heißt. Meist entwickelten sie sich aus Widerstandsaktionen von Arbeitern gegen Unternehmer, die ihre exportorientierten Fabriken über Nacht zugemacht und keine Löhne gezahlt hatten, oder auch gegen die willkürliche Beschlagnahmungen von Grund und Boden. Dass diese „Massenvorfälle“ in China immer häufiger werden, erklärt sich – ebenso wie in Indien – sowohl aus seit langem existierenden Zuständen wie aus den Folgen der globalen Rezession.5

Diese Zustände sind vor allem geprägt von krassen Einkommensunterschieden zwischen der städtischen Mittelschicht und der armen Landbevölkerung. Während des Booms der letzten Jahrzehnte konnten arme Arbeiter aus der Provinz in die Städte wandern und Arbeit in den Exportwaren produzierenden Unternehmen finden. Im Zuge der weltweiten Flaute haben inzwischen viele dieser Fabriken dichtgemacht, so dass ungefähr 20 Millionen Wanderarbeiter ihren Job verloren haben.

Seit Ende 2008 breiten sich spontane Proteste und Straßenaktionen auch in Westeuropa und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion aus. Ursachen sind die Angst vor längerer Arbeitslosigkeit und die Verbitterung über die Unfähigkeit und die Misswirtschaft der Regierenden, aber auch das Gefühl, dass „das System“ (wie immer man es definiert) nicht mehr imstande ist, den Bedürfnissen und Wünschen der Bevölkerung zu entsprechen.

Eines der ersten Ereignisse dieser neuen Protestwelle war der „Aufstand der Jugend“, der am 6. Dezember 2008 in Athen ausbrach. Nachdem ein Polizist im Innenstadtviertel Exarchia einen 15-jährigen Schüler erschossen hatte, kam es sechs Tage lang in Athen und anderen Städten zu Straßenkrawallen (obwohl die Regierung die tödlichen Schüsse sofort bedauert und gegen den Polizisten ein Ermittlungsverfahren eingeleitet hat).

Die Proteste in Griechenland speisen sich zum Teil aus der Wut der jungen Leute über die massive Polizeipräsenz in „ihren“ Vierteln, reflektieren aber auch eine tiefe Verzweiflung über die ökonomischen Perspektiven, die selbst für junge Leute mit guter Ausbildung äußerst trübe sind. In dieser Revolte kam die Frustration über mangelnde Berufsaussichten und das bankrotte Bildungswesen ebenso zum Ausdruck wie eine scharfe Kritik am starren Klassensystem und an der Korruption der politischen Klasse. Typisch ist folgende Aussage eines der Demonstranten: „Unsere Generation hat eine härtere Zukunft als die unserer Eltern. Und das ist zum ersten Mal so, denn der Normalfall war bis jetzt, dass es immer aufwärts geht.“6

Kurz darauf kam es auch in Russland zu ersten gewaltsamen Protesten. Der Auslöser waren höhere Zolltarife für importierte Gebrauchtwagen, die im Dezember von der Regierung Putin eingeführt worden waren, um die einheimische Autoindustrie zu schützen. Diese erhöhten Zölle waren für die Autohändler von Wladiwostok ein harter Schlag, war doch der Handel mit japanischen Gebrauchtwagen ihre Existenzgrundlage gewesen. Unzufrieden waren aber auch die Konsumenten im ganzen Land, die lieber importierte Autos kaufen als die teuren russischen Fabrikate. In Wladiwostok und dreißig weiteren Städten kam es zu nicht genehmigten Rallyes von Autobesitzern, die die Landstraßen blockierten.

Derartige Proteste wurden seit Anfang dieses Jahres auch aus verschiedenen Regionen Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion gemeldet. Mitte Januar 2009 gab es regierungsfeindliche Demonstrationen und Zusammenstöße mit der Polizei in der lettischen Hauptstadt Riga, der litauischen Hauptstadt Vilnius und der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Obwohl die Proteste unterschiedliche Auslöser hatten, artikulierten sie vergleichbare Ängste und Besorgnisse über die globale Rezession und den drohenden Verlust von Arbeitsplätzen, signalisierten aber auch, dass man den Regierungen nicht zutraute, die Dinge zum Besseren zu wenden.

Während die meisten dieser Ereignisse konkrete Anlässe hatten – die Schließung einer Fabrik, die Ankündigung von Sparmaßnahmen, die Erhöhung von Fahrpreisen –, spielen immer auch systemische Faktoren eine wichtige Rolle. Seit 1945 hat die Weltwirtschaft mehrere tiefe Rezessionen erlebt, wobei sie sich jedes Mal innerhalb von ein, zwei Jahren wieder erholt hat und eine neue Wachstumsphase begann. Doch dieses Mal gibt es offenbar große Zweifel, ob es bald zu einer wirtschaftlichen Erholung kommt und vor allem, ob sie, wenn sie denn kommt, zum Auftakt einer neuen Wachstumsphase wird, die alle Bereiche der Weltwirtschaft erfasst und der gesamten globalen Bevölkerung zugutekommt.

Pakistan beispielsweise leidet stark unter sozialen und ökonomischen Verwerfungen. US-Sicherheitsexperten machen dafür tendenziell al-Qaida und die Taliban verantwortlich, doch Beobachter wie der Historiker Niall Ferguson sehen die Probleme eher im Zusammenhang mit der immer schlechteren wirtschaftlichen Lage: „Die kleine, aber politisch mächtige Mittelklasse wurde durch den Zusammenbruch des pakistanischen Aktienmarkts schwer in Mitleidenschaft gezogen. Und immer mehr junge Männer sehen keine Chancen, einen Job zu ergattern. Das ist nicht gerade eine Gewähr für politische Stabilität.“7

Ähnliche Gefahren lassen sich für mehrere Ölstaaten voraussehen, die in den Jahren vor der Krise von den hohen Ölpreisen enorm profitiert haben. Die Regierungen dieser Länder konnten es sich lange Zeit leisten, ihre Anhänger mit großzügigen staatlichen Leistungen zu belohnen und sich gegen eine potenzielle Dissidentenbewegung mit gut gerüsteten Sicherheitskräften zu wappnen. Nach dem Rückgang der Öleinnahmen um über 50 Prozent sind diese Regime nicht mehr ohne weiteres in der Lage, ihre Klientel zu bedienen und ihren Sicherheitsapparat zu unterhalten. Und da auch die Einkommen der übrigen Bevölkerung schrumpfen, sind soziale Unruhen in diesen Ländern wahrscheinlicher geworden.

Die globale Krise bringt immer mehr Menschen um ihre Arbeit und damit um ihr täglich Brot. In einem Bericht, den die Weltbank für das Londoner G-20-Treffen im März 2009 verfasst hat, ist von 46 Millionen Menschen die Rede, die 2009 womöglich unter die Armutsgrenze gedrückt werden.8

Entsprechend wird auch die Zahl der Unterernährten anwachsen, zumal wegen extremer Dürreperioden in Argentinien, Australien, im Nordwesten Chinas, im Westen der USA und in Teilen des Nahen und Mittleren Ostens die globale Nahrungsmittelproduktion schrumpfen könnte.

Keine rosigen Aussichten also: Die anhaltende wirtschaftliche Depression in Verbindung mit den ohnehin bestehenden sozialen Bruchlinien und dem Gefühl, dass die existierenden Systeme und Institutionen außerstande sind, die Dinge zum Besseren zu wenden, ergeben ein (lebens-)gefährliches Gemisch aus Verunsicherung, Angst und Wut.

Fußnoten: 1 Siehe auch Bob Davis und Douglas Belkin, „Food Inflation“, Wall Street Journal, 14. April 2008, und Marc Lacey, „Across Globe, Empty Bellies Bring Rising Anger“, New York Times, 18. April 2008. 2 Global Economic Prospects 2009: Commodities at the Crossroads, World Bank, Washington D. C. 2009. 3 Siehe: „The Food Crisis. How Bad Can It Get?“, BBC Caribbean.com, 30. 4. 2008, www.bbc.co.uk. 4 Siehe Heather Timmons, „Protesters Sweep India in a Season of Unrest,“ New York Times, 29. Juni 2008, und „Bodo count: Assam’s largest tribe goes to war with its Muslims“, The Economist, 9. Oktober 2008, www.economist.com. 5 Siehe Joshua Kurlantzick, „Taking the Bosses Hostage“, London Review of Books, 26. März 2009. 6 Rachel Donadio and Anthee Carassava, „Funeral Leads to More Greece Mayhem“, New York Times, 10. Dezember 2008. Siehe auch: Valia Kaimaki, „Staat ohne Gegenwart, Jugend ohne Zukunft“, Le Monde diplomatique, Januar 2009. 7 Niall Ferguson, „The Axis of Upheaval,“ Foreign Policy, März/April 2009. Siehe auch: Jane Perlez und Pir Zubair Shah „Taliban Exploit Class Rifts in Pakistan“, International Herald Tribune, 16. April 2009. 8 World Bank Staff, „Swimming Against the Tide. How Developing Countries are Coping with the Global Crisis“, Background Paper for the G 20 Finance Ministers Meeting, Horsham, UK, 13. März 2009.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Michael T. Klare ist Professor für „Peace and World Security Studies“ am Hampshire College in Amherst, Massachusetts. Zuletzt erschienen: „Rising Powers, Shrinking Planet. The New Geopolitics of Energy“, London (OneWorld Publications) 2008.

Le Monde diplomatique vom 08.05.2009, von Michael T. Klare